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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Neue Verhandlungen im Frühjahr.
des Congresses und horchten gespannt auf die Nachrichten aus Westen; die
Rheinbündner erhoben wieder keck das Haupt, mehrere der Mittelstaaten
verhehlten kaum, daß sie auf neue Siege des Imperators hofften. Das
war die Stimmung nicht, die ein dauerndes nationales Werk zeitigen
konnte. Hardenberg, der in der Regel ein sicheres Gefühl für die Gunst
des Augenblicks zeigte, wünschte denn auch die Verfassungsberathungen zu
vertagen, bis nach einer neuen Niederlage Napoleons der Trotz der Rhein-
bündner gebrochen und die allgemeine Stimmung wieder ruhiger und
gesammelter wäre. Aber wie würde die Nation, die jetzt abermals zu
neuen schweren Opfern aufgeboten ward, ihre Fürsten und Minister
empfangen, wenn sie ihr nach diesem Pomp endloser Feste nichts, rein
nichts heim brachten? Dies schien doch gar zu schmachvoll; selbst Gentz
warnte vor dem Zorne der öffentlichen Meinung. Ueberdies wünschte
Metternich dringend, die deutsche Bundesacte, die in seinen Augen ja
nur eine europäische Angelegenheit war, in die große Schlußacte des Con-
gresses mit aufzunehmen und sie also unter die Bürgschaft des gesammten
Welttheils zu stellen. Er legte hierauf noch in späteren Jahren den
höchsten Werth und stellte gern die charakteristische Behauptung auf: der
Deutsche Bund ist grade deshalb eine dauernde Foederation, weil "sein
Entstehen das vereinte Werk der europäischen Mächte und der deutschen
Fürsten war."*) Und seltsamerweise ward diese Ansicht von allen preu-
ßischen Staatsmännern, selbst von Humboldt getheilt; sie hofften durch
die europäische Gesammtbürgschaft den Mittelstaaten eine neue Felonie
zu erschweren und bedachten nicht, wie grausam einst das alte Reich
unter der zudringlichen Einmischung seiner auswärtigen Garanten gelitten
hatte. So kam es, daß Preußen sich doch noch entschloß die Verhand-
lungen zu der denkbar ungünstigsten Zeit wieder aufzunehmen.

Auf eine irgend erträgliche Ordnung der deutschen Dinge hoffte
Humboldt freilich längst nicht mehr; was frommte seine dialektische Kunst
gegen die Bosheit der Mittelstaaten und die berechnete Zurückhaltung
Oesterreichs? Er selbst gesteht: jetzt blieb nichts mehr übrig als den
Bund zu Stande bringen, gleichviel auf welche Weise. Dennoch legte
er sich abermals ins Zeug und brachte zu Anfang Aprils einen neuen
wesentlich abgekürzten Entwurf zu Stande. Es war der sechste. Aber
die Verhandlungen wurden wieder verschoben; die Mittelstaaten zeigten
keine Neigung sich noch auf irgend etwas einzulassen. In der zweiten
Hälfte des Monats schien die Stimmung wieder günstiger zu werden.
Sofort schöpfte Humboldt neuen Muth**) und wagte am 1. Mai einen
siebenten, mehr in das Einzelne eingehenden Plan vorzulegen.

Die Hofburg jedoch erklärte beide Entwürfe für unmöglich. Das

*) Metternich an Hruby, 11. December 1817.
**) So berichtet er selbst in der Systematischen Uebersicht.

Neue Verhandlungen im Frühjahr.
des Congreſſes und horchten geſpannt auf die Nachrichten aus Weſten; die
Rheinbündner erhoben wieder keck das Haupt, mehrere der Mittelſtaaten
verhehlten kaum, daß ſie auf neue Siege des Imperators hofften. Das
war die Stimmung nicht, die ein dauerndes nationales Werk zeitigen
konnte. Hardenberg, der in der Regel ein ſicheres Gefühl für die Gunſt
des Augenblicks zeigte, wünſchte denn auch die Verfaſſungsberathungen zu
vertagen, bis nach einer neuen Niederlage Napoleons der Trotz der Rhein-
bündner gebrochen und die allgemeine Stimmung wieder ruhiger und
geſammelter wäre. Aber wie würde die Nation, die jetzt abermals zu
neuen ſchweren Opfern aufgeboten ward, ihre Fürſten und Miniſter
empfangen, wenn ſie ihr nach dieſem Pomp endloſer Feſte nichts, rein
nichts heim brachten? Dies ſchien doch gar zu ſchmachvoll; ſelbſt Gentz
warnte vor dem Zorne der öffentlichen Meinung. Ueberdies wünſchte
Metternich dringend, die deutſche Bundesacte, die in ſeinen Augen ja
nur eine europäiſche Angelegenheit war, in die große Schlußacte des Con-
greſſes mit aufzunehmen und ſie alſo unter die Bürgſchaft des geſammten
Welttheils zu ſtellen. Er legte hierauf noch in ſpäteren Jahren den
höchſten Werth und ſtellte gern die charakteriſtiſche Behauptung auf: der
Deutſche Bund iſt grade deshalb eine dauernde Foederation, weil „ſein
Entſtehen das vereinte Werk der europäiſchen Mächte und der deutſchen
Fürſten war.“*) Und ſeltſamerweiſe ward dieſe Anſicht von allen preu-
ßiſchen Staatsmännern, ſelbſt von Humboldt getheilt; ſie hofften durch
die europäiſche Geſammtbürgſchaft den Mittelſtaaten eine neue Felonie
zu erſchweren und bedachten nicht, wie grauſam einſt das alte Reich
unter der zudringlichen Einmiſchung ſeiner auswärtigen Garanten gelitten
hatte. So kam es, daß Preußen ſich doch noch entſchloß die Verhand-
lungen zu der denkbar ungünſtigſten Zeit wieder aufzunehmen.

