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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Das englisch-deutsche Heer.
der weiten Linie von Quatrebras bis westlich in die Gegend von Gent,
während er nach seiner streng methodischen Art seine Reserve bei Brüssel
zurückbehielt um nach Umständen die bedrohten Punkte unterstützen zu
können. So dachte er gegen jeden möglichen Angriff gerüstet zu sein, die
Verbindung mit England über Antwerpen und Ostende sicherzustellen und
zugleich seine Schützlinge, den Hof des flüchtigen Königs in Gent und
das Häuflein der bourbonischen Haustruppen bei Alost vor einer Ueber-
rumpelung zu bewahren. Aber durch diese weitgedehnte Aufstellung ward
ein rasches Zusammenwirken mit Blücher verhindert; es blieb möglich,
daß Napoleon, der jedem einzelnen der beiden verbündeten Heere über-
legen war, sich plötzlich zwischen die beiden Armeen eindrängte und die
Preußen, die ihm am nächsten standen, schlug ehe Wellington zur Un-
terstützung herbeieilen konnte. --

Kurz bevor die Schwerter aus der Scheide fuhren erlebte die deutsche
Armee noch eine unheimliche Katastrophe. Selbst dieser erste Krieg, den die
Deutschen in vollem Einmuth führten, sollte nicht beginnen, ohne daß die
Flammen des alten grimmigen Bruderzwistes noch einmal aus dem Bo-
den emporschlugen. Den unglücklichen sächsischen Händeln folgte in Bel-
gien noch ein tragisches Nachspiel. Sobald die großen Mächte über
Sachsens Schicksal einig geworden, hatten sie beschlossen den gefangenen
König in die Nähe von Wien kommen zu lassen, damit er der geschlosse-
nen Uebereinkunft beiträte. Die preußische Regierung wußte aus Dresden,
daß der sächsische Hofadel die Durchreise seines angestammten Fürsten zu
lärmenden Kundgebungen benutzen wollte; sie wußte desgleichen durch die
Minister in Berlin, daß Friedrich August entschlossen war, alles in Wien
Beschlossene rundweg abzulehnen und die Verhandlungen von vorn zu
beginnen.*) Sofort traf Hardenberg seine Maßregeln. Der Gefangene
mußte, als er am 22. Februar die Reise nach Preßburg antrat, seinen
Weg durch Schlesien nehmen. An der österreichischen Grenze begrüßte
ihn sofort das Geläute der Glocken und aller Pomp eines fürstlichen
Empfanges. Doch mehr als solche Ehren konnte Kaiser Franz seinem
Schützlinge nicht bieten; denn neben der Abwehr des neuen Angriffs der
Franzosen erschien jetzt der Streit um Sachsen in seiner ganzen klein-
lichen Erbärmlichkeit, als eine lästige Störung, die man um jeden Preis
aus der Welt schaffen mußte. Preußen erlebte die Genugthuung, daß alle
die völkerrechtlichen Grundsätze, welche Hardenberg bisher unter dem Zeter-
geschrei des entrüsteten "Europas" vertheidigt hatte, nunmehr von Oester-
reich, England und Frankreich förmlich anerkannt wurden. Einstimmig
erklärten die Mächte: da eine Eroberung des ganzen Landes, eine debel-
latio
vorliegt, so ist ein Friedensschluß mit dem entthronten Fürsten

*) Berichte des sächsischen Generalgouvernements und des Ministers v. d. Goltz an
den Staatskanzler vom 2. Januar und 19. Februar 1815.

Das engliſch-deutſche Heer.
der weiten Linie von Quatrebras bis weſtlich in die Gegend von Gent,
während er nach ſeiner ſtreng methodiſchen Art ſeine Reſerve bei Brüſſel
zurückbehielt um nach Umſtänden die bedrohten Punkte unterſtützen zu
können. So dachte er gegen jeden möglichen Angriff gerüſtet zu ſein, die
Verbindung mit England über Antwerpen und Oſtende ſicherzuſtellen und
zugleich ſeine Schützlinge, den Hof des flüchtigen Königs in Gent und
das Häuflein der bourboniſchen Haustruppen bei Aloſt vor einer Ueber-
rumpelung zu bewahren. Aber durch dieſe weitgedehnte Aufſtellung ward
ein raſches Zuſammenwirken mit Blücher verhindert; es blieb möglich,
daß Napoleon, der jedem einzelnen der beiden verbündeten Heere über-
legen war, ſich plötzlich zwiſchen die beiden Armeen eindrängte und die
Preußen, die ihm am nächſten ſtanden, ſchlug ehe Wellington zur Un-
terſtützung herbeieilen konnte. —

