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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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II. 2. Belle Alliance.
ders liebebedürftiges Herz sehnte sich nach süßerer Tröstung, als der dürre
Rationalismus seines Lehrers Laharpe sie bieten konnte. In Paris empfing
den Czaren sofort ein Kreis christlich begeisterter Damen, huldigte dem
neuen Weltheiland, der das Reich des Gottesfriedens begründen und,
natürlich, nach dem Vorbilde des Erlösers Alles vergeben und vergessen
sollte. Ebenso natürlich, daß diese großmüthigen Absichten wieder genau
zusammenfielen mit dem vermeintlichen Interesse der russischen Politik.
Obgleich Alexander auf seine Weise wirklich ein treuer Bundesgenosse
seines westlichen Nachbarn war, so wünschte er doch keineswegs daß Preußen
stark genug würde um der russischen Freundschaft entrathen zu können;
darum sollte Deutschland an seiner Westgrenze verwundbar bleiben. Noch
lebhafter als im vorigen Jahre trat der Czar heuer für die Franzosen
ein, blieb für Steins Mahnungen ganz unzugänglich. Metternich fand sich
ebenfalls schnell in die neue durch Wellingtons Rücksichtslosigkeit geschaffene
Lage; er ließ den Gedanken an die Einsetzung Napoleons II., womit Gentz
eine Zeit lang gespielt hatte, sofort fallen, und kam den Bourbonen freund-
lich entgegen. Da er nach wie vor der Meinung blieb, daß Oesterreich
die gefährliche Position am Oberrheine keinenfalls wieder übernehmen
dürfe, so wünschte er einen schleunigen, milden Friedensschluß. Was
fragte der Wiener Hof nach den gerechten Ansprüchen der deutschen Nation?

Diese Hoffnungen der Deutschen fanden nirgends wärmeren Aus-
druck als in den Briefen der preußischen Generale. Schon vier Tage
nach der Entscheidungsschlacht schrieb Gneisenau an den Staatskanzler:
"wehe denen und Schande ihnen, wenn diese einzige Gelegenheit nicht
ergriffen würde um Belgien, Preußen, Deutschland zu sichern für ewige
Zeiten!" Er forderte für Belgien einige feste Plätze im französischen Flan-
dern, für Preußen Mainz und Luxemburg, desgleichen Nassau und Ans-
bach-Baireuth; Baiern sollte dafür in Elsaß-Lothringen entschädigt werden,
das Haus Nassau im wälschen Luxemburg. "Welche Sprache jetzt Preußen
führen kann und muß, wissen Sie besser als ich. So hoch hat noch nie
Preußen gestanden!" In ähnlichem Sinne bat Blücher den König, "die
Diplomatiker anzuweisen, daß sie nicht wieder verlieren was der Soldat
mit seinem Blute errungen hat." Der Alte lebte, wie fast die ge-
sammte deutsche Nation, des naiven Glaubens, daß die fremden Mächte
den Preußen den so redlich verdienten Siegespreis gar nicht versagen
könnten, wenn nur unsere Diplomaten fest blieben. Der König war mit
den Wünschen seiner Generale persönlich durchaus einverstanden und
beauftragte Gneisenau, neben Hardenberg und Humboldt als Bevollmäch-
tigter an dem Friedenscongresse theilzunehmen; dem feurigen Helden that
es recht in der Seele wohl, daß derselbe Talleyrand, der in Wien den Ver-
nichtungskrieg gegen Preußen geschürt hatte, ihm jetzt als demüthiger Unter-
händler für die Besiegten gegenübertreten mußte. Aber Friedrich Wilhelms
Nüchternheit erkannte auch, wie wenig in diesem harten Machtkampfe auf

