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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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Rottecks Weltgeschichte.
Widmung: "allen edlen Bürgern Freiburgs anspruchslos und liebend der
Verfasser." Wenn der kleine schlichte Mann des Nachmittags nach den
Collegien rüstig auf die Vorhöhen des Schwarzwaldes zu seinem kleinen
Rebgute, dem Schönehof hinaufstieg und von droben die liebliche Thal-
bucht mit dem stolzen Münsterthurme überblickte, dann meinte er die Perle
Deutschlands zu schauen; und als dies herrliche Land nun gar noch mit
der ersehnten vernunftgemäßen Verfassung gesegnet wurde, da konnte er
nur noch mit Geringschätzung an den fernen Norden denken, den er nach
Landesart natürlich nie betreten hatte, und fragte stolz: ob sich wohl das
lichte Rheinland bei politischen Rechten beruhigen könne, die allenfalls für
das finstere Pommern genügten? Wie die Schwaben in Uhland, so er-
kannten die badischen Alemannen in ihrem Rotteck alle Züge ihres eigenen
Wesens wieder: ihren tapfern Freimuth, ihren demokratischen Trotz, ihre
josephinische Aufklärung, aber auch ihre kleinstädtische Beschränktheit, ihre
naive Unkenntniß aller politischen Machtverhältnisse und die Selbstgefäl-
ligkeit ihres harmlosen Particularismus. "Dann gehen wir eben zum
Rotteck" -- hieß es unter den Schwarzwälder Bauern, wenn die Be-
schwerden bei den Beamten nichts halfen.

Rottecks Ansehen bei den Mittelklassen ward zuerst durch seine Welt-
geschichte begründet. Das Buch erschien seit dem Jahre 1812, und mit
jedem neuen Bande stieg der Absatz; in manchem kleinstädtischen Bürger-
hause des Südens bestand der ganze Bücherschatz aus der Bibel, dem
Gebetbuch und dem Rotteck. Was konnte auch dem tief verstimmten und
doch politisch völlig rathlosen Völkchen der Kleinstaaten willkommener klingen
als die selbstgefällige Trivialität dieser Geschichtsweisheit, die von dem
nothwendigen Werden des historischen Lebens gar nichts ahnte, sondern
alles Mißgeschick der Völker einfach aus der Bosheit und der Verblen-
dung der Regierenden ableitete und geradezu aussprach, ihr höchstes Ziel
sei "der jetzt mit Macht sich erhebenden und durch solche Erhebung Heil
verheißenden öffentlichen Meinung zu entsprechen". Der dürre Ratio-
nalismus der Geschichtschreibung des alten Jahrhunderts verschmolz sich
mit den Parteileidenschaften des neuen Zeitalters. Rotteck betrachtete den
Staat -- er wußte es nicht anders -- grundsätzlich nur von unten, mit
den Augen der Regierten; niemals verfiel er auf die Frage, wie sich die
menschlichen Dinge von oben her ausnehmen, welche Gedanken die Thä-
tigkeit der Regierenden bestimmten und welche Hemmnisse sie zu über-
winden hatte. Jeder Fürst, jeder Machthaber schien ihm verdächtig. Selbst
im persönlichen Verkehr mochte der eingefleischte Bürgersmann die vor-
nehmen Leute nicht leiden, der Anblick einer Uniform oder eines Ordens-
kreuzes war ihm unbehaglich; sogar Blücher gefiel ihm nicht mehr seit
der alte Held den Fürstentitel führte.

Noch niemals hatte ein deutsches Buch die schlimmste Schwäche der
modernen Demokratie, den neidischen Abscheu gegen Alles was über die ge-

Rottecks Weltgeſchichte.
Widmung: „allen edlen Bürgern Freiburgs anſpruchslos und liebend der
Verfaſſer.“ Wenn der kleine ſchlichte Mann des Nachmittags nach den
Collegien rüſtig auf die Vorhöhen des Schwarzwaldes zu ſeinem kleinen
Rebgute, dem Schönehof hinaufſtieg und von droben die liebliche Thal-
bucht mit dem ſtolzen Münſterthurme überblickte, dann meinte er die Perle
Deutſchlands zu ſchauen; und als dies herrliche Land nun gar noch mit
der erſehnten vernunftgemäßen Verfaſſung geſegnet wurde, da konnte er
nur noch mit Geringſchätzung an den fernen Norden denken, den er nach
Landesart natürlich nie betreten hatte, und fragte ſtolz: ob ſich wohl das
lichte Rheinland bei politiſchen Rechten beruhigen könne, die allenfalls für
das finſtere Pommern genügten? Wie die Schwaben in Uhland, ſo er-
kannten die badiſchen Alemannen in ihrem Rotteck alle Züge ihres eigenen
Weſens wieder: ihren tapfern Freimuth, ihren demokratiſchen Trotz, ihre
joſephiniſche Aufklärung, aber auch ihre kleinſtädtiſche Beſchränktheit, ihre
naive Unkenntniß aller politiſchen Machtverhältniſſe und die Selbſtgefäl-
ligkeit ihres harmloſen Particularismus. „Dann gehen wir eben zum
Rotteck“ — hieß es unter den Schwarzwälder Bauern, wenn die Be-
ſchwerden bei den Beamten nichts halfen.

