Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.Die heilige Allianz. Preußen und Rußland, so schrieb der Czar, betrachten sich als verbundendurch die Bande einer wahrhaften und unauflöslichen Brüderlichkeit, als Familienväter ihren Unterthanen gegenüber; sie sehen sich an als von der Vorsehung beauftragt drei Zweige einer Familie zu regieren, und erkennen als den einzigen Souverain der einen christlichen Nation allein "Gott, unsern göttlichen Erlöser Jesus Christus, das Wort des Höchsten, das Wort des Lebens". Alle Staaten, welche sich zu diesen Heilswahr- heiten bekennen, sind zum Eintritt in den heiligen Bund brüderlich ein- geladen *). Jene räthselhafte Schicksalsgunst, welche es immer so fügte, daß die Nur drei hielten sich zurück: jene beiden alten Feinde Rußlands *) Eine Andeutung in einer Parlamentsrede Lord Liverpools hat Anlaß gegeben zu der häufig wiederholten Behauptung, daß die Acte der heiligen Allianz einige geheime Artikel enthalten hätte. Obgleich die Unhaltbarkeit dieser Annahme sich schon aus inneren Gründen ergiebt, so sei hier doch zum Ueberfluß noch versichert, daß die im Berliner Geh. Staatsarchiv verwahrte Original-Urkunde nichts weiter als den allbekannten Text enthält. Treitschke, Deutsche Geschichte. I. 50
Die heilige Allianz. Preußen und Rußland, ſo ſchrieb der Czar, betrachten ſich als verbundendurch die Bande einer wahrhaften und unauflöslichen Brüderlichkeit, als Familienväter ihren Unterthanen gegenüber; ſie ſehen ſich an als von der Vorſehung beauftragt drei Zweige einer Familie zu regieren, und erkennen als den einzigen Souverain der einen chriſtlichen Nation allein „Gott, unſern göttlichen Erlöſer Jeſus Chriſtus, das Wort des Höchſten, das Wort des Lebens“. Alle Staaten, welche ſich zu dieſen Heilswahr- heiten bekennen, ſind zum Eintritt in den heiligen Bund brüderlich ein- geladen *). Jene räthſelhafte Schickſalsgunſt, welche es immer ſo fügte, daß die Nur drei hielten ſich zurück: jene beiden alten Feinde Rußlands *) Eine Andeutung in einer Parlamentsrede Lord Liverpools hat Anlaß gegeben zu der häufig wiederholten Behauptung, daß die Acte der heiligen Allianz einige geheime Artikel enthalten hätte. Obgleich die Unhaltbarkeit dieſer Annahme ſich ſchon aus inneren Gründen ergiebt, ſo ſei hier doch zum Ueberfluß noch verſichert, daß die im Berliner Geh. Staatsarchiv verwahrte Original-Urkunde nichts weiter als den allbekannten Text enthält. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 50
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Die heilige Allianz.
Preußen und Rußland, ſo ſchrieb der Czar, betrachten ſich als verbunden
durch die Bande einer wahrhaften und unauflöslichen Brüderlichkeit, als
Familienväter ihren Unterthanen gegenüber; ſie ſehen ſich an als von
der Vorſehung beauftragt drei Zweige einer Familie zu regieren, und
erkennen als den einzigen Souverain der einen chriſtlichen Nation allein
„Gott, unſern göttlichen Erlöſer Jeſus Chriſtus, das Wort des Höchſten,
das Wort des Lebens“. Alle Staaten, welche ſich zu dieſen Heilswahr-
heiten bekennen, ſind zum Eintritt in den heiligen Bund brüderlich ein-
geladen *).
Jene räthſelhafte Schickſalsgunſt, welche es immer ſo fügte, daß die
Gefühlswallungen Alexanders mit ſeinem Vortheile zuſammentrafen,
waltete auch über dieſem Erguſſe ſeiner heiligſten Empfindungen. Alle
Mächte Europas konnten ſeiner brüderlichen Einladung folgen, nur jene
beiden nicht, welche der ruſſiſchen Politik von Altersher als unverſöhn-
liche Feinde galten. Der Papſt mußte fern bleiben, weil der Stellver-
treter Chriſti nur die civitas Dei unter der Herrſchaft des gekrönten
Prieſters anerkennen durfte. Vollends der ungläubige Sultan war, wie
der Czar unverhohlen ausſprach, für immer aus dem großen Bruderbunde
Europas ausgeſchloſſen. Dem verſtändigen Sinne Friedrich Wilhelms
erſchienen die orakelhaften Sätze, die ihm der Czar mit feierlichem
Ernſt vorlegte, ſehr befremdlich; aber warum dem alten Freunde eine
Gefälligkeit verſagen, welche dem preußiſchen Staate durchaus keine Ver-
pflichtung auferlegte? Bereitwillig ſchrieb der König, wie ſein Freund
wünſchte, das Actenſtück mit eigenen Händen ab (26. September). Schwerer
entſchloß ſich Kaiſer Franz; er ſah voraus, wie peinlich dieſer heilige
Bund den treuen Freund in Konſtantinopel berühren würde. Doch da
Metternich die fromme Urkunde lächelnd für leeres Geſchwätz erklärte, ſo
trat auch Oeſterreich noch am ſelben Tage bei. Nach und nach haben
ſich dann ſämmtliche Staaten Europas dem heiligen Bunde angeſchloſſen,
die meiſten aus Gefälligkeit für den Czaren, einige auch weil die frommen
Worte vom väterlichen Fürſtenregiment den hochconſervativen Neigungen
des anbrechenden Reſtaurationszeitalters entſprachen.
Nur drei hielten ſich zurück: jene beiden alten Feinde Rußlands
— und England. Während der Prinzregent als Beherrſcher von Hannover
willig unterzeichnete, erklärte Caſtlereagh in einer biſſigen Rede: das
Parlament beſtehe aus praktiſchen Staatsmännern und könne daher wohl
einen Staatsvertrag genehmigen, doch nicht eine Erklärung von Grund-
*) Eine Andeutung in einer Parlamentsrede Lord Liverpools hat Anlaß gegeben
zu der häufig wiederholten Behauptung, daß die Acte der heiligen Allianz einige geheime
Artikel enthalten hätte. Obgleich die Unhaltbarkeit dieſer Annahme ſich ſchon aus inneren
Gründen ergiebt, ſo ſei hier doch zum Ueberfluß noch verſichert, daß die im Berliner
Geh. Staatsarchiv verwahrte Original-Urkunde nichts weiter als den allbekannten Text
enthält.
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