Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.Der Rationalismus. Kant von der radikalen Sündhaftigkeit des Menschengeschlechts gesprochen.Der gemeine Rationalismus bewahrte kaum noch eine schwache Erinne- rung an diese christlichen Grundgedanken, sondern glaubte harmlos an die Güte der menschlichen Natur und beruhigte sich bei einer weltlichen Werk- heiligkeitslehre: die bürgerliche Rechtschaffenheit des Wandels genügte ihm zur Seligkeit. Gleichwohl besaß er weder den Muth noch die wissenschaft- liche Kraft um den steilen Weg, welchen einst Lessing und der Wolfen- bütteler Fragmentist gewiesen, weiter zu verfolgen und sich die kritische Methode der neuen philologischen Sagenforschung anzueignen; er wagte nicht den historischen Ursprung des Neuen Testaments ernsthaft zu unter- suchen, sondern nahm die Bibel als ein Gegebenes hin und begnügte sich ihre Aussprüche so lange umzudeuteln, bis sie mit den Naturgesetzen im Einklang zu stehen schienen. Der lauteste und unduldsamste Vorkämpfer dieser Richtung war Paulus Der Rationalismus. Kant von der radikalen Sündhaftigkeit des Menſchengeſchlechts geſprochen.Der gemeine Rationalismus bewahrte kaum noch eine ſchwache Erinne- rung an dieſe chriſtlichen Grundgedanken, ſondern glaubte harmlos an die Güte der menſchlichen Natur und beruhigte ſich bei einer weltlichen Werk- heiligkeitslehre: die bürgerliche Rechtſchaffenheit des Wandels genügte ihm zur Seligkeit. Gleichwohl beſaß er weder den Muth noch die wiſſenſchaft- liche Kraft um den ſteilen Weg, welchen einſt Leſſing und der Wolfen- bütteler Fragmentiſt gewieſen, weiter zu verfolgen und ſich die kritiſche Methode der neuen philologiſchen Sagenforſchung anzueignen; er wagte nicht den hiſtoriſchen Urſprung des Neuen Teſtaments ernſthaft zu unter- ſuchen, ſondern nahm die Bibel als ein Gegebenes hin und begnügte ſich ihre Ausſprüche ſo lange umzudeuteln, bis ſie mit den Naturgeſetzen im Einklang zu ſtehen ſchienen. Der lauteſte und unduldſamſte Vorkämpfer dieſer Richtung war Paulus <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0101" n="87"/><fw place="top" type="header">Der Rationalismus.</fw><lb/> Kant von der radikalen Sündhaftigkeit des Menſchengeſchlechts geſprochen.<lb/> Der gemeine Rationalismus bewahrte kaum noch eine ſchwache Erinne-<lb/> rung an dieſe chriſtlichen Grundgedanken, ſondern glaubte harmlos an die<lb/> Güte der menſchlichen Natur und beruhigte ſich bei einer weltlichen Werk-<lb/> heiligkeitslehre: die bürgerliche Rechtſchaffenheit des Wandels genügte ihm<lb/> zur Seligkeit. 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Wie viel ſittſamer als das<lb/> gewaltige „O Ewigkeit, Du Donnerwort“ klang doch das neue wohlerzogene<lb/> Rationaliſtenlied: „ich ſterb’ im Tode nicht, mich überzeugen Gründe!“ Von<lb/> jeher hatte die evangeliſche Kirche den Cultus neben der Lehre vernachläſſigt.<lb/> Unter der Herrſchaft des Rationalismus verſchwand aus dem Gottes-<lb/> dienſte vollends Alles was das Gemüth erquickte und die Phantaſie er-<lb/> regte; die geiſtliche Lehre aber ſank zur weltlichen Belehrung herab. Die<lb/> Kanzelredner verſtanden nicht mehr die beladenen Gewiſſen zu erbauen<lb/> und zu erheben, ihnen Troſt zu ſpenden aus der Fülle der Verheißung;<lb/> ſie ergingen ſich in breiten moraliſchen Betrachtungen, ſie erläuterten was<lb/> ſich der vernünftige Chriſt bei den einzelnen Dogmen zu denken habe,<lb/> und verſchmähten ſogar nicht an geweihter Stätte wohlgemeinte Anwei-<lb/> ſungen für den Kartoffelbau und die Schafzucht zu geben. Ihre Gottes-<lb/> häuſer verödeten, die guten Köpfe vermochten in dieſer dünnen Luft nicht<lb/> mehr zu athmen. Die Pflichten der Seelſorge wurden vernachläſſigt; jeder<lb/> nichtige Vorwand reichte aus um die Erlaubniß zur Eheſcheidung bei den<lb/> aufgeklärten Pfarrern und Conſiſtorien zu erlangen. Auch der alte offen-<lb/> barungsgläubige Supranaturalismus, der namentlich in Württemberg unter<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [87/0101]
Der Rationalismus.
