bürgerliche Wohlstand anwuchs, der weite Vorsprung der glücklicheren Nachbarvölker ließ sich so schnell nicht einholen. Der preußische Staat blieb noch immer die ärmste der Großmächte des Westens, im Wesentlichen ein Ackerbauland, spielte im Welthandel eine bescheidene Rolle, auch nach- dem ihm Friedrich durch die Erwerbung Ostfrieslands den Zugang zur Nordsee eröffnet hatte; den Häfen der Ems wie der Oder fehlte ein reiches gewerbfleißiges Hinterland.
Als ein Reformator wirkte Friedrich nur in jenem Bereiche des inne- ren Staatslebens, das sein Vorgänger nicht verstand: er schuf den neuen preußischen Richterstand, wie sein Vater das moderne deutsche Verwaltungsbeamtenthum gebildet hatte. Er wußte, daß die Rechts- sprechung ein politisches Amt ist, unzertrennlich mit dem Staate ver- wachsen; er erwirkte sich für alle seine Lande die Unabhängigkeit von den Reichsgerichten, verbot Gutachten der Juristenfacultäten einzuholen, stellte ein Justizministerium neben das Generaldirectorium, gab die gesammte Rechtspflege in die Hände eines hierarchisch gegliederten Staatsbeamten- thums, das sich seinen jungen Nachwuchs selbst erzog und die in der untersten Instanz noch fortbestehende Privatgerichtsbarkeit unter strenge Aufsicht nahm. Die unbedingte Selbständigkeit der Gerichte gegenüber der Verwaltung ward feierlich verheißen und, bis auf wenige Fälle einer wohlmeinend willkürlichen Cabinetsjustiz, unverbrüchlich gehalten. Der neue Richterstand bewahrte sich in bescheidener wirthschaftlicher Lage eine ehrenhafte Standesgesinnung, und während an den Gerichten des Reichs Bestechlichkeit und parteiische Gunst ihr Wesen trieben, galt in Preußen auch gegen den Willen des Königs das stolze Wort: il y a des juges a Berlin. Dem Jünger der Aufklärung, dem der Staat das Werk des zweckbewußten Menschenwillens war, drängte sich von selber das Verlangen auf, daß im Staate nicht ein gegebenes und überliefertes, sondern ein gewußtes und gewolltes Recht herrschen müsse; sein Leben lang trug sich Friedrich mit dem Gedanken, die erste umfassende Codification des Rechts, die seit den Zeiten Justinians gewagt worden, durchzuführen. Erst nach seinem Tode kam das Allgemeine Landrecht zu Stande, das deutlich, wie kein anderes Werk der Epoche, den Januskopf der fridericianischen Staats- ansicht erkennen läßt. Das Gesetzbuch wahrt einerseits die überlieferten socialen Unterschiede so sorgsam, daß das gesammte Rechtssystem sich der ständischen Gliederung einfügen muß, dem Adel sogar -- zuwider dem gemeinen Rechte -- ein ständisches Eherecht gewährt wird, und führt andererseits den Gedanken der Souveränität des Staates mit solcher Kühnheit bis in seine letzten Folgerungen, daß mancher Satz schon die Ideen der französischen Revolution vorausnimmt, und Mirabeau meinen konnte, mit diesem Werke eile Preußen dem übrigen Europa um ein Jahrhundert voraus. Zweck des Staates ist das gemeine Wohl, nur um dieses Zweckes willen darf der Staat die natürliche Freiheit seiner Bürger
Das Allgemeine Landrecht.
bürgerliche Wohlſtand anwuchs, der weite Vorſprung der glücklicheren Nachbarvölker ließ ſich ſo ſchnell nicht einholen. Der preußiſche Staat blieb noch immer die ärmſte der Großmächte des Weſtens, im Weſentlichen ein Ackerbauland, ſpielte im Welthandel eine beſcheidene Rolle, auch nach- dem ihm Friedrich durch die Erwerbung Oſtfrieslands den Zugang zur Nordſee eröffnet hatte; den Häfen der Ems wie der Oder fehlte ein reiches gewerbfleißiges Hinterland.
