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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
erbauen, die anmaßende revolutionäre Wissenschaft des gottlosen acht-
zehnten Jahrhunderts zu Schanden machen und die katholische Kirche mit
einem neuen Glanze erleuchten" sollte. Mit dem stolzen Bewußtsein eines
welthistorischen Berufes verkündete er seine Lehre, erst in der Allgemeinen
Staatskunde (1808), dann, seit 1816, in der Restauration der Staats-
wissenschaft; es schien ihm wie eine übernatürliche Fügung, daß gerade
ihm, dem geborenen Republikaner und Protestanten, die antirevolutionäre
Heilswahrheit aufgegangen sei. Und allerdings mit zermalmender Wucht
fielen die dialektischen Keulenschläge seines harten Menschenverstandes auf
die Phantasiegebilde der Naturrechtslehre. Erst die handfesten Beweis-
gründe dieses polternden Naturalisten erschütterten den Glauben an den
Naturzustand, an den Staatsvertrag und die ursprüngliche Volkssouverä-
nität auch in den Kreisen jener Ungelehrten, welche den feinen Gedanken
der historischen Rechtsschule nicht folgen konnten. Was er freilich selber
an die Stelle dieser überwundenen Doktrin setzte war nur eine grobe
Verallgemeinerung der patrimonialen Rechtsgrundsätze der alten Berner
Aristokratie. Wie einst die Herren von Bern ihre eroberten Unterthanen-
lande im Aaargau und im Waadtland kurzweg als das Eigenthum ihrer
siegreichen Republik behandelt hatten, so begründete Haller den Staat
schlechthin auf das Recht des Stärkeren. Das Land gehört einem Fürsten,
einer Corporation oder einer Kirche; auf diesem Eigenthum des Landes-
herrn und unter seinem Schutze siedelt sich das Volk an; verschwände das
Volk, so wäre der Staat immer noch vorhanden in der Person des Für-
sten, der leicht neue Unterthanen finden kann. Der Staat erscheint mit-
hin als eine privatrechtliche Genossenschaft wie andere auch, nur mächtiger,
selbständiger als sie alle, der Fürst als "ein begüterter, vollkommen unab-
hängiger Mensch"; er beherrscht das Volk durch seine persönlichen Diener,
ist berechtigt wie verpflichtet sich selber und sein Haus als den Haupt-
zweck des Staates zu betrachten, muß aber auch den Aufwand aus seinem
eigenen Vermögen bestreiten und die Unterthanen durch seine eigenen Sol-
daten beschützen. Ein Zerrbild des alten ständischen Staates, wie es in
solcher Roheit selbst im vierzehnten Jahrhundert nirgends bestanden hatte,
ward also mit der gleichen Unfehlbarkeit, wie einst die Musterverfassungen
der Revolution, als das allgemeingiltige Staatsideal hingestellt; die staats-
rechtliche Unterordnung des Bürgers sank zur privatrechtlichon Dienstbar-
keit herab. Der Restaurator hob in Wahrheit den Staat selber auf.

Nirgends erschien seine Doktrin so bodenlos, so allen Thatsachen wider-
sprechend wie in Preußen; denn kein anderer Staat hatte die Majestät des
Staatsgedankens so hoch gehalten, wie dieser, dessen Fürsten immer die
ersten Diener des Staates waren. Daher auch Hallers wilder Haß gegen
Friedrich den Großen, gegen den aufgeklärten preußischen Absolutismus,
der die hassenswürdige Conscription erfunden habe, und gegen das Allge-
meine Landrecht: "außer auf dem Titelblatte sieht man nirgends, ob es

II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
erbauen, die anmaßende revolutionäre Wiſſenſchaft des gottloſen acht-
zehnten Jahrhunderts zu Schanden machen und die katholiſche Kirche mit
einem neuen Glanze erleuchten“ ſollte. Mit dem ſtolzen Bewußtſein eines
welthiſtoriſchen Berufes verkündete er ſeine Lehre, erſt in der Allgemeinen
Staatskunde (1808), dann, ſeit 1816, in der Reſtauration der Staats-
wiſſenſchaft; es ſchien ihm wie eine übernatürliche Fügung, daß gerade
ihm, dem geborenen Republikaner und Proteſtanten, die antirevolutionäre
Heilswahrheit aufgegangen ſei. Und allerdings mit zermalmender Wucht
fielen die dialektiſchen Keulenſchläge ſeines harten Menſchenverſtandes auf
die Phantaſiegebilde der Naturrechtslehre. Erſt die handfeſten Beweis-
gründe dieſes polternden Naturaliſten erſchütterten den Glauben an den
Naturzuſtand, an den Staatsvertrag und die urſprüngliche Volksſouverä-
nität auch in den Kreiſen jener Ungelehrten, welche den feinen Gedanken
der hiſtoriſchen Rechtsſchule nicht folgen konnten. Was er freilich ſelber
an die Stelle dieſer überwundenen Doktrin ſetzte war nur eine grobe
Verallgemeinerung der patrimonialen Rechtsgrundſätze der alten Berner
Ariſtokratie. Wie einſt die Herren von Bern ihre eroberten Unterthanen-
lande im Aaargau und im Waadtland kurzweg als das Eigenthum ihrer
ſiegreichen Republik behandelt hatten, ſo begründete Haller den Staat
ſchlechthin auf das Recht des Stärkeren. Das Land gehört einem Fürſten,
einer Corporation oder einer Kirche; auf dieſem Eigenthum des Landes-
herrn und unter ſeinem Schutze ſiedelt ſich das Volk an; verſchwände das
Volk, ſo wäre der Staat immer noch vorhanden in der Perſon des Für-
ſten, der leicht neue Unterthanen finden kann. Der Staat erſcheint mit-
hin als eine privatrechtliche Genoſſenſchaft wie andere auch, nur mächtiger,
ſelbſtändiger als ſie alle, der Fürſt als „ein begüterter, vollkommen unab-
hängiger Menſch“; er beherrſcht das Volk durch ſeine perſönlichen Diener,
iſt berechtigt wie verpflichtet ſich ſelber und ſein Haus als den Haupt-
zweck des Staates zu betrachten, muß aber auch den Aufwand aus ſeinem
eigenen Vermögen beſtreiten und die Unterthanen durch ſeine eigenen Sol-
daten beſchützen. Ein Zerrbild des alten ſtändiſchen Staates, wie es in
ſolcher Roheit ſelbſt im vierzehnten Jahrhundert nirgends beſtanden hatte,
ward alſo mit der gleichen Unfehlbarkeit, wie einſt die Muſterverfaſſungen
der Revolution, als das allgemeingiltige Staatsideal hingeſtellt; die ſtaats-
rechtliche Unterordnung des Bürgers ſank zur privatrechtlichon Dienſtbar-
keit herab. Der Reſtaurator hob in Wahrheit den Staat ſelber auf.

