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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882.

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II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
gepredigt hatte. Als Fouques Regiment im Frühjahrsfeldzuge 1813
nahe der Landskrone ein Gefecht bestand, da rief der romantische Poet
in seliger Verzückung: hier sei es schön zu sterben, im Angesichte des hei-
ligen Berges, auf dessen Gipfel der Herrgott zuerst dem Schuster von
Görlitz erschienen! --

Wo waren sie hin, jene Tage der allmächtigen Aufklärung, da der
Gegensatz der Glaubensbekenntnisse ganz verbleicht, alles kirchliche Leben
durch die weltliche Bildung überwuchert schien und der mögliche Unter-
gang des Christenthums von Freund und Feind schon mit philosophischer
Gelassenheit besprochen wurde! Die erschütternden Erfahrungen des Zeit-
alters der Revolution hatten in allen Völkern das schlummernde religiöse
Gefühl mächtig aufgeregt; aber mit dem lebendigen Glauben erwachten
auch hierarchische Bestrebungen, die man längst erstorben wähnte, und
die finsteren Leidenschaften des Glaubenshasses, des Fanatismus, des
Aberglaubens. Das neue Jahrhundert erwies sich mit jedem Jahre mehr,
im scharfen Gegensatze zu seinem Vorgänger, als ein Zeitalter endlosen
kirchlichen Unfriedens, so zerklüftet und verworren wie kaum ein zweites
Jahrhundert der Kirchengeschichte: reich an gesundem religiösen Leben, doch
ebenso reich an Unglauben, Weltsinn, Gleichgiltigkeit, Verzweiflung; voll
stiller Sehnsucht nach einer reineren Form des Christenthums und doch
unfähig zur Versöhnung der erbitterten kirchlichen und kirchenfeindlichen
Parteien, die immer nur durch das Gefühl der eigenen Schwäche und
durch das gebieterische Ruhebedürfniß des bürgerlichen Lebens in Schran-
ken gehalten wurden. Nirgends erschien das Gewirr dieser kirchlichen Ge-
gensätze so bunt und vielgestaltig wie in dem Heimathlande der Refor-
mation, das von jeher gewohnt war, die Fragen des Glaubens mit schwe-
rem Ernst zu behandeln, die Ueberzeugung des Gewissens freimüthig aus-
zusprechen. Die deutsche Nation zerfiel in ehrliche Gläubige und ehrliche
Freidenker; die Zahl der Heuchler blieb hier immer gering.

Da die Durchschnittsbildung stets um einige Schritte hinter dem
Stande der Wissenschaft zurückbleibt, so herrschte in der Masse der evan-
gelischen Geistlichkeit und in der gebildeten Laienwelt noch immer jener
bequeme, menschenfreundliche Rationalismus, der mit seinem harten Ver-
stande kurzerhand alles "Unvernünftige" von den Dogmen losschälte und
in seiner Selbstzufriedenheit gar nicht bemerkte, daß er mit der Schale
auch den Kern des christlichen Glaubens verloren hatte: auch die tief-
sinnigen Lehren von der Sünde und der Erlösung, welche dem germanischen
Gemüthe allezeit die theuersten waren. Durch diese Heilslehre hatte einst
das Christenthum zuerst den Weg gefunden zu den Herzen der Ger-
manen, die allein unter allen Heidenvölkern schon an die dereinstige Wie-
dergeburt der sündigen Welt glaubten; von dem zerknirschenden Bewußt-
sein der eigenen Sünde war Luther ausgegangen, als er die Reinigung
der verweltlichten Kirche unternahm; und wie nachdrücklich hatte noch

II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre.
gepredigt hatte. Als Fouqués Regiment im Frühjahrsfeldzuge 1813
nahe der Landskrone ein Gefecht beſtand, da rief der romantiſche Poet
in ſeliger Verzückung: hier ſei es ſchön zu ſterben, im Angeſichte des hei-
ligen Berges, auf deſſen Gipfel der Herrgott zuerſt dem Schuſter von
Görlitz erſchienen! —

Wo waren ſie hin, jene Tage der allmächtigen Aufklärung, da der
Gegenſatz der Glaubensbekenntniſſe ganz verbleicht, alles kirchliche Leben
durch die weltliche Bildung überwuchert ſchien und der mögliche Unter-
gang des Chriſtenthums von Freund und Feind ſchon mit philoſophiſcher
Gelaſſenheit beſprochen wurde! Die erſchütternden Erfahrungen des Zeit-
alters der Revolution hatten in allen Völkern das ſchlummernde religiöſe
Gefühl mächtig aufgeregt; aber mit dem lebendigen Glauben erwachten
auch hierarchiſche Beſtrebungen, die man längſt erſtorben wähnte, und
die finſteren Leidenſchaften des Glaubenshaſſes, des Fanatismus, des
Aberglaubens. Das neue Jahrhundert erwies ſich mit jedem Jahre mehr,
im ſcharfen Gegenſatze zu ſeinem Vorgänger, als ein Zeitalter endloſen
kirchlichen Unfriedens, ſo zerklüftet und verworren wie kaum ein zweites
Jahrhundert der Kirchengeſchichte: reich an geſundem religiöſen Leben, doch
ebenſo reich an Unglauben, Weltſinn, Gleichgiltigkeit, Verzweiflung; voll
ſtiller Sehnſucht nach einer reineren Form des Chriſtenthums und doch
unfähig zur Verſöhnung der erbitterten kirchlichen und kirchenfeindlichen
Parteien, die immer nur durch das Gefühl der eigenen Schwäche und
durch das gebieteriſche Ruhebedürfniß des bürgerlichen Lebens in Schran-
ken gehalten wurden. Nirgends erſchien das Gewirr dieſer kirchlichen Ge-
genſätze ſo bunt und vielgeſtaltig wie in dem Heimathlande der Refor-
mation, das von jeher gewohnt war, die Fragen des Glaubens mit ſchwe-
rem Ernſt zu behandeln, die Ueberzeugung des Gewiſſens freimüthig aus-
zuſprechen. Die deutſche Nation zerfiel in ehrliche Gläubige und ehrliche
Freidenker; die Zahl der Heuchler blieb hier immer gering.