II. 2. Belle Alliance.
ders liebebedürftiges Herz ſehnte ſich nach ſüßerer Tröſtung, als der dürre
Rationalismus ſeines Lehrers Laharpe ſie bieten konnte. In Paris empfing
den Czaren ſofort ein Kreis chriſtlich begeiſterter Damen, huldigte dem
neuen Weltheiland, der das Reich des Gottesfriedens begründen und,
natürlich, nach dem Vorbilde des Erlöſers Alles vergeben und vergeſſen
ſollte. Ebenſo natürlich, daß dieſe großmüthigen Abſichten wieder genau
zuſammenfielen mit dem vermeintlichen Intereſſe der ruſſiſchen Politik.
Obgleich Alexander auf ſeine Weiſe wirklich ein treuer Bundesgenoſſe
ſeines weſtlichen Nachbarn war, ſo wünſchte er doch keineswegs daß Preußen
ſtark genug würde um der ruſſiſchen Freundſchaft entrathen zu können;
darum ſollte Deutſchland an ſeiner Weſtgrenze verwundbar bleiben. Noch
lebhafter als im vorigen Jahre trat der Czar heuer für die Franzoſen
ein, blieb für Steins Mahnungen ganz unzugänglich. Metternich fand ſich
ebenfalls ſchnell in die neue durch Wellingtons Rückſichtsloſigkeit geſchaffene
Lage; er ließ den Gedanken an die Einſetzung Napoleons II., womit Gentz
eine Zeit lang geſpielt hatte, ſofort fallen, und kam den Bourbonen freund-
lich entgegen. Da er nach wie vor der Meinung blieb, daß Oeſterreich
die gefährliche Poſition am Oberrheine keinenfalls wieder übernehmen
dürfe, ſo wünſchte er einen ſchleunigen, milden Friedensſchluß. Was
fragte der Wiener Hof nach den gerechten Anſprüchen der deutſchen Nation?

Dieſe Hoffnungen der Deutſchen fanden nirgends wärmeren Aus-
druck als in den Briefen der preußiſchen Generale. Schon vier Tage
nach der Entſcheidungsſchlacht ſchrieb Gneiſenau an den Staatskanzler:
„wehe denen und Schande ihnen, wenn dieſe einzige Gelegenheit nicht
ergriffen würde um Belgien, Preußen, Deutſchland zu ſichern für ewige
Zeiten!“ Er forderte für Belgien einige feſte Plätze im franzöſiſchen Flan-
dern, für Preußen Mainz und Luxemburg, desgleichen Naſſau und Ans-
bach-Baireuth; Baiern ſollte dafür in Elſaß-Lothringen entſchädigt werden,
das Haus Naſſau im wälſchen Luxemburg. „Welche Sprache jetzt Preußen
führen kann und muß, wiſſen Sie beſſer als ich. So hoch hat noch nie
Preußen geſtanden!“ In ähnlichem Sinne bat Blücher den König, „die
Diplomatiker anzuweiſen, daß ſie nicht wieder verlieren was der Soldat
mit ſeinem Blute errungen hat.“ Der Alte lebte, wie faſt die ge-
ſammte deutſche Nation, des naiven Glaubens, daß die fremden Mächte
den Preußen den ſo redlich verdienten Siegespreis gar nicht verſagen
könnten, wenn nur unſere Diplomaten feſt blieben. Der König war mit
den Wünſchen ſeiner Generale perſönlich durchaus einverſtanden und
beauftragte Gneiſenau, neben Hardenberg und Humboldt als Bevollmäch-
tigter an dem Friedenscongreſſe theilzunehmen; dem feurigen Helden that
es recht in der Seele wohl, daß derſelbe Talleyrand, der in Wien den Ver-
nichtungskrieg gegen Preußen geſchürt hatte, ihm jetzt als demüthiger Unter-
händler für die Beſiegten gegenübertreten mußte. Aber Friedrich Wilhelms
Nüchternheit erkannte auch, wie wenig in dieſem harten Machtkampfe auf