Kant von der radikalen Sündhaftigkeit des Menſchengeſchlechts geſprochen.
Der gemeine Rationalismus bewahrte kaum noch eine ſchwache Erinne-
rung an dieſe chriſtlichen Grundgedanken, ſondern glaubte harmlos an die
Güte der menſchlichen Natur und beruhigte ſich bei einer weltlichen Werk-
heiligkeitslehre: die bürgerliche Rechtſchaffenheit des Wandels genügte ihm
zur Seligkeit. Gleichwohl beſaß er weder den Muth noch die wiſſenſchaft-
liche Kraft um den ſteilen Weg, welchen einſt Leſſing und der Wolfen-
bütteler Fragmentiſt gewieſen, weiter zu verfolgen und ſich die kritiſche
Methode der neuen philologiſchen Sagenforſchung anzueignen; er wagte
nicht den hiſtoriſchen Urſprung des Neuen Teſtaments ernſthaft zu unter-
ſuchen, ſondern nahm die Bibel als ein Gegebenes hin und begnügte ſich
ihre Ausſprüche ſo lange umzudeuteln, bis ſie mit den Naturgeſetzen im
Einklang zu ſtehen ſchienen.
Der lauteſte und unduldſamſte Vorkämpfer dieſer Richtung war Paulus
in Heidelberg, einige Jahre vor Schelling in dem nämlichen Pfarrhauſe
zu Leonberg in Schwaben geboren, der Todfeind dieſes ſeines Lands-
mannes und aller Lehren, welche irgend über den platten Verſtand hinaus-
reichten. Wie fühlte er ſich glücklich in ſeinem Freiſinn, wenn er die Auf-
erſtehung für ein Erwachen vom Scheintode, das Wunder von Kana für
den gelungenen Spaß eines vergnügten Hochzeitsgaſtes erklärte. Mancher
rationaliſtiſche Lehrer rief ſogar die Geheimlehren der Naturphiloſophen zu
Hilfe und ſchilderte den Heiland als einen magnetiſchen Arzt; das natür-
liche Wunder erſchien dieſen Köpfen immerhin noch erträglicher als das
übernatürliche. Die glaubensfreudigen alten Kirchenlieder erſchreckten die
nüchterne Mattherzigkeit; ſie wurden durch läppiſche Aenderungen verdünnt
oder gänzlich aus den Geſangbüchern entfernt. Wie viel ſittſamer als das
gewaltige „O Ewigkeit, Du Donnerwort“ klang doch das neue wohlerzogene
Rationaliſtenlied: „ich ſterb’ im Tode nicht, mich überzeugen Gründe!“ Von
jeher hatte die evangeliſche Kirche den Cultus neben der Lehre vernachläſſigt.
Unter der Herrſchaft des Rationalismus verſchwand aus dem Gottes-
dienſte vollends Alles was das Gemüth erquickte und die Phantaſie er-
regte; die geiſtliche Lehre aber ſank zur weltlichen Belehrung herab. Die
Kanzelredner verſtanden nicht mehr die beladenen Gewiſſen zu erbauen
und zu erheben, ihnen Troſt zu ſpenden aus der Fülle der Verheißung;
ſie ergingen ſich in breiten moraliſchen Betrachtungen, ſie erläuterten was
ſich der vernünftige Chriſt bei den einzelnen Dogmen zu denken habe,
und verſchmähten ſogar nicht an geweihter Stätte wohlgemeinte Anwei-
ſungen für den Kartoffelbau und die Schafzucht zu geben. Ihre Gottes-
häuſer verödeten, die guten Köpfe vermochten in dieſer dünnen Luft nicht
mehr zu athmen. Die Pflichten der Seelſorge wurden vernachläſſigt; jeder
nichtige Vorwand reichte aus um die Erlaubniß zur Eheſcheidung bei den
aufgeklärten Pfarrern und Conſiſtorien zu erlangen. Auch der alte offen-
barungsgläubige Supranaturalismus, der namentlich in Württemberg unter
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