Als ein Reformator wirkte Friedrich nur in jenem Bereiche des inne- ren Staatslebens, das ſein Vorgänger nicht verſtand: er ſchuf den neuen preußiſchen Richterſtand, wie ſein Vater das moderne deutſche Verwaltungsbeamtenthum gebildet hatte. Er wußte, daß die Rechts- ſprechung ein politiſches Amt iſt, unzertrennlich mit dem Staate ver- wachſen; er erwirkte ſich für alle ſeine Lande die Unabhängigkeit von den Reichsgerichten, verbot Gutachten der Juriſtenfacultäten einzuholen, ſtellte ein Juſtizminiſterium neben das Generaldirectorium, gab die geſammte Rechtspflege in die Hände eines hierarchiſch gegliederten Staatsbeamten- thums, das ſich ſeinen jungen Nachwuchs ſelbſt erzog und die in der unterſten Inſtanz noch fortbeſtehende Privatgerichtsbarkeit unter ſtrenge Aufſicht nahm. Die unbedingte Selbſtändigkeit der Gerichte gegenüber der Verwaltung ward feierlich verheißen und, bis auf wenige Fälle einer wohlmeinend willkürlichen Cabinetsjuſtiz, unverbrüchlich gehalten. Der neue Richterſtand bewahrte ſich in beſcheidener wirthſchaftlicher Lage eine ehrenhafte Standesgeſinnung, und während an den Gerichten des Reichs Beſtechlichkeit und parteiiſche Gunſt ihr Weſen trieben, galt in Preußen auch gegen den Willen des Königs das ſtolze Wort: il y a des juges à Berlin. Dem Jünger der Aufklärung, dem der Staat das Werk des zweckbewußten Menſchenwillens war, drängte ſich von ſelber das Verlangen auf, daß im Staate nicht ein gegebenes und überliefertes, ſondern ein gewußtes und gewolltes Recht herrſchen müſſe; ſein Leben lang trug ſich Friedrich mit dem Gedanken, die erſte umfaſſende Codification des Rechts, die ſeit den Zeiten Juſtinians gewagt worden, durchzuführen. Erſt nach ſeinem Tode kam das Allgemeine Landrecht zu Stande, das deutlich, wie kein anderes Werk der Epoche, den Januskopf der fridericianiſchen Staats- anſicht erkennen läßt. Das Geſetzbuch wahrt einerſeits die überlieferten ſocialen Unterſchiede ſo ſorgſam, daß das geſammte Rechtsſyſtem ſich der ſtändiſchen Gliederung einfügen muß, dem Adel ſogar — zuwider dem gemeinen Rechte — ein ſtändiſches Eherecht gewährt wird, und führt andererſeits den Gedanken der Souveränität des Staates mit ſolcher Kühnheit bis in ſeine letzten Folgerungen, daß mancher Satz ſchon die Ideen der franzöſiſchen Revolution vorausnimmt, und Mirabeau meinen konnte, mit dieſem Werke eile Preußen dem übrigen Europa um ein Jahrhundert voraus. Zweck des Staates iſt das gemeine Wohl, nur um dieſes Zweckes willen darf der Staat die natürliche Freiheit ſeiner Bürger
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Das Allgemeine Landrecht.
bürgerliche Wohlſtand anwuchs, der weite Vorſprung der glücklicheren
Nachbarvölker ließ ſich ſo ſchnell nicht einholen. Der preußiſche Staat
blieb noch immer die ärmſte der Großmächte des Weſtens, im Weſentlichen
ein Ackerbauland, ſpielte im Welthandel eine beſcheidene Rolle, auch nach-
dem ihm Friedrich durch die Erwerbung Oſtfrieslands den Zugang zur
Nordſee eröffnet hatte; den Häfen der Ems wie der Oder fehlte ein
reiches gewerbfleißiges Hinterland.
Als ein Reformator wirkte Friedrich nur in jenem Bereiche des inne-
ren Staatslebens, das ſein Vorgänger nicht verſtand: er ſchuf den
neuen preußiſchen Richterſtand, wie ſein Vater das moderne deutſche
Verwaltungsbeamtenthum gebildet hatte. Er wußte, daß die Rechts-
ſprechung ein politiſches Amt iſt, unzertrennlich mit dem Staate ver-
wachſen; er erwirkte ſich für alle ſeine Lande die Unabhängigkeit von den
Reichsgerichten, verbot Gutachten der Juriſtenfacultäten einzuholen, ſtellte
ein Juſtizminiſterium neben das Generaldirectorium, gab die geſammte
Rechtspflege in die Hände eines hierarchiſch gegliederten Staatsbeamten-
thums, das ſich ſeinen jungen Nachwuchs ſelbſt erzog und die in der
unterſten Inſtanz noch fortbeſtehende Privatgerichtsbarkeit unter ſtrenge
Aufſicht nahm. Die unbedingte Selbſtändigkeit der Gerichte gegenüber
der Verwaltung ward feierlich verheißen und, bis auf wenige Fälle einer
wohlmeinend willkürlichen Cabinetsjuſtiz, unverbrüchlich gehalten. Der
neue Richterſtand bewahrte ſich in beſcheidener wirthſchaftlicher Lage eine
ehrenhafte Standesgeſinnung, und während an den Gerichten des Reichs
Beſtechlichkeit und parteiiſche Gunſt ihr Weſen trieben, galt in Preußen
auch gegen den Willen des Königs das ſtolze Wort: il y a des juges à
Berlin. Dem Jünger der Aufklärung, dem der Staat das Werk des
zweckbewußten Menſchenwillens war, drängte ſich von ſelber das Verlangen
auf, daß im Staate nicht ein gegebenes und überliefertes, ſondern ein
gewußtes und gewolltes Recht herrſchen müſſe; ſein Leben lang trug ſich
Friedrich mit dem Gedanken, die erſte umfaſſende Codification des Rechts,
die ſeit den Zeiten Juſtinians gewagt worden, durchzuführen. Erſt nach
ſeinem Tode kam das Allgemeine Landrecht zu Stande, das deutlich, wie
kein anderes Werk der Epoche, den Januskopf der fridericianiſchen Staats-
anſicht erkennen läßt. Das Geſetzbuch wahrt einerſeits die überlieferten
ſocialen Unterſchiede ſo ſorgſam, daß das geſammte Rechtsſyſtem ſich der
ſtändiſchen Gliederung einfügen muß, dem Adel ſogar — zuwider dem
gemeinen Rechte — ein ſtändiſches Eherecht gewährt wird, und führt
andererſeits den Gedanken der Souveränität des Staates mit ſolcher
Kühnheit bis in ſeine letzten Folgerungen, daß mancher Satz ſchon die
Ideen der franzöſiſchen Revolution vorausnimmt, und Mirabeau meinen
konnte, mit dieſem Werke eile Preußen dem übrigen Europa um ein
Jahrhundert voraus. Zweck des Staates iſt das gemeine Wohl, nur um
dieſes Zweckes willen darf der Staat die natürliche Freiheit ſeiner Bürger
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/93>, abgerufen am 24.11.2024.
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