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[768/0784] II. 2. Belle Alliance. ders liebebedürftiges Herz ſehnte ſich nach ſüßerer Tröſtung, als der dürre Rationalismus ſeines Lehrers Laharpe ſie bieten konnte. In Paris empfing den Czaren ſofort ein Kreis chriſtlich begeiſterter Damen, huldigte dem neuen Weltheiland, der das Reich des Gottesfriedens begründen und, natürlich, nach dem Vorbilde des Erlöſers Alles vergeben und vergeſſen ſollte. Ebenſo natürlich, daß dieſe großmüthigen Abſichten wieder genau zuſammenfielen mit dem vermeintlichen Intereſſe der ruſſiſchen Politik. Obgleich Alexander auf ſeine Weiſe wirklich ein treuer Bundesgenoſſe ſeines weſtlichen Nachbarn war, ſo wünſchte er doch keineswegs daß Preußen ſtark genug würde um der ruſſiſchen Freundſchaft entrathen zu können; darum ſollte Deutſchland an ſeiner Weſtgrenze verwundbar bleiben. Noch lebhafter als im vorigen Jahre trat der Czar heuer für die Franzoſen ein, blieb für Steins Mahnungen ganz unzugänglich. Metternich fand ſich ebenfalls ſchnell in die neue durch Wellingtons Rückſichtsloſigkeit geſchaffene Lage; er ließ den Gedanken an die Einſetzung Napoleons II., womit Gentz eine Zeit lang geſpielt hatte, ſofort fallen, und kam den Bourbonen freund- lich entgegen. Da er nach wie vor der Meinung blieb, daß Oeſterreich die gefährliche Poſition am Oberrheine keinenfalls wieder übernehmen dürfe, ſo wünſchte er einen ſchleunigen, milden Friedensſchluß. Was fragte der Wiener Hof nach den gerechten Anſprüchen der deutſchen Nation? Dieſe Hoffnungen der Deutſchen fanden nirgends wärmeren Aus- druck als in den Briefen der preußiſchen Generale. Schon vier Tage nach der Entſcheidungsſchlacht ſchrieb Gneiſenau an den Staatskanzler: „wehe denen und Schande ihnen, wenn dieſe einzige Gelegenheit nicht ergriffen würde um Belgien, Preußen, Deutſchland zu ſichern für ewige Zeiten!“ Er forderte für Belgien einige feſte Plätze im franzöſiſchen Flan- dern, für Preußen Mainz und Luxemburg, desgleichen Naſſau und Ans- bach-Baireuth; Baiern ſollte dafür in Elſaß-Lothringen entſchädigt werden, das Haus Naſſau im wälſchen Luxemburg. „Welche Sprache jetzt Preußen führen kann und muß, wiſſen Sie beſſer als ich. So hoch hat noch nie Preußen geſtanden!“ In ähnlichem Sinne bat Blücher den König, „die Diplomatiker anzuweiſen, daß ſie nicht wieder verlieren was der Soldat mit ſeinem Blute errungen hat.“ Der Alte lebte, wie faſt die ge- ſammte deutſche Nation, des naiven Glaubens, daß die fremden Mächte den Preußen den ſo redlich verdienten Siegespreis gar nicht verſagen könnten, wenn nur unſere Diplomaten feſt blieben. Der König war mit den Wünſchen ſeiner Generale perſönlich durchaus einverſtanden und beauftragte Gneiſenau, neben Hardenberg und Humboldt als Bevollmäch- tigter an dem Friedenscongreſſe theilzunehmen; dem feurigen Helden that es recht in der Seele wohl, daß derſelbe Talleyrand, der in Wien den Ver- nichtungskrieg gegen Preußen geſchürt hatte, ihm jetzt als demüthiger Unter- händler für die Beſiegten gegenübertreten mußte. Aber Friedrich Wilhelms Nüchternheit erkannte auch, wie wenig in dieſem harten Machtkampfe auf

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 768. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/784>, abgerufen am 25.11.2024.