Da die Durchſchnittsbildung ſtets um einige Schritte hinter dem
Stande der Wiſſenſchaft zurückbleibt, ſo herrſchte in der Maſſe der evan-
geliſchen Geiſtlichkeit und in der gebildeten Laienwelt noch immer jener
bequeme, menſchenfreundliche Rationalismus, der mit ſeinem harten Ver-
ſtande kurzerhand alles „Unvernünftige“ von den Dogmen losſchälte und
in ſeiner Selbſtzufriedenheit gar nicht bemerkte, daß er mit der Schale
auch den Kern des chriſtlichen Glaubens verloren hatte: auch die tief-
ſinnigen Lehren von der Sünde und der Erlöſung, welche dem germaniſchen
Gemüthe allezeit die theuerſten waren. Durch dieſe Heilslehre hatte einſt
das Chriſtenthum zuerſt den Weg gefunden zu den Herzen der Ger-
manen, die allein unter allen Heidenvölkern ſchon an die dereinſtige Wie-
dergeburt der ſündigen Welt glaubten; von dem zerknirſchenden Bewußt-
ſein der eigenen Sünde war Luther ausgegangen, als er die Reinigung
der verweltlichten Kirche unternahm; und wie nachdrücklich hatte noch

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[86/0100] II. 3. Geiſtige Strömungen der erſten Friedensjahre. gepredigt hatte. Als Fouqués Regiment im Frühjahrsfeldzuge 1813 nahe der Landskrone ein Gefecht beſtand, da rief der romantiſche Poet in ſeliger Verzückung: hier ſei es ſchön zu ſterben, im Angeſichte des hei- ligen Berges, auf deſſen Gipfel der Herrgott zuerſt dem Schuſter von Görlitz erſchienen! — Wo waren ſie hin, jene Tage der allmächtigen Aufklärung, da der Gegenſatz der Glaubensbekenntniſſe ganz verbleicht, alles kirchliche Leben durch die weltliche Bildung überwuchert ſchien und der mögliche Unter- gang des Chriſtenthums von Freund und Feind ſchon mit philoſophiſcher Gelaſſenheit beſprochen wurde! Die erſchütternden Erfahrungen des Zeit- alters der Revolution hatten in allen Völkern das ſchlummernde religiöſe Gefühl mächtig aufgeregt; aber mit dem lebendigen Glauben erwachten auch hierarchiſche Beſtrebungen, die man längſt erſtorben wähnte, und die finſteren Leidenſchaften des Glaubenshaſſes, des Fanatismus, des Aberglaubens. Das neue Jahrhundert erwies ſich mit jedem Jahre mehr, im ſcharfen Gegenſatze zu ſeinem Vorgänger, als ein Zeitalter endloſen kirchlichen Unfriedens, ſo zerklüftet und verworren wie kaum ein zweites Jahrhundert der Kirchengeſchichte: reich an geſundem religiöſen Leben, doch ebenſo reich an Unglauben, Weltſinn, Gleichgiltigkeit, Verzweiflung; voll ſtiller Sehnſucht nach einer reineren Form des Chriſtenthums und doch unfähig zur Verſöhnung der erbitterten kirchlichen und kirchenfeindlichen Parteien, die immer nur durch das Gefühl der eigenen Schwäche und durch das gebieteriſche Ruhebedürfniß des bürgerlichen Lebens in Schran- ken gehalten wurden. Nirgends erſchien das Gewirr dieſer kirchlichen Ge- genſätze ſo bunt und vielgeſtaltig wie in dem Heimathlande der Refor- mation, das von jeher gewohnt war, die Fragen des Glaubens mit ſchwe- rem Ernſt zu behandeln, die Ueberzeugung des Gewiſſens freimüthig aus- zuſprechen. Die deutſche Nation zerfiel in ehrliche Gläubige und ehrliche Freidenker; die Zahl der Heuchler blieb hier immer gering. Da die Durchſchnittsbildung ſtets um einige Schritte hinter dem Stande der Wiſſenſchaft zurückbleibt, ſo herrſchte in der Maſſe der evan- geliſchen Geiſtlichkeit und in der gebildeten Laienwelt noch immer jener bequeme, menſchenfreundliche Rationalismus, der mit ſeinem harten Ver- ſtande kurzerhand alles „Unvernünftige“ von den Dogmen losſchälte und in ſeiner Selbſtzufriedenheit gar nicht bemerkte, daß er mit der Schale auch den Kern des chriſtlichen Glaubens verloren hatte: auch die tief- ſinnigen Lehren von der Sünde und der Erlöſung, welche dem germaniſchen Gemüthe allezeit die theuerſten waren. Durch dieſe Heilslehre hatte einſt das Chriſtenthum zuerſt den Weg gefunden zu den Herzen der Ger- manen, die allein unter allen Heidenvölkern ſchon an die dereinſtige Wie- dergeburt der ſündigen Welt glaubten; von dem zerknirſchenden Bewußt- ſein der eigenen Sünde war Luther ausgegangen, als er die Reinigung der verweltlichten Kirche unternahm; und wie nachdrücklich hatte noch

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 2: Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig, 1882, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte02_1882/100>, abgerufen am 24.11.2024.