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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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II. 2. Belle Alliance.
stark besetzte Positionen: vor der Rechten das Schloß Goumont inmitten
der alten Bäume seines Parkes, von hohen Mauern umschlossen; vor
dem Centrum an der Landstraße das Gehöfte La Haye Sainte; vor dem
äußersten linken Flügel die weißen Häusergruppen von Papelotte und La
Haye. Die Straße fällt südlich von Mont St. Jean sanft ab, führt
dann völlig eben durch offene Felder und steigt eine starke halbe Stunde
weiter südlich, nahe bei dem Pachthofe La Belle Alliance wieder zu einem
anderen niederen Höhenzuge empor, so daß das Schlachtfeld eine weite,
mäßig eingetiefte Mulde bildet, die allen Waffen den freiesten Spielraum
gewährt.

Auf diesen Höhen bei Belle Alliance stellte Napoleon sein Heer auf,
Reille zur Linken, Erlon zur Rechten der Straße, dahinter bei Rossomme
die Reserve; sein Plan war einfach durch einen oder mehrere Frontal-
angriffe die Linien der Engländer zu durchbrechen, wo möglich an der
schwächsten Stelle, auf ihrem linken Flügel. Da die unsicheren Feuer-
waffen jener Zeit dem Angreifer erlaubten mit ungebrochener Kraft nahe
an den Vertheidiger heranzugelangen, so hoffte der Imperator durch
ungeheuere Massenschläge den zähen Gegner niederzuringen. Seine
Kriegsweise war während der letzten Jahre immer gewaltsamer geworden;
heute vollends, in der fieberischen Leidenschaft des verzweifelten Spielers
zeigte er die ganze Wildheit des Jacobiners, ballte viele Tausende seiner
Reiter, ganze Divisionen des Fußvolks zu einer einzigen Masse zusammen,
damit sie wie die Phalangen Alexanders mit ihrem Elephantentritt Alles
zermalmten. So begann die Schlacht -- ein beständiges Vordringen und
Zurückfluthen der Angreifer gleich der Brandung am steilen Strande --
bis dann das Erscheinen der Preußen in Napoleons Rücken und rechter
Flanke den Schlachtplan des Imperators völlig umstieß. Der Kampf
verlief wie eine planvoll gebaute Tragödie: zu Anfang eine einfache Ver-
wicklung, dann gewaltige Spannung und Steigerung, zuletzt das Herein-
brechen des Alles zermalmenden Schicksals; unter allen Schlachten der
modernen Geschichte zeigt wohl nur die von Königgrätz in gleichem Maße
den Charakter eines vollendeten Kunstwerks. Der letzte Ausgang hinter-
ließ in der Welt darum den Eindruck einer überzeugenden, unabwend-
baren Nothwendigkeit, weil ein wunderbares Geschick jeder der drei Na-
tionen und jedem der Feldherren genau die Rolle zugewiesen hatte,
welche der eigensten Kraft ihres Charakters entsprach: die Briten bewährten
in der Vertheidigung ihre kaltblütige, eiserne Ausdauer, die Franzosen
als Angreifer ihren ritterlichen, unbändigen Muth, die Preußen endlich
die gleiche stürmische Verwegenheit im Angriff und dazu, was am schwersten
wiegt, die Selbstverleugnung des begeisterten Willens.

Napoleon rechnete mit Sicherheit auf einen raschen Sieg, da er die
Preußen fern im Südosten bei Namur wähnte. Seine Armee zählte
über 72,000 Mann, war dem Heere Wellingtons namentlich durch ihre

II. 2. Belle Alliance.
ſtark beſetzte Poſitionen: vor der Rechten das Schloß Goumont inmitten
der alten Bäume ſeines Parkes, von hohen Mauern umſchloſſen; vor
dem Centrum an der Landſtraße das Gehöfte La Haye Sainte; vor dem
äußerſten linken Flügel die weißen Häuſergruppen von Papelotte und La
Haye. Die Straße fällt ſüdlich von Mont St. Jean ſanft ab, führt
dann völlig eben durch offene Felder und ſteigt eine ſtarke halbe Stunde
weiter ſüdlich, nahe bei dem Pachthofe La Belle Alliance wieder zu einem
anderen niederen Höhenzuge empor, ſo daß das Schlachtfeld eine weite,
mäßig eingetiefte Mulde bildet, die allen Waffen den freieſten Spielraum
gewährt.