Nirgends erſchien ſeine Doktrin ſo bodenlos, ſo allen Thatſachen wider-
ſprechend wie in Preußen; denn kein anderer Staat hatte die Majeſtät des
Staatsgedankens ſo hoch gehalten, wie dieſer, deſſen Fürſten immer die
erſten Diener des Staates waren. Daher auch Hallers wilder Haß gegen
Friedrich den Großen, gegen den aufgeklärten preußiſchen Abſolutismus,
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meine Landrecht: „außer auf dem Titelblatte ſieht man nirgends, ob es

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[112/0126] II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. erbauen, die anmaßende revolutionäre Wiſſenſchaft des gottloſen acht- zehnten Jahrhunderts zu Schanden machen und die katholiſche Kirche mit einem neuen Glanze erleuchten“ ſollte. Mit dem ſtolzen Bewußtſein eines welthiſtoriſchen Berufes verkündete er ſeine Lehre, erſt in der Allgemeinen Staatskunde (1808), dann, ſeit 1816, in der Reſtauration der Staats- wiſſenſchaft; es ſchien ihm wie eine übernatürliche Fügung, daß gerade ihm, dem geborenen Republikaner und Proteſtanten, die antirevolutionäre Heilswahrheit aufgegangen ſei. Und allerdings mit zermalmender Wucht fielen die dialektiſchen Keulenſchläge ſeines harten Menſchenverſtandes auf die Phantaſiegebilde der Naturrechtslehre. Erſt die handfeſten Beweis- gründe dieſes polternden Naturaliſten erſchütterten den Glauben an den Naturzuſtand, an den Staatsvertrag und die urſprüngliche Volksſouverä- nität auch in den Kreiſen jener Ungelehrten, welche den feinen Gedanken der hiſtoriſchen Rechtsſchule nicht folgen konnten. Was er freilich ſelber an die Stelle dieſer überwundenen Doktrin ſetzte war nur eine grobe Verallgemeinerung der patrimonialen Rechtsgrundſätze der alten Berner Ariſtokratie. Wie einſt die Herren von Bern ihre eroberten Unterthanen- lande im Aaargau und im Waadtland kurzweg als das Eigenthum ihrer ſiegreichen Republik behandelt hatten, ſo begründete Haller den Staat ſchlechthin auf das Recht des Stärkeren. Das Land gehört einem Fürſten, einer Corporation oder einer Kirche; auf dieſem Eigenthum des Landes- herrn und unter ſeinem Schutze ſiedelt ſich das Volk an; verſchwände das Volk, ſo wäre der Staat immer noch vorhanden in der Perſon des Für- ſten, der leicht neue Unterthanen finden kann. Der Staat erſcheint mit- hin als eine privatrechtliche Genoſſenſchaft wie andere auch, nur mächtiger, ſelbſtändiger als ſie alle, der Fürſt als „ein begüterter, vollkommen unab- hängiger Menſch“; er beherrſcht das Volk durch ſeine perſönlichen Diener, iſt berechtigt wie verpflichtet ſich ſelber und ſein Haus als den Haupt- zweck des Staates zu betrachten, muß aber auch den Aufwand aus ſeinem eigenen Vermögen beſtreiten und die Unterthanen durch ſeine eigenen Sol- daten beſchützen. Ein Zerrbild des alten ſtändiſchen Staates, wie es in ſolcher Roheit ſelbſt im vierzehnten Jahrhundert nirgends beſtanden hatte, ward alſo mit der gleichen Unfehlbarkeit, wie einſt die Muſterverfaſſungen der Revolution, als das allgemeingiltige Staatsideal hingeſtellt; die ſtaats- rechtliche Unterordnung des Bürgers ſank zur privatrechtlichon Dienſtbar- keit herab. Der Reſtaurator hob in Wahrheit den Staat ſelber auf. Nirgends erſchien ſeine Doktrin ſo bodenlos, ſo allen Thatſachen wider- ſprechend wie in Preußen; denn kein anderer Staat hatte die Majeſtät des Staatsgedankens ſo hoch gehalten, wie dieſer, deſſen Fürſten immer die erſten Diener des Staates waren. Daher auch Hallers wilder Haß gegen Friedrich den Großen, gegen den aufgeklärten preußiſchen Abſolutismus, der die haſſenswürdige Conſcription erfunden habe, und gegen das Allge- meine Landrecht: „außer auf dem Titelblatte ſieht man nirgends, ob es

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/126>, abgerufen am 29.11.2024.