Auf eine irgend erträgliche Ordnung der deutſchen Dinge hoffte
Humboldt freilich längſt nicht mehr; was frommte ſeine dialektiſche Kunſt
gegen die Bosheit der Mittelſtaaten und die berechnete Zurückhaltung
Oeſterreichs? Er ſelbſt geſteht: jetzt blieb nichts mehr übrig als den
Bund zu Stande bringen, gleichviel auf welche Weiſe. Dennoch legte
er ſich abermals ins Zeug und brachte zu Anfang Aprils einen neuen
weſentlich abgekürzten Entwurf zu Stande. Es war der ſechſte. Aber
die Verhandlungen wurden wieder verſchoben; die Mittelſtaaten zeigten
keine Neigung ſich noch auf irgend etwas einzulaſſen. In der zweiten
Hälfte des Monats ſchien die Stimmung wieder günſtiger zu werden.
Sofort ſchöpfte Humboldt neuen Muth**) und wagte am 1. Mai einen
ſiebenten, mehr in das Einzelne eingehenden Plan vorzulegen.

Die Hofburg jedoch erklärte beide Entwürfe für unmöglich. Das

*) Metternich an Hruby, 11. December 1817.
**) So berichtet er ſelbſt in der Syſtematiſchen Ueberſicht.
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[695/0711] Neue Verhandlungen im Frühjahr. des Congreſſes und horchten geſpannt auf die Nachrichten aus Weſten; die Rheinbündner erhoben wieder keck das Haupt, mehrere der Mittelſtaaten verhehlten kaum, daß ſie auf neue Siege des Imperators hofften. Das war die Stimmung nicht, die ein dauerndes nationales Werk zeitigen konnte. Hardenberg, der in der Regel ein ſicheres Gefühl für die Gunſt des Augenblicks zeigte, wünſchte denn auch die Verfaſſungsberathungen zu vertagen, bis nach einer neuen Niederlage Napoleons der Trotz der Rhein- bündner gebrochen und die allgemeine Stimmung wieder ruhiger und geſammelter wäre. Aber wie würde die Nation, die jetzt abermals zu neuen ſchweren Opfern aufgeboten ward, ihre Fürſten und Miniſter empfangen, wenn ſie ihr nach dieſem Pomp endloſer Feſte nichts, rein nichts heim brachten? Dies ſchien doch gar zu ſchmachvoll; ſelbſt Gentz warnte vor dem Zorne der öffentlichen Meinung. Ueberdies wünſchte Metternich dringend, die deutſche Bundesacte, die in ſeinen Augen ja nur eine europäiſche Angelegenheit war, in die große Schlußacte des Con- greſſes mit aufzunehmen und ſie alſo unter die Bürgſchaft des geſammten Welttheils zu ſtellen. Er legte hierauf noch in ſpäteren Jahren den höchſten Werth und ſtellte gern die charakteriſtiſche Behauptung auf: der Deutſche Bund iſt grade deshalb eine dauernde Foederation, weil „ſein Entſtehen das vereinte Werk der europäiſchen Mächte und der deutſchen Fürſten war.“ *) Und ſeltſamerweiſe ward dieſe Anſicht von allen preu- ßiſchen Staatsmännern, ſelbſt von Humboldt getheilt; ſie hofften durch die europäiſche Geſammtbürgſchaft den Mittelſtaaten eine neue Felonie zu erſchweren und bedachten nicht, wie grauſam einſt das alte Reich unter der zudringlichen Einmiſchung ſeiner auswärtigen Garanten gelitten hatte. So kam es, daß Preußen ſich doch noch entſchloß die Verhand- lungen zu der denkbar ungünſtigſten Zeit wieder aufzunehmen. Auf eine irgend erträgliche Ordnung der deutſchen Dinge hoffte Humboldt freilich längſt nicht mehr; was frommte ſeine dialektiſche Kunſt gegen die Bosheit der Mittelſtaaten und die berechnete Zurückhaltung Oeſterreichs? Er ſelbſt geſteht: jetzt blieb nichts mehr übrig als den Bund zu Stande bringen, gleichviel auf welche Weiſe. Dennoch legte er ſich abermals ins Zeug und brachte zu Anfang Aprils einen neuen weſentlich abgekürzten Entwurf zu Stande. Es war der ſechſte. Aber die Verhandlungen wurden wieder verſchoben; die Mittelſtaaten zeigten keine Neigung ſich noch auf irgend etwas einzulaſſen. In der zweiten Hälfte des Monats ſchien die Stimmung wieder günſtiger zu werden. Sofort ſchöpfte Humboldt neuen Muth **) und wagte am 1. Mai einen ſiebenten, mehr in das Einzelne eingehenden Plan vorzulegen. Die Hofburg jedoch erklärte beide Entwürfe für unmöglich. Das *) Metternich an Hruby, 11. December 1817. **) So berichtet er ſelbſt in der Syſtematiſchen Ueberſicht.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 695. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/711>, abgerufen am 25.11.2024.