Auf dieſen Höhen bei Belle Alliance ſtellte Napoleon ſein Heer auf,
Reille zur Linken, Erlon zur Rechten der Straße, dahinter bei Roſſomme
die Reſerve; ſein Plan war einfach durch einen oder mehrere Frontal-
angriffe die Linien der Engländer zu durchbrechen, wo möglich an der
ſchwächſten Stelle, auf ihrem linken Flügel. Da die unſicheren Feuer-
waffen jener Zeit dem Angreifer erlaubten mit ungebrochener Kraft nahe
an den Vertheidiger heranzugelangen, ſo hoffte der Imperator durch
ungeheuere Maſſenſchläge den zähen Gegner niederzuringen. Seine
Kriegsweiſe war während der letzten Jahre immer gewaltſamer geworden;
heute vollends, in der fieberiſchen Leidenſchaft des verzweifelten Spielers
zeigte er die ganze Wildheit des Jacobiners, ballte viele Tauſende ſeiner
Reiter, ganze Diviſionen des Fußvolks zu einer einzigen Maſſe zuſammen,
damit ſie wie die Phalangen Alexanders mit ihrem Elephantentritt Alles
zermalmten. So begann die Schlacht — ein beſtändiges Vordringen und
Zurückfluthen der Angreifer gleich der Brandung am ſteilen Strande —
bis dann das Erſcheinen der Preußen in Napoleons Rücken und rechter
Flanke den Schlachtplan des Imperators völlig umſtieß. Der Kampf
verlief wie eine planvoll gebaute Tragödie: zu Anfang eine einfache Ver-
wicklung, dann gewaltige Spannung und Steigerung, zuletzt das Herein-
brechen des Alles zermalmenden Schickſals; unter allen Schlachten der
modernen Geſchichte zeigt wohl nur die von Königgrätz in gleichem Maße
den Charakter eines vollendeten Kunſtwerks. Der letzte Ausgang hinter-
ließ in der Welt darum den Eindruck einer überzeugenden, unabwend-
baren Nothwendigkeit, weil ein wunderbares Geſchick jeder der drei Na-
tionen und jedem der Feldherren genau die Rolle zugewieſen hatte,
welche der eigenſten Kraft ihres Charakters entſprach: die Briten bewährten
in der Vertheidigung ihre kaltblütige, eiſerne Ausdauer, die Franzoſen
als Angreifer ihren ritterlichen, unbändigen Muth, die Preußen endlich
die gleiche ſtürmiſche Verwegenheit im Angriff und dazu, was am ſchwerſten
wiegt, die Selbſtverleugnung des begeiſterten Willens.

Napoleon rechnete mit Sicherheit auf einen raſchen Sieg, da er die
Preußen fern im Südoſten bei Namur wähnte. Seine Armee zählte
über 72,000 Mann, war dem Heere Wellingtons namentlich durch ihre

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[748/0764] II. 2. Belle Alliance. ſtark beſetzte Poſitionen: vor der Rechten das Schloß Goumont inmitten der alten Bäume ſeines Parkes, von hohen Mauern umſchloſſen; vor dem Centrum an der Landſtraße das Gehöfte La Haye Sainte; vor dem äußerſten linken Flügel die weißen Häuſergruppen von Papelotte und La Haye. Die Straße fällt ſüdlich von Mont St. Jean ſanft ab, führt dann völlig eben durch offene Felder und ſteigt eine ſtarke halbe Stunde weiter ſüdlich, nahe bei dem Pachthofe La Belle Alliance wieder zu einem anderen niederen Höhenzuge empor, ſo daß das Schlachtfeld eine weite, mäßig eingetiefte Mulde bildet, die allen Waffen den freieſten Spielraum gewährt. Auf dieſen Höhen bei Belle Alliance ſtellte Napoleon ſein Heer auf, Reille zur Linken, Erlon zur Rechten der Straße, dahinter bei Roſſomme die Reſerve; ſein Plan war einfach durch einen oder mehrere Frontal- angriffe die Linien der Engländer zu durchbrechen, wo möglich an der ſchwächſten Stelle, auf ihrem linken Flügel. Da die unſicheren Feuer- waffen jener Zeit dem Angreifer erlaubten mit ungebrochener Kraft nahe an den Vertheidiger heranzugelangen, ſo hoffte der Imperator durch ungeheuere Maſſenſchläge den zähen Gegner niederzuringen. Seine Kriegsweiſe war während der letzten Jahre immer gewaltſamer geworden; heute vollends, in der fieberiſchen Leidenſchaft des verzweifelten Spielers zeigte er die ganze Wildheit des Jacobiners, ballte viele Tauſende ſeiner Reiter, ganze Diviſionen des Fußvolks zu einer einzigen Maſſe zuſammen, damit ſie wie die Phalangen Alexanders mit ihrem Elephantentritt Alles zermalmten. So begann die Schlacht — ein beſtändiges Vordringen und Zurückfluthen der Angreifer gleich der Brandung am ſteilen Strande — bis dann das Erſcheinen der Preußen in Napoleons Rücken und rechter Flanke den Schlachtplan des Imperators völlig umſtieß. Der Kampf verlief wie eine planvoll gebaute Tragödie: zu Anfang eine einfache Ver- wicklung, dann gewaltige Spannung und Steigerung, zuletzt das Herein- brechen des Alles zermalmenden Schickſals; unter allen Schlachten der modernen Geſchichte zeigt wohl nur die von Königgrätz in gleichem Maße den Charakter eines vollendeten Kunſtwerks. Der letzte Ausgang hinter- ließ in der Welt darum den Eindruck einer überzeugenden, unabwend- baren Nothwendigkeit, weil ein wunderbares Geſchick jeder der drei Na- tionen und jedem der Feldherren genau die Rolle zugewieſen hatte, welche der eigenſten Kraft ihres Charakters entſprach: die Briten bewährten in der Vertheidigung ihre kaltblütige, eiſerne Ausdauer, die Franzoſen als Angreifer ihren ritterlichen, unbändigen Muth, die Preußen endlich die gleiche ſtürmiſche Verwegenheit im Angriff und dazu, was am ſchwerſten wiegt, die Selbſtverleugnung des begeiſterten Willens. Napoleon rechnete mit Sicherheit auf einen raſchen Sieg, da er die Preußen fern im Südoſten bei Namur wähnte. Seine Armee zählte über 72,000 Mann, war dem Heere Wellingtons namentlich durch ihre

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 748. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/764>, abgerufen am 25.11.2024.