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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
deckend: wie der Graf schon als sie im Göttinger Hainbunde zusammen
jugendlich schwärmten im Stillen sich der "hierarchischen und aristokratischen
Zwangsherrschaft" zugeneigt habe, bis ihn dann Adelsstolz und Phantasterei
in die Nacht hildebrandinischer Verunreinigung getrieben hätten; "denn wü-
thender als jemals der Türk droht jetzt der Junker den erleuchteten Völkern
finstere Barbarei". Einige treffende Bemerkungen über die Hohlheit des
Convertitenthums und die fromme Selbstbespiegelung des Stolbergischen
Kreises verschwanden in einem Meere unwahrer Beschuldigungen. Denn
unzweifelhaft war Stolberg nicht wie Haller durch seine politische Gesinnung
zur römischen Kirche geführt worden, sondern durch den religiösen Drang
eines schwachen Gemüths, das sich nie auf sich selber stützen konnte; Goethes
scharfer Blick hatte den Weichmüthigen von jeher als einen unbewußten
Katholiken betrachtet.

Gleich den meisten seiner Altersgenossen hatte Voß sich einst für die
Menschenrechte der Revolution begeistert; jetzt nach dem Sturze der Fremd-
herrschaft flammte die radikale Gesinnung des alten Herrn, die sich wäh-
rend des Befreiungskrieges nicht recht herausgewagt, wieder in wilder Hef-
tigkeit auf. Höhnend nannte er Napoleon den Würgengel der Hochgeborenen
und rief dem alten Jugendfreunde zu:
Edlere nennst Du die Söhne Gewappneter, die in der Vorzeit
Tugend des Doggen vielleicht adelte oder des Wolfs?

Zu diesem fanatischen Adelshasse gesellten sich das Mißtrauen des Ratio-
nalisten gegen jede nicht ganz wasserklare Form des kirchlichen Lebens; der
Großinquisitor des Rationalismus konnte sich das Wiedererwachen des
religiösen Sinnes nur aus der ruchlosen Wühlerei eines pfäffisch-ritter-
lichen Geheimbundes erklären. Heftige Erwiderungen der Freunde des
Angegriffenen und neue polternde Streitschriften von Voß, Paulus und
Schott bewiesen nur, wie unmöglich jede Versöhnung in diesem wüsten Ge-
zänke war. Goethe traf wieder das rechte Wort, da er sagte:

Mir wird unfrei, mir wird unfroh,
Wie zwischen Gluth und Welle,
Als läs' ich ein Capitolo
Aus Dantes grauser Hölle.

Die widerwärtige Fehde wirkte auf die Stimmung des deutschen Libera-
lismus tief und verderblich ein. Voß und die Gelehrten des Sophronizon
stellten zuerst die Behauptung auf: der Glaube an eine religiöse Ueber-
lieferung hänge mit dem Glauben an das erbliche Verdienst des Adels
im Innersten zusammen, der freie Mann achte nur "die selbstanerkannte
Geisteswahrheit und die selbsterworbene Verdienstlichkeit". Obwohl die Thor-
heit dieser Sätze Jedem einleuchten mußte, der die confessionelle Hart-
gläubigkeit der nordamerikanischen Demokratie kannte, so fanden sie doch
Anklang bei der Systemsucht der Deutschen, und allmählich entstand eine
krankhafte Sprachverwirrung, die bis zum heutigen Tage das deutsche Par-

II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
deckend: wie der Graf ſchon als ſie im Göttinger Hainbunde zuſammen
jugendlich ſchwärmten im Stillen ſich der „hierarchiſchen und ariſtokratiſchen
Zwangsherrſchaft“ zugeneigt habe, bis ihn dann Adelsſtolz und Phantaſterei
in die Nacht hildebrandiniſcher Verunreinigung getrieben hätten; „denn wü-
thender als jemals der Türk droht jetzt der Junker den erleuchteten Völkern
finſtere Barbarei“. Einige treffende Bemerkungen über die Hohlheit des
Convertitenthums und die fromme Selbſtbeſpiegelung des Stolbergiſchen
Kreiſes verſchwanden in einem Meere unwahrer Beſchuldigungen. Denn
unzweifelhaft war Stolberg nicht wie Haller durch ſeine politiſche Geſinnung
zur römiſchen Kirche geführt worden, ſondern durch den religiöſen Drang
eines ſchwachen Gemüths, das ſich nie auf ſich ſelber ſtützen konnte; Goethes
ſcharfer Blick hatte den Weichmüthigen von jeher als einen unbewußten
Katholiken betrachtet.

Gleich den meiſten ſeiner Altersgenoſſen hatte Voß ſich einſt für die
Menſchenrechte der Revolution begeiſtert; jetzt nach dem Sturze der Fremd-
herrſchaft flammte die radikale Geſinnung des alten Herrn, die ſich wäh-
rend des Befreiungskrieges nicht recht herausgewagt, wieder in wilder Hef-
tigkeit auf. Höhnend nannte er Napoleon den Würgengel der Hochgeborenen
und rief dem alten Jugendfreunde zu:
Edlere nennſt Du die Söhne Gewappneter, die in der Vorzeit
Tugend des Doggen vielleicht adelte oder des Wolfs?

Zu dieſem fanatiſchen Adelshaſſe geſellten ſich das Mißtrauen des Ratio-
naliſten gegen jede nicht ganz waſſerklare Form des kirchlichen Lebens; der
Großinquiſitor des Rationalismus konnte ſich das Wiedererwachen des
religiöſen Sinnes nur aus der ruchloſen Wühlerei eines pfäffiſch-ritter-
lichen Geheimbundes erklären. Heftige Erwiderungen der Freunde des
Angegriffenen und neue polternde Streitſchriften von Voß, Paulus und
Schott bewieſen nur, wie unmöglich jede Verſöhnung in dieſem wüſten Ge-
zänke war. Goethe traf wieder das rechte Wort, da er ſagte:

Mir wird unfrei, mir wird unfroh,
Wie zwiſchen Gluth und Welle,
Als läſ’ ich ein Capitolo
Aus Dantes grauſer Hölle.

Die widerwärtige Fehde wirkte auf die Stimmung des deutſchen Libera-
lismus tief und verderblich ein. Voß und die Gelehrten des Sophronizon
ſtellten zuerſt die Behauptung auf: der Glaube an eine religiöſe Ueber-
lieferung hänge mit dem Glauben an das erbliche Verdienſt des Adels
im Innerſten zuſammen, der freie Mann achte nur „die ſelbſtanerkannte
Geiſteswahrheit und die ſelbſterworbene Verdienſtlichkeit“. Obwohl die Thor-
heit dieſer Sätze Jedem einleuchten mußte, der die confeſſionelle Hart-
gläubigkeit der nordamerikaniſchen Demokratie kannte, ſo fanden ſie doch
Anklang bei der Syſtemſucht der Deutſchen, und allmählich entſtand eine
krankhafte Sprachverwirrung, die bis zum heutigen Tage das deutſche Par-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/112>, abgerufen am 22.12.2024.