Kurz bevor die Schwerter aus der Scheide fuhren erlebte die deutſche
Armee noch eine unheimliche Kataſtrophe. Selbſt dieſer erſte Krieg, den die
Deutſchen in vollem Einmuth führten, ſollte nicht beginnen, ohne daß die
Flammen des alten grimmigen Bruderzwiſtes noch einmal aus dem Bo-
den emporſchlugen. Den unglücklichen ſächſiſchen Händeln folgte in Bel-
gien noch ein tragiſches Nachſpiel. Sobald die großen Mächte über
Sachſens Schickſal einig geworden, hatten ſie beſchloſſen den gefangenen
König in die Nähe von Wien kommen zu laſſen, damit er der geſchloſſe-
nen Uebereinkunft beiträte. Die preußiſche Regierung wußte aus Dresden,
daß der ſächſiſche Hofadel die Durchreiſe ſeines angeſtammten Fürſten zu
lärmenden Kundgebungen benutzen wollte; ſie wußte desgleichen durch die
Miniſter in Berlin, daß Friedrich Auguſt entſchloſſen war, alles in Wien
Beſchloſſene rundweg abzulehnen und die Verhandlungen von vorn zu
beginnen.*) Sofort traf Hardenberg ſeine Maßregeln. Der Gefangene
mußte, als er am 22. Februar die Reiſe nach Preßburg antrat, ſeinen
Weg durch Schleſien nehmen. An der öſterreichiſchen Grenze begrüßte
ihn ſofort das Geläute der Glocken und aller Pomp eines fürſtlichen
Empfanges. Doch mehr als ſolche Ehren konnte Kaiſer Franz ſeinem
Schützlinge nicht bieten; denn neben der Abwehr des neuen Angriffs der
Franzoſen erſchien jetzt der Streit um Sachſen in ſeiner ganzen klein-
lichen Erbärmlichkeit, als eine läſtige Störung, die man um jeden Preis
aus der Welt ſchaffen mußte. Preußen erlebte die Genugthuung, daß alle
die völkerrechtlichen Grundſätze, welche Hardenberg bisher unter dem Zeter-
geſchrei des entrüſteten „Europas“ vertheidigt hatte, nunmehr von Oeſter-
reich, England und Frankreich förmlich anerkannt wurden. Einſtimmig
erklärten die Mächte: da eine Eroberung des ganzen Landes, eine debel-
latio
vorliegt, ſo iſt ein Friedensſchluß mit dem entthronten Fürſten

*) Berichte des ſächſiſchen Generalgouvernements und des Miniſters v. d. Goltz an
den Staatskanzler vom 2. Januar und 19. Februar 1815.
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[729/0745] Das engliſch-deutſche Heer. der weiten Linie von Quatrebras bis weſtlich in die Gegend von Gent, während er nach ſeiner ſtreng methodiſchen Art ſeine Reſerve bei Brüſſel zurückbehielt um nach Umſtänden die bedrohten Punkte unterſtützen zu können. So dachte er gegen jeden möglichen Angriff gerüſtet zu ſein, die Verbindung mit England über Antwerpen und Oſtende ſicherzuſtellen und zugleich ſeine Schützlinge, den Hof des flüchtigen Königs in Gent und das Häuflein der bourboniſchen Haustruppen bei Aloſt vor einer Ueber- rumpelung zu bewahren. Aber durch dieſe weitgedehnte Aufſtellung ward ein raſches Zuſammenwirken mit Blücher verhindert; es blieb möglich, daß Napoleon, der jedem einzelnen der beiden verbündeten Heere über- legen war, ſich plötzlich zwiſchen die beiden Armeen eindrängte und die Preußen, die ihm am nächſten ſtanden, ſchlug ehe Wellington zur Un- terſtützung herbeieilen konnte. — Kurz bevor die Schwerter aus der Scheide fuhren erlebte die deutſche Armee noch eine unheimliche Kataſtrophe. Selbſt dieſer erſte Krieg, den die Deutſchen in vollem Einmuth führten, ſollte nicht beginnen, ohne daß die Flammen des alten grimmigen Bruderzwiſtes noch einmal aus dem Bo- den emporſchlugen. Den unglücklichen ſächſiſchen Händeln folgte in Bel- gien noch ein tragiſches Nachſpiel. Sobald die großen Mächte über Sachſens Schickſal einig geworden, hatten ſie beſchloſſen den gefangenen König in die Nähe von Wien kommen zu laſſen, damit er der geſchloſſe- nen Uebereinkunft beiträte. Die preußiſche Regierung wußte aus Dresden, daß der ſächſiſche Hofadel die Durchreiſe ſeines angeſtammten Fürſten zu lärmenden Kundgebungen benutzen wollte; ſie wußte desgleichen durch die Miniſter in Berlin, daß Friedrich Auguſt entſchloſſen war, alles in Wien Beſchloſſene rundweg abzulehnen und die Verhandlungen von vorn zu beginnen. *) Sofort traf Hardenberg ſeine Maßregeln. Der Gefangene mußte, als er am 22. Februar die Reiſe nach Preßburg antrat, ſeinen Weg durch Schleſien nehmen. An der öſterreichiſchen Grenze begrüßte ihn ſofort das Geläute der Glocken und aller Pomp eines fürſtlichen Empfanges. Doch mehr als ſolche Ehren konnte Kaiſer Franz ſeinem Schützlinge nicht bieten; denn neben der Abwehr des neuen Angriffs der Franzoſen erſchien jetzt der Streit um Sachſen in ſeiner ganzen klein- lichen Erbärmlichkeit, als eine läſtige Störung, die man um jeden Preis aus der Welt ſchaffen mußte. Preußen erlebte die Genugthuung, daß alle die völkerrechtlichen Grundſätze, welche Hardenberg bisher unter dem Zeter- geſchrei des entrüſteten „Europas“ vertheidigt hatte, nunmehr von Oeſter- reich, England und Frankreich förmlich anerkannt wurden. Einſtimmig erklärten die Mächte: da eine Eroberung des ganzen Landes, eine debel- latio vorliegt, ſo iſt ein Friedensſchluß mit dem entthronten Fürſten *) Berichte des ſächſiſchen Generalgouvernements und des Miniſters v. d. Goltz an den Staatskanzler vom 2. Januar und 19. Februar 1815.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 729. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/745>, abgerufen am 25.11.2024.