Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre. meine Mittelmäßigkeit emporragt, so unverblümt ausgesprochen. Sehr nach-drücklich wies der volksthümliche Historiker Alexander den Großen zurecht, weil dieser "Mensch von Staub und Erde zerschmetterte Völker zum Fuß- gestell seines Ruhmes machte"; den Helden der Kreuzzüge hielt er die zornige Frage entgegen: "mit welchem Rechte wurde Palästina erobert?" Der ganze Verlauf der Weltgeschichte zeigte ihm in entsetzlicher Eintönig- keit stets das nämliche traurige Schauspiel: wie die allezeit unschuldigen Völker die Jahrtausende hindurch immer wieder durch blutige Tyrannen mißhandelt und zu gemeinschädlichen Kriegen verleitet wurden, wie dann gar mit dem Mittelalter "zehn Jahrhunderte der Barbarei, der Wildheit und der Finsterniß -- ein weder erfreuliches noch sehr interessantes Zeit- alter" -- über die unglückliche Menschheit hereinbrachen, bis darauf end- lich durch die Volksmänner der amerikanischen und der französischen Re- volution das Dunkel gelichtet ward und der gebietende Zeitgeist zu seinem Rechte kam. Die naive Selbstverliebtheit des philosophischen Jahrhunderts lebte Ebenso verführerisch erschien den Lesern die parteiisch gefärbte Dar- II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. meine Mittelmäßigkeit emporragt, ſo unverblümt ausgeſprochen. Sehr nach-drücklich wies der volksthümliche Hiſtoriker Alexander den Großen zurecht, weil dieſer „Menſch von Staub und Erde zerſchmetterte Völker zum Fuß- geſtell ſeines Ruhmes machte“; den Helden der Kreuzzüge hielt er die zornige Frage entgegen: „mit welchem Rechte wurde Paläſtina erobert?“ Der ganze Verlauf der Weltgeſchichte zeigte ihm in entſetzlicher Eintönig- keit ſtets das nämliche traurige Schauſpiel: wie die allezeit unſchuldigen Völker die Jahrtauſende hindurch immer wieder durch blutige Tyrannen mißhandelt und zu gemeinſchädlichen Kriegen verleitet wurden, wie dann gar mit dem Mittelalter „zehn Jahrhunderte der Barbarei, der Wildheit und der Finſterniß — ein weder erfreuliches noch ſehr intereſſantes Zeit- alter“ — über die unglückliche Menſchheit hereinbrachen, bis darauf end- lich durch die Volksmänner der amerikaniſchen und der franzöſiſchen Re- volution das Dunkel gelichtet ward und der gebietende Zeitgeiſt zu ſeinem Rechte kam. Die naive Selbſtverliebtheit des philoſophiſchen Jahrhunderts lebte Ebenſo verführeriſch erſchien den Leſern die parteiiſch gefärbte Dar- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0116" n="102"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">II.</hi> 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.</fw><lb/> meine Mittelmäßigkeit emporragt, ſo unverblümt ausgeſprochen. 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II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
meine Mittelmäßigkeit emporragt, ſo unverblümt ausgeſprochen. Sehr nach-
drücklich wies der volksthümliche Hiſtoriker Alexander den Großen zurecht,
weil dieſer „Menſch von Staub und Erde zerſchmetterte Völker zum Fuß-
geſtell ſeines Ruhmes machte“; den Helden der Kreuzzüge hielt er die
zornige Frage entgegen: „mit welchem Rechte wurde Paläſtina erobert?“
Der ganze Verlauf der Weltgeſchichte zeigte ihm in entſetzlicher Eintönig-
keit ſtets das nämliche traurige Schauſpiel: wie die allezeit unſchuldigen
Völker die Jahrtauſende hindurch immer wieder durch blutige Tyrannen
mißhandelt und zu gemeinſchädlichen Kriegen verleitet wurden, wie dann
gar mit dem Mittelalter „zehn Jahrhunderte der Barbarei, der Wildheit
und der Finſterniß — ein weder erfreuliches noch ſehr intereſſantes Zeit-
alter“ — über die unglückliche Menſchheit hereinbrachen, bis darauf end-
lich durch die Volksmänner der amerikaniſchen und der franzöſiſchen Re-
volution das Dunkel gelichtet ward und der gebietende Zeitgeiſt zu ſeinem
Rechte kam.
Die naive Selbſtverliebtheit des philoſophiſchen Jahrhunderts lebte
hier wieder auf, nur daß ſie jetzt ein politiſches Gewand anlegte. Durch
Rottecks Weltgeſchichte wurde das republikaniſche Staatsideal zum erſten
male den deutſchen Mittelklaſſen gepredigt. Die Begeiſterung für die junge
Republik des Weſtens hatte ſich zur Zeit des amerikaniſchen Unabhängig-
keitskrieges doch nur auf die engen Kreiſe der gebildeten Jugend beſchränkt
und war dann während der Stürme der napoleoniſchen Tage ganz in
Vergeſſenheit gerathen. Jetzt lenkte Rotteck die Blicke der Verſtimmten
wieder abendwärts. „Im Weſten, rief er aus, in der jugendlichen neuen
Welt erbaut ſich das natürliche, das vernünftige Recht ſein erleſenes Reich.“
Zwar fügte er als ein geſetzliebender Staatsbürger beſchwichtigend hinzu:
„nicht eben die republikaniſche Form iſt’s, die wir die Sonne dieſes Tages
nennen, nein, nur der republikaniſche Geiſt.“ Indeß blieb den Leſern
doch der Eindruck, daß die Republik der allein vernünftige Staat, „der
Freiſtaat“ ſchlechthin ſei: beide Ausdrücke brauchte man bereits als gleich-
bedeutend. Dieſe Lehre fand um ſo leichter Anklang, da Jedermann ſchon
auf der Schulbank die Philologenfabel von der wunderbaren Freiheit der
Republiken des Alterthums gelernt hatte.
Ebenſo verführeriſch erſchien den Leſern die parteiiſch gefärbte Dar-
ſtellung der jüngſten Vergangenheit. Wie wunderbar mächtig waltete doch
die ſagenbildende Kraft des Volksgeiſtes noch in dieſem bildungsſtolzen
Jahrhundert! Das Bild der ſelbſterlebten allerneueſten Ereigniſſe ver-
ſchob und verwirrte ſich in dem Gedächtniß der Völker, ſofort nach dem
Friedensſchluſſe. Wie die Franzoſen alleſammt glaubten, ſie ſeien nur der
zehnfachen Uebermacht erlegen, ſo entſtand auch unter den deutſchen Un-
zufriedenen alsbald eine ganze Welt wunderlicher Parteimärchen. Rotteck
ſprach allen Liberalen des Südens aus der Seele, wenn er zuverſichtlich
behauptete, von ſämmtlichen europäiſchen Mächten hätten allein die beiden
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