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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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II. 1. Der Wiener Congreß.
kommen, da das Schwert Friedrichs wieder aus der Scheide fuhr um auch
die andere Hälfte, die noch in allen Gliedern die Nachwirkung der zwei-
hundertjährigen Fremdherrschaft verspürte, zum Vaterlande zurückzuführen.


Als ein Menschenalter später die Vertreter der Nation ohne die
Mitwirkung der Fürsten über den Neubau des deutschen Gesammtstaates
beriethen, vergeudeten sie die günstige Zeit mit Berathungen über die
Grundrechte des Volks. Derselbe dunkle Drang der Selbstsucht beherrschte
die Diplomaten, die in Wien ohne Zuziehung der Nation über Deutsch-
lands Zukunft verhandelten; das deutsche Verfassungswerk gerieth nach
kurzem Anlauf ins Stocken, der Streit über die dynastischen Interessen
des Hauses Wettin nahm monatelang alle Kräfte des Congresses in An-
spruch, und erst gegen das Ende des großen Fürstentages, als die Dinge
bereits völlig aussichtslos lagen, ward in übereilter Hast die deutsche
Bundesacte beendigt. Sehr günstig hatten die Aussichten freilich nie ge-
standen. Einem Lande, dessen Grenzen Niemand kannte, dem unbestimm-
ten Begriffe "Deutschland" eine feste politische Form zu geben war an
sich eine unmögliche Aufgabe. Ein erbarmungsloser Druck der Noth, wie
er einst die Staaten Nordamerikas gezwungen hatte widerwillig auf ihre
Souveränität zu verzichten, ward in jenem Augenblicke nicht fühlbar, da
alle Welt auf eine lange Zeit friedlichen Behagens hoffte. So zeigte sich
denn hart und nackt das politische Naturgesetz, das jeden Staat treibt,
sein Ich, seine Unabhängigkeit bis aufs Aeußerste zu vertheidigen. Ehr-
furcht vor dem großen Vaterlande, Dankbarkeit gegen seine Befreier,
Scham über die eigenen Frevel ließ sich von den Sklaven Napoleons
nicht erwarten.

Auch eine durchgebildete öffentliche Meinung, ein leidenschaftlicher
Volkswille, stark genug die Widerstrebenden fortzureißen bestand noch
nirgends. Was diese Generation an schöpferischem politischem Vermögen
besaß, war in dem ungeheuren Ringen um