Rottecks Anſehen bei den Mittelklaſſen ward zuerſt durch ſeine Welt-
geſchichte begründet. Das Buch erſchien ſeit dem Jahre 1812, und mit
jedem neuen Bande ſtieg der Abſatz; in manchem kleinſtädtiſchen Bürger-
hauſe des Südens beſtand der ganze Bücherſchatz aus der Bibel, dem
Gebetbuch und dem Rotteck. Was konnte auch dem tief verſtimmten und
doch politiſch völlig rathloſen Völkchen der Kleinſtaaten willkommener klingen
als die ſelbſtgefällige Trivialität dieſer Geſchichtsweisheit, die von dem
nothwendigen Werden des hiſtoriſchen Lebens gar nichts ahnte, ſondern
alles Mißgeſchick der Völker einfach aus der Bosheit und der Verblen-
dung der Regierenden ableitete und geradezu ausſprach, ihr höchſtes Ziel
ſei „der jetzt mit Macht ſich erhebenden und durch ſolche Erhebung Heil
verheißenden öffentlichen Meinung zu entſprechen“. Der dürre Ratio-
nalismus der Geſchichtſchreibung des alten Jahrhunderts verſchmolz ſich
mit den Parteileidenſchaften des neuen Zeitalters. Rotteck betrachtete den
Staat — er wußte es nicht anders — grundſätzlich nur von unten, mit
den Augen der Regierten; niemals verfiel er auf die Frage, wie ſich die
menſchlichen Dinge von oben her ausnehmen, welche Gedanken die Thä-
tigkeit der Regierenden beſtimmten und welche Hemmniſſe ſie zu über-
winden hatte. Jeder Fürſt, jeder Machthaber ſchien ihm verdächtig. Selbſt
im perſönlichen Verkehr mochte der eingefleiſchte Bürgersmann die vor-
nehmen Leute nicht leiden, der Anblick einer Uniform oder eines Ordens-
kreuzes war ihm unbehaglich; ſogar Blücher gefiel ihm nicht mehr ſeit
der alte Held den Fürſtentitel führte.

Noch niemals hatte ein deutſches Buch die ſchlimmſte Schwäche der
modernen Demokratie, den neidiſchen Abſcheu gegen Alles was über die ge-

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[101/0115] Rottecks Weltgeſchichte. Widmung: „allen edlen Bürgern Freiburgs anſpruchslos und liebend der Verfaſſer.“ Wenn der kleine ſchlichte Mann des Nachmittags nach den Collegien rüſtig auf die Vorhöhen des Schwarzwaldes zu ſeinem kleinen Rebgute, dem Schönehof hinaufſtieg und von droben die liebliche Thal- bucht mit dem ſtolzen Münſterthurme überblickte, dann meinte er die Perle Deutſchlands zu ſchauen; und als dies herrliche Land nun gar noch mit der erſehnten vernunftgemäßen Verfaſſung geſegnet wurde, da konnte er nur noch mit Geringſchätzung an den fernen Norden denken, den er nach Landesart natürlich nie betreten hatte, und fragte ſtolz: ob ſich wohl das lichte Rheinland bei politiſchen Rechten beruhigen könne, die allenfalls für das finſtere Pommern genügten? Wie die Schwaben in Uhland, ſo er- kannten die badiſchen Alemannen in ihrem Rotteck alle Züge ihres eigenen Weſens wieder: ihren tapfern Freimuth, ihren demokratiſchen Trotz, ihre joſephiniſche Aufklärung, aber auch ihre kleinſtädtiſche Beſchränktheit, ihre naive Unkenntniß aller politiſchen Machtverhältniſſe und die Selbſtgefäl- ligkeit ihres harmloſen Particularismus. „Dann gehen wir eben zum Rotteck“ — hieß es unter den Schwarzwälder Bauern, wenn die Be- ſchwerden bei den Beamten nichts halfen. Rottecks Anſehen bei den Mittelklaſſen ward zuerſt durch ſeine Welt- geſchichte begründet. Das Buch erſchien ſeit dem Jahre 1812, und mit jedem neuen Bande ſtieg der Abſatz; in manchem kleinſtädtiſchen Bürger- hauſe des Südens beſtand der ganze Bücherſchatz aus der Bibel, dem Gebetbuch und dem Rotteck. Was konnte auch dem tief verſtimmten und doch politiſch völlig rathloſen Völkchen der Kleinſtaaten willkommener klingen als die ſelbſtgefällige Trivialität dieſer Geſchichtsweisheit, die von dem nothwendigen Werden des hiſtoriſchen Lebens gar nichts ahnte, ſondern alles Mißgeſchick der Völker einfach aus der Bosheit und der Verblen- dung der Regierenden ableitete und geradezu ausſprach, ihr höchſtes Ziel ſei „der jetzt mit Macht ſich erhebenden und durch ſolche Erhebung Heil verheißenden öffentlichen Meinung zu entſprechen“. Der dürre Ratio- nalismus der Geſchichtſchreibung des alten Jahrhunderts verſchmolz ſich mit den Parteileidenſchaften des neuen Zeitalters. Rotteck betrachtete den Staat — er wußte es nicht anders — grundſätzlich nur von unten, mit den Augen der Regierten; niemals verfiel er auf die Frage, wie ſich die menſchlichen Dinge von oben her ausnehmen, welche Gedanken die Thä- tigkeit der Regierenden beſtimmten und welche Hemmniſſe ſie zu über- winden hatte. Jeder Fürſt, jeder Machthaber ſchien ihm verdächtig. Selbſt im perſönlichen Verkehr mochte der eingefleiſchte Bürgersmann die vor- nehmen Leute nicht leiden, der Anblick einer Uniform oder eines Ordens- kreuzes war ihm unbehaglich; ſogar Blücher gefiel ihm nicht mehr ſeit der alte Held den Fürſtentitel führte. Noch niemals hatte ein deutſches Buch die ſchlimmſte Schwäche der modernen Demokratie, den neidiſchen Abſcheu gegen Alles was über die ge-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/115>, abgerufen am 24.11.2024.