derannahme der Karolingerkrone bestürmten. Einig waren die Kleinstaaten vorderhand nur in dem Wunsche die Fünfherrschaft zu brechen.
Immerhin zeigten die kleinen Höfe auch diesmal, wie so oft in der älteren Reichsgeschichte, doch etwas mehr vaterländischen Sinn als die Mittelstaaten; mehrere unter ihnen wünschten, im Bewußtsein der eigenen Ohnmacht, ernstlich eine starke Reichsgewalt, die sie gegen den Ehrgeiz der größeren Nachbarn beschützen sollte. Daher entschloß sich Stein diese klein- fürstliche Opposition für seine patriotischen Zwecke zu benutzen; er schob den vielgeschäftigen Gagern geschickt zur Seite und bewog den Verein der neunundzwanzig kleinen Fürsten und Städte am 16. November, an dem- selben Tage, da Württemberg ausschied, den beiden führenden Mächten eine Collectivnote zu überreichen. Darin wurden Oesterreich und Preußen gebeten, sämmtlichen deutschen Staaten einen neuen Verfassungsplan "auf der Basis gleicher Rechte und einer vollständigen Repräsentation aller Bundesglieder" vorzulegen; an die Spitze des Bundes aber müsse ein Kaiser "als teutscher Freiheit Aegide" treten. So luftig und unklar dieser Kaiserplan erschien und so gewiß mehrere der Unterzeichner den Kaiser- gedanken lediglich als einen frivolen Vorwand gebrauchten um nur der Fünfherrschaft ledig zu werden, ebenso gewiß enthielt die Erklärung der Kleinstaaten einige ehrenwerthe bestimmte Zugeständnisse: sie erboten sich namentlich, den Landtagen ein von Bundeswegen festzustellendes Minimum landständischer Rechte zu gewähren.
Also zugleich von Innen und Außen angegriffen brach die deutsche Pentarchie zusammen. Einige Monate lang bestand gar kein deutscher Ver- fassungsausschuß mehr. Der Boden war frei für willkürliche Pläne jeder Art; Gagern und Plessen sprachen bereits von einem Bunde der Mittel- und Kleinstaaten ohne Oesterreich und Preußen, aber mit Dänemark und den unvermeidlichen Niederlanden. Münster erwiderte den Kleinstaaten im Namen der Großmächte, erkannte ihre patriotischen Absichten wohl- wollend an und erklärte bestimmt, die Wiederaufrichtung des Kaiserthums sei, Angesichts der Weigerung Oesterreichs, ganz unmöglich. Die Rhein- bundsgesinnung dagegen, welche sich in den Noten Württembergs und Ba- dens so schamlos ausgesprochen hatte, wollten die Großmächte nicht unge- rügt hingehen lassen. Oesterreich und England-Hannover hofften in jenem Augenblicke noch, den preußischen Hof von Rußland abzuziehen und kamen darum in den deutschen Händeln den Ansichten Preußens mit einer Be- flissenheit, die sie freilich zu nichts Ernstlichem verpflichtete, entgegen. Münster entwarf für Preußen und Oesterreich eine identische Note, welche dem badischen Hofe übergeben werden sollte. In einer unerhört scharfen Sprache hielt er der Carlsruher Regierung ihr Sündenregister vor, alle ihre Bedrückungen gegen das eigene Volk, "Maßregeln, die unter die will- kürlichsten des französischen Revolutionssystems gerechnet werden müssen." Dann wird der wichtige Grundsatz aufgestellt, daß es den deutschen
II. 1. Der Wiener Congreß.
derannahme der Karolingerkrone beſtürmten. Einig waren die Kleinſtaaten vorderhand nur in dem Wunſche die Fünfherrſchaft zu brechen.
Immerhin zeigten die kleinen Höfe auch diesmal, wie ſo oft in der älteren Reichsgeſchichte, doch etwas mehr vaterländiſchen Sinn als die Mittelſtaaten; mehrere unter ihnen wünſchten, im Bewußtſein der eigenen Ohnmacht, ernſtlich eine ſtarke Reichsgewalt, die ſie gegen den Ehrgeiz der größeren Nachbarn beſchützen ſollte. Daher entſchloß ſich Stein dieſe klein- fürſtliche Oppoſition für ſeine patriotiſchen Zwecke zu benutzen; er ſchob den vielgeſchäftigen Gagern geſchickt zur Seite und bewog den Verein der neunundzwanzig kleinen Fürſten und Städte am 16. November, an dem- ſelben Tage, da Württemberg ausſchied, den beiden führenden Mächten eine Collectivnote zu überreichen. Darin wurden Oeſterreich und Preußen gebeten, ſämmtlichen deutſchen Staaten einen neuen Verfaſſungsplan „auf der Baſis gleicher Rechte und einer vollſtändigen Repräſentation aller Bundesglieder“ vorzulegen; an die Spitze des Bundes aber müſſe ein Kaiſer „als teutſcher Freiheit Aegide“ treten. So luftig und unklar dieſer Kaiſerplan erſchien und ſo gewiß mehrere der Unterzeichner den Kaiſer- gedanken lediglich als einen frivolen Vorwand gebrauchten um nur der Fünfherrſchaft ledig zu werden, ebenſo gewiß enthielt die Erklärung der Kleinſtaaten einige ehrenwerthe beſtimmte Zugeſtändniſſe: ſie erboten ſich namentlich, den Landtagen ein von Bundeswegen feſtzuſtellendes Minimum landſtändiſcher Rechte zu gewähren.
