temporaires lautete der Kunstausdruck); damit seinen jedoch einige kleine Gebietsabtretungen wohl vereinbar. Also Landau an Deutschland, Sa- voyen an Piemont, einige Grenzplätze an die Niederlande, vielleicht auch Hüningen an die Schweiz; für Preußen selber gar nichts. Auch diese Denkschrift triefte wieder von Lehren der Weisheit und Tugend: "das doppelte Ziel der Beruhigung Europas und Frankreichs kann nur erreicht werden, wenn die Verbündeten bei den Friedensunterhandlungen dieselbe Reinheit der Absichten, dieselbe Uneigennützigkeit, denselben Geist der Mäßi- gung bewahren, welche bisher die unwiderstehliche Kraft des europäischen Bundes gebildet haben." *) Trotz Alledem that der Czar jetzt doch selber was er vor zwei Tagen noch für einen Verrath an Religion und Sitt- lichkeit erklärt hatte, er gab die mit so viel heiliger Entrüstung verfochtene Unantastbarkeit des französischen Bodens auf und bahnte damit den Weg zur Verständigung. In einem vertraulichen Begleitbriefe beschwor Nessel- rode den Staatskanzler, "diese traurige Angelegenheit rasch zu beendigen. Dies werde dem Czaren das liebste Geburtstagsgeschenk sein. Nichts ist Ihm und uns Allen peinlicher als diese Meinungsverschiedenheit zwischen zwei Höfen, deren Beziehungen so innig sind." **)
Mit großer Gewandtheit benutzte Metternich sofort die Gunst des Augenblicks, um als Vermittler zwischen die Streitenden zu treten. In einer Denkschrift vom 8. September erkannte er die gemäßigte und ver- söhnliche Haltung aller Höfe dankbar an und fand es sehr erklärlich, daß gleichwohl in Folge der Verschiedenheit der geographischen Lage und der nationalen Stimmungen ihre Ansichten nicht gänzlich übereinstimmten. Oesterreich wünsche eine möglichst große Sicherheit aber möglichst geringe Opfer für Frankreich und schlage daher "ein gemischtes System von dauern- den und zeitlichen Bürgschaften" vor, also vor Allem die Zurückführung Frankreichs auf den Besitzstand von 1790. "Die Grenzen von 1790" -- damit war sehr glücklich eines jener handlichen Schlagwörter gefunden, wie sie die noch ganz französisch gebildete Diplomatie jener Tage liebte. Die weiteren Vorschläge der Denkschrift paßten freilich zu diesem wohl- klingenden Worte wie die Faust auf das Auge; sie zeigten deutlich, daß Metternich nicht ehrlich vermittelte, sondern die englisch-russische Partei ergriff. Von jenem Viertel des Elsasses, das im Jahre 1790 noch deutsch gewesen, war gar nicht mehr die Rede; vielmehr verlangte der Oester- reicher außer Landau und jenen niederländischen Grenzplätzen, welche der Czar bereits zugestanden hatte, ausdrücklich nur noch Saarlouis, und selbst diesen Platz nicht unbedingt, da ja Frankreich zur Erbauung einer anderen Saarfestung Gelder an Preußen zahlen könne. Dazu endlich
*) Nesselrode an Hardenberg über Castlereaghs Denkschrift vom 2. Sept. (7. Sept. 1815).
**) Nesselrode an Hardenberg, 7. Sept. 1815.
II. 2. Belle Alliance.
temporaires lautete der Kunſtausdruck); damit ſeinen jedoch einige kleine Gebietsabtretungen wohl vereinbar. Alſo Landau an Deutſchland, Sa- voyen an Piemont, einige Grenzplätze an die Niederlande, vielleicht auch Hüningen an die Schweiz; für Preußen ſelber gar nichts. Auch dieſe Denkſchrift triefte wieder von Lehren der Weisheit und Tugend: „das doppelte Ziel der Beruhigung Europas und Frankreichs kann nur erreicht werden, wenn die Verbündeten bei den Friedensunterhandlungen dieſelbe Reinheit der Abſichten, dieſelbe Uneigennützigkeit, denſelben Geiſt der Mäßi- gung bewahren, welche bisher die unwiderſtehliche Kraft des europäiſchen Bundes gebildet haben.“ *) Trotz Alledem that der Czar jetzt doch ſelber was er vor zwei Tagen noch für einen Verrath an Religion und Sitt- lichkeit erklärt hatte, er gab die mit ſo viel heiliger Entrüſtung verfochtene Unantaſtbarkeit des franzöſiſchen Bodens auf und bahnte damit den Weg zur Verſtändigung. In einem vertraulichen Begleitbriefe beſchwor Neſſel- rode den Staatskanzler, „dieſe traurige Angelegenheit raſch zu beendigen. Dies werde dem Czaren das liebſte Geburtstagsgeſchenk ſein. Nichts iſt Ihm und uns Allen peinlicher als dieſe Meinungsverſchiedenheit zwiſchen zwei Höfen, deren Beziehungen ſo innig ſind.“ **)
Mit großer Gewandtheit benutzte Metternich ſofort die Gunſt des Augenblicks, um als Vermittler zwiſchen die Streitenden zu treten. In einer Denkſchrift vom 8. September erkannte er die gemäßigte und ver- ſöhnliche Haltung aller Höfe dankbar an und fand es ſehr erklärlich, daß gleichwohl in Folge der Verſchiedenheit der geographiſchen Lage und der nationalen Stimmungen ihre Anſichten nicht gänzlich übereinſtimmten. Oeſterreich wünſche eine möglichſt große Sicherheit aber möglichſt geringe Opfer für Frankreich und ſchlage daher „ein gemiſchtes Syſtem von dauern- den und zeitlichen Bürgſchaften“ vor, alſo vor Allem die Zurückführung Frankreichs auf den Beſitzſtand von 1790. „Die Grenzen von 1790“ — damit war ſehr glücklich eines jener handlichen Schlagwörter gefunden, wie ſie die noch ganz franzöſiſch gebildete Diplomatie jener Tage liebte. Die weiteren Vorſchläge der Denkſchrift paßten freilich zu dieſem wohl- klingenden Worte wie die Fauſt auf das Auge; ſie zeigten deutlich, daß Metternich nicht ehrlich vermittelte, ſondern die engliſch-ruſſiſche Partei ergriff. Von jenem Viertel des Elſaſſes, das im Jahre 1790 noch deutſch geweſen, war gar nicht mehr die Rede; vielmehr verlangte der Oeſter- reicher außer Landau und jenen niederländiſchen Grenzplätzen, welche der Czar bereits zugeſtanden hatte, ausdrücklich nur noch Saarlouis, und ſelbſt dieſen Platz nicht unbedingt, da ja Frankreich zur Erbauung einer anderen Saarfeſtung Gelder an Preußen zahlen könne. Dazu endlich
*) Neſſelrode an Hardenberg über Caſtlereaghs Denkſchrift vom 2. Sept. (7. Sept. 1815).
