Der wilde Kampf der französischen Parteien erregte in der Gesandtencon- ferenz um so schwerere Besorgniß, da das reiche Land sich von seinen wirth- schaftlichen Leiden wunderbar schnell erholte und bald wieder zu einem neuen Kriege fähig schien. Frankreich zerfiel, so sagte die unversöhnliche Opposition, in zwei Völker, die Sieger und die Besiegten von Waterloo. Wo war noch ein gemeinsamer Boden für die demokratischen Massen, denen die Glorie der weltherrschenden Tricolore das Hirn berauschte, und für die Emigranten, diese "Pilger des Grabes", die von der Oriflamme und dem heiligen Ludwig träumten? Höhnend hielt Beranger dem alten Adel das Bild des Marquis von Carabas entgegen; sein Spottlied c'est le roi, le roi, le roi gab das Königthum der Verachtung preis. Das ganze Land war von einem Netze geheimer Gesellschaften überspannt; jeder Veteran der großen Armee, der in sein heimathliches Dorf zurückkehrte, predigte die napoleonische Legende. Auch die geistreichen Doktrinäre, die in der Minerva ihre liberalen An- schauungen aussprachen, untergruben das Ansehen der Krone durch gehässiges Mißtrauen. Gefährlicher als die Leidenschaften der Opposition erschien je- doch vorerst die fanatische Verblendung der royalistischen Ultras, welche die Kammer der Abgeordneten beherrschten. Die Heißsporne der Chambre introuvable strebten geradeswegs zurück zu der alten feudalen Gesellschafts- ordnung, sie verlangten blutige Rache an den Königsmördern und den Gottesmördern. Als König Ludwig den wilden Eifer der Emigranten zu mäßigen versuchte, wendeten sie sich gegen das Ansehen der Krone selber, ganz so trotzig wie jene polnischen Magnaten, die einst ihrem König Sigismund zuriefen: rege sed non impera! Die altständischen Ideen der zügellosen Adelslibertät tauchten wieder auf und schmückten sich mit den Schlagwörtern der neuen parlamentarischen Doktrin. Im Namen der constitutionellen Freiheit forderte Chateaubriand die Unterwerfung der Krone unter den Willen der Kammern und verfocht in seinen Schriften bereits jene radi- kale Theorie des Parlamentarismus, welche späterhin die Liberalen sich aneigneten und zu dem Satze le roi regne mais il ne gouverne pas zuspitzten.
Sämmtliche Mitglieder der Gesandtenconferenz, Pozzo di Borgo voran, unterstützten den König in seinem Widerstande gegen die Ultras. Sogar die hochconservativen englischen Staatsmänner mißbilligten die Parteiwuth der Emigranten, obgleich ihnen der liberale Eifer des "jakobinischen" Czaren und seines vordringlichen Gesandten immer verdächtig blieb. Wenn Wel- lington das thörichte Treiben der Ultras betrachtete, die sich im Pavillon Marsan bei dem Grafen von Artois ihre Weisungen holten, dann meinte
wird in den Briefen nicht ausdrücklich angegeben; er kann aber kaum ein anderer sein als der im Text angeführte. Denn am 9. Novbr. berichtet Royer: nunmehr müsse König Friedrich Wilhelm in das Geheimniß eingeweiht werden, von dessen Entscheidung hänge jetzt Alles ab; und wenige Tage später verschwindet die ganze Angelegenheit aus dem Briefwechsel.
II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
Der wilde Kampf der franzöſiſchen Parteien erregte in der Geſandtencon- ferenz um ſo ſchwerere Beſorgniß, da das reiche Land ſich von ſeinen wirth- ſchaftlichen Leiden wunderbar ſchnell erholte und bald wieder zu einem neuen Kriege fähig ſchien. Frankreich zerfiel, ſo ſagte die unverſöhnliche Oppoſition, in zwei Völker, die Sieger und die Beſiegten von Waterloo. Wo war noch ein gemeinſamer Boden für die demokratiſchen Maſſen, denen die Glorie der weltherrſchenden Tricolore das Hirn berauſchte, und für die Emigranten, dieſe „Pilger des Grabes“, die von der Oriflamme und dem heiligen Ludwig träumten? Höhnend hielt Beranger dem alten Adel das Bild des Marquis von Carabas entgegen; ſein Spottlied c’est le roi, le roi, le roi gab das Königthum der Verachtung preis. Das ganze Land war von einem Netze geheimer Geſellſchaften überſpannt; jeder Veteran der großen Armee, der in ſein heimathliches Dorf zurückkehrte, predigte die napoleoniſche Legende. Auch die geiſtreichen Doktrinäre, die in der Minerva ihre liberalen An- ſchauungen ausſprachen, untergruben das Anſehen der Krone durch gehäſſiges Mißtrauen. Gefährlicher als die Leidenſchaften der Oppoſition erſchien je- doch vorerſt die fanatiſche Verblendung der royaliſtiſchen Ultras, welche die Kammer der Abgeordneten beherrſchten. Die Heißſporne der Chambre introuvable ſtrebten geradeswegs zurück zu der alten feudalen Geſellſchafts- ordnung, ſie verlangten blutige Rache an den Königsmördern und den Gottesmördern. Als König Ludwig den wilden Eifer der Emigranten zu mäßigen verſuchte, wendeten ſie ſich gegen das Anſehen der Krone ſelber, ganz ſo trotzig wie jene polniſchen Magnaten, die einſt ihrem König Sigismund zuriefen: rege sed non impera! Die altſtändiſchen Ideen der zügelloſen Adelslibertät tauchten wieder auf und ſchmückten ſich mit den Schlagwörtern der neuen parlamentariſchen Doktrin. Im Namen der conſtitutionellen Freiheit forderte Chateaubriand die Unterwerfung der Krone unter den Willen der Kammern und verfocht in ſeinen Schriften bereits jene radi- kale Theorie des Parlamentarismus, welche ſpäterhin die Liberalen ſich aneigneten und zu dem Satze le roi règne mais il ne gouverne pas zuſpitzten.