Alſo zugleich von Innen und Außen angegriffen brach die deutſche Pentarchie zuſammen. Einige Monate lang beſtand gar kein deutſcher Ver- faſſungsausſchuß mehr. Der Boden war frei für willkürliche Pläne jeder Art; Gagern und Pleſſen ſprachen bereits von einem Bunde der Mittel- und Kleinſtaaten ohne Oeſterreich und Preußen, aber mit Dänemark und den unvermeidlichen Niederlanden. Münſter erwiderte den Kleinſtaaten im Namen der Großmächte, erkannte ihre patriotiſchen Abſichten wohl- wollend an und erklärte beſtimmt, die Wiederaufrichtung des Kaiſerthums ſei, Angeſichts der Weigerung Oeſterreichs, ganz unmöglich. Die Rhein- bundsgeſinnung dagegen, welche ſich in den Noten Württembergs und Ba- dens ſo ſchamlos ausgeſprochen hatte, wollten die Großmächte nicht unge- rügt hingehen laſſen. Oeſterreich und England-Hannover hofften in jenem Augenblicke noch, den preußiſchen Hof von Rußland abzuziehen und kamen darum in den deutſchen Händeln den Anſichten Preußens mit einer Be- fliſſenheit, die ſie freilich zu nichts Ernſtlichem verpflichtete, entgegen. Münſter entwarf für Preußen und Oeſterreich eine identiſche Note, welche dem badiſchen Hofe übergeben werden ſollte. In einer unerhört ſcharfen Sprache hielt er der Carlsruher Regierung ihr Sündenregiſter vor, alle ihre Bedrückungen gegen das eigene Volk, „Maßregeln, die unter die will- kürlichſten des franzöſiſchen Revolutionsſyſtems gerechnet werden müſſen.“ Dann wird der wichtige Grundſatz aufgeſtellt, daß es den deutſchen
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II. 1. Der Wiener Congreß.
derannahme der Karolingerkrone beſtürmten. Einig waren die Kleinſtaaten
vorderhand nur in dem Wunſche die Fünfherrſchaft zu brechen.
Immerhin zeigten die kleinen Höfe auch diesmal, wie ſo oft in der
älteren Reichsgeſchichte, doch etwas mehr vaterländiſchen Sinn als die
Mittelſtaaten; mehrere unter ihnen wünſchten, im Bewußtſein der eigenen
Ohnmacht, ernſtlich eine ſtarke Reichsgewalt, die ſie gegen den Ehrgeiz der
größeren Nachbarn beſchützen ſollte. Daher entſchloß ſich Stein dieſe klein-
fürſtliche Oppoſition für ſeine patriotiſchen Zwecke zu benutzen; er ſchob
den vielgeſchäftigen Gagern geſchickt zur Seite und bewog den Verein der
neunundzwanzig kleinen Fürſten und Städte am 16. November, an dem-
ſelben Tage, da Württemberg ausſchied, den beiden führenden Mächten
eine Collectivnote zu überreichen. Darin wurden Oeſterreich und Preußen
gebeten, ſämmtlichen deutſchen Staaten einen neuen Verfaſſungsplan „auf
der Baſis gleicher Rechte und einer vollſtändigen Repräſentation aller
Bundesglieder“ vorzulegen; an die Spitze des Bundes aber müſſe ein
Kaiſer „als teutſcher Freiheit Aegide“ treten. So luftig und unklar dieſer
Kaiſerplan erſchien und ſo gewiß mehrere der Unterzeichner den Kaiſer-
gedanken lediglich als einen frivolen Vorwand gebrauchten um nur der
Fünfherrſchaft ledig zu werden, ebenſo gewiß enthielt die Erklärung der
Kleinſtaaten einige ehrenwerthe beſtimmte Zugeſtändniſſe: ſie erboten ſich
namentlich, den Landtagen ein von Bundeswegen feſtzuſtellendes Minimum
landſtändiſcher Rechte zu gewähren.
Alſo zugleich von Innen und Außen angegriffen brach die deutſche
Pentarchie zuſammen. Einige Monate lang beſtand gar kein deutſcher Ver-
faſſungsausſchuß mehr. Der Boden war frei für willkürliche Pläne jeder
Art; Gagern und Pleſſen ſprachen bereits von einem Bunde der Mittel-
und Kleinſtaaten ohne Oeſterreich und Preußen, aber mit Dänemark und
den unvermeidlichen Niederlanden. Münſter erwiderte den Kleinſtaaten
im Namen der Großmächte, erkannte ihre patriotiſchen Abſichten wohl-
wollend an und erklärte beſtimmt, die Wiederaufrichtung des Kaiſerthums
ſei, Angeſichts der Weigerung Oeſterreichs, ganz unmöglich. Die Rhein-
bundsgeſinnung dagegen, welche ſich in den Noten Württembergs und Ba-
dens ſo ſchamlos ausgeſprochen hatte, wollten die Großmächte nicht unge-
rügt hingehen laſſen. Oeſterreich und England-Hannover hofften in jenem
Augenblicke noch, den preußiſchen Hof von Rußland abzuziehen und kamen
darum in den deutſchen Händeln den Anſichten Preußens mit einer Be-
fliſſenheit, die ſie freilich zu nichts Ernſtlichem verpflichtete, entgegen.
Münſter entwarf für Preußen und Oeſterreich eine identiſche Note, welche
dem badiſchen Hofe übergeben werden ſollte. In einer unerhört ſcharfen
Sprache hielt er der Carlsruher Regierung ihr Sündenregiſter vor, alle
ihre Bedrückungen gegen das eigene Volk, „Maßregeln, die unter die will-
kürlichſten des franzöſiſchen Revolutionsſyſtems gerechnet werden müſſen.“
Dann wird der wichtige Grundſatz aufgeſtellt, daß es den deutſchen
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 686. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/702>, abgerufen am 22.11.2024.
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