**) Neſſelrode an Hardenberg, 7. Sept. 1815.
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II. 2. Belle Alliance.
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Gebietsabtretungen wohl vereinbar. Alſo Landau an Deutſchland, Sa-
voyen an Piemont, einige Grenzplätze an die Niederlande, vielleicht auch
Hüningen an die Schweiz; für Preußen ſelber gar nichts. Auch dieſe
Denkſchrift triefte wieder von Lehren der Weisheit und Tugend: „das
doppelte Ziel der Beruhigung Europas und Frankreichs kann nur erreicht
werden, wenn die Verbündeten bei den Friedensunterhandlungen dieſelbe
Reinheit der Abſichten, dieſelbe Uneigennützigkeit, denſelben Geiſt der Mäßi-
gung bewahren, welche bisher die unwiderſtehliche Kraft des europäiſchen
Bundes gebildet haben.“ *) Trotz Alledem that der Czar jetzt doch ſelber
was er vor zwei Tagen noch für einen Verrath an Religion und Sitt-
lichkeit erklärt hatte, er gab die mit ſo viel heiliger Entrüſtung verfochtene
Unantaſtbarkeit des franzöſiſchen Bodens auf und bahnte damit den Weg
zur Verſtändigung. In einem vertraulichen Begleitbriefe beſchwor Neſſel-
rode den Staatskanzler, „dieſe traurige Angelegenheit raſch zu beendigen.
Dies werde dem Czaren das liebſte Geburtstagsgeſchenk ſein. Nichts iſt
Ihm und uns Allen peinlicher als dieſe Meinungsverſchiedenheit zwiſchen
zwei Höfen, deren Beziehungen ſo innig ſind.“ **)
Mit großer Gewandtheit benutzte Metternich ſofort die Gunſt des
Augenblicks, um als Vermittler zwiſchen die Streitenden zu treten. In
einer Denkſchrift vom 8. September erkannte er die gemäßigte und ver-
ſöhnliche Haltung aller Höfe dankbar an und fand es ſehr erklärlich, daß
gleichwohl in Folge der Verſchiedenheit der geographiſchen Lage und der
nationalen Stimmungen ihre Anſichten nicht gänzlich übereinſtimmten.
Oeſterreich wünſche eine möglichſt große Sicherheit aber möglichſt geringe
Opfer für Frankreich und ſchlage daher „ein gemiſchtes Syſtem von dauern-
den und zeitlichen Bürgſchaften“ vor, alſo vor Allem die Zurückführung
Frankreichs auf den Beſitzſtand von 1790. „Die Grenzen von 1790“ —
damit war ſehr glücklich eines jener handlichen Schlagwörter gefunden,
wie ſie die noch ganz franzöſiſch gebildete Diplomatie jener Tage liebte.
Die weiteren Vorſchläge der Denkſchrift paßten freilich zu dieſem wohl-
klingenden Worte wie die Fauſt auf das Auge; ſie zeigten deutlich, daß
Metternich nicht ehrlich vermittelte, ſondern die engliſch-ruſſiſche Partei
ergriff. Von jenem Viertel des Elſaſſes, das im Jahre 1790 noch deutſch
geweſen, war gar nicht mehr die Rede; vielmehr verlangte der Oeſter-
reicher außer Landau und jenen niederländiſchen Grenzplätzen, welche der
Czar bereits zugeſtanden hatte, ausdrücklich nur noch Saarlouis, und
ſelbſt dieſen Platz nicht unbedingt, da ja Frankreich zur Erbauung einer
anderen Saarfeſtung Gelder an Preußen zahlen könne. Dazu endlich
*) Neſſelrode an Hardenberg über Caſtlereaghs Denkſchrift vom 2. Sept. (7. Sept.
1815).
**) Neſſelrode an Hardenberg, 7. Sept. 1815.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 780. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/796>, abgerufen am 16.02.2025.
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