Sämmtliche Mitglieder der Geſandtenconferenz, Pozzo di Borgo voran, unterſtützten den König in ſeinem Widerſtande gegen die Ultras. Sogar die hochconſervativen engliſchen Staatsmänner mißbilligten die Parteiwuth der Emigranten, obgleich ihnen der liberale Eifer des „jakobiniſchen“ Czaren und ſeines vordringlichen Geſandten immer verdächtig blieb. Wenn Wel- lington das thörichte Treiben der Ultras betrachtete, die ſich im Pavillon Marſan bei dem Grafen von Artois ihre Weiſungen holten, dann meinte
wird in den Briefen nicht ausdrücklich angegeben; er kann aber kaum ein anderer ſein als der im Text angeführte. Denn am 9. Novbr. berichtet Royer: nunmehr müſſe König Friedrich Wilhelm in das Geheimniß eingeweiht werden, von deſſen Entſcheidung hänge jetzt Alles ab; und wenige Tage ſpäter verſchwindet die ganze Angelegenheit aus dem Briefwechſel.
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II. 4. Die Eröffnung des Deutſchen Bundestages.
Der wilde Kampf der franzöſiſchen Parteien erregte in der Geſandtencon-
ferenz um ſo ſchwerere Beſorgniß, da das reiche Land ſich von ſeinen wirth-
ſchaftlichen Leiden wunderbar ſchnell erholte und bald wieder zu einem neuen
Kriege fähig ſchien. Frankreich zerfiel, ſo ſagte die unverſöhnliche Oppoſition,
in zwei Völker, die Sieger und die Beſiegten von Waterloo. Wo war noch
ein gemeinſamer Boden für die demokratiſchen Maſſen, denen die Glorie
der weltherrſchenden Tricolore das Hirn berauſchte, und für die Emigranten,
dieſe „Pilger des Grabes“, die von der Oriflamme und dem heiligen Ludwig
träumten? Höhnend hielt Beranger dem alten Adel das Bild des Marquis
von Carabas entgegen; ſein Spottlied c’est le roi, le roi, le roi gab das
Königthum der Verachtung preis. Das ganze Land war von einem Netze
geheimer Geſellſchaften überſpannt; jeder Veteran der großen Armee, der
in ſein heimathliches Dorf zurückkehrte, predigte die napoleoniſche Legende.
Auch die geiſtreichen Doktrinäre, die in der Minerva ihre liberalen An-
ſchauungen ausſprachen, untergruben das Anſehen der Krone durch gehäſſiges
Mißtrauen. Gefährlicher als die Leidenſchaften der Oppoſition erſchien je-
doch vorerſt die fanatiſche Verblendung der royaliſtiſchen Ultras, welche die
Kammer der Abgeordneten beherrſchten. Die Heißſporne der Chambre
introuvable ſtrebten geradeswegs zurück zu der alten feudalen Geſellſchafts-
ordnung, ſie verlangten blutige Rache an den Königsmördern und den
Gottesmördern. Als König Ludwig den wilden Eifer der Emigranten zu
mäßigen verſuchte, wendeten ſie ſich gegen das Anſehen der Krone ſelber, ganz
ſo trotzig wie jene polniſchen Magnaten, die einſt ihrem König Sigismund
zuriefen: rege sed non impera! Die altſtändiſchen Ideen der zügelloſen
Adelslibertät tauchten wieder auf und ſchmückten ſich mit den Schlagwörtern
der neuen parlamentariſchen Doktrin. Im Namen der conſtitutionellen
Freiheit forderte Chateaubriand die Unterwerfung der Krone unter den
Willen der Kammern und verfocht in ſeinen Schriften bereits jene radi-
kale Theorie des Parlamentarismus, welche ſpäterhin die Liberalen ſich
aneigneten und zu dem Satze le roi règne mais il ne gouverne pas
zuſpitzten.
Sämmtliche Mitglieder der Geſandtenconferenz, Pozzo di Borgo voran,
unterſtützten den König in ſeinem Widerſtande gegen die Ultras. Sogar
die hochconſervativen engliſchen Staatsmänner mißbilligten die Parteiwuth
der Emigranten, obgleich ihnen der liberale Eifer des „jakobiniſchen“ Czaren
und ſeines vordringlichen Geſandten immer verdächtig blieb. Wenn Wel-
lington das thörichte Treiben der Ultras betrachtete, die ſich im Pavillon
Marſan bei dem Grafen von Artois ihre Weiſungen holten, dann meinte
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*) wird in den Briefen nicht ausdrücklich angegeben; er kann aber kaum ein anderer ſein
als der im Text angeführte. Denn am 9. Novbr. berichtet Royer: nunmehr müſſe König
Friedrich Wilhelm in das Geheimniß eingeweiht werden, von deſſen Entſcheidung hänge
jetzt Alles ab; und wenige Tage ſpäter verſchwindet die ganze Angelegenheit aus dem
Briefwechſel.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/134>, abgerufen am 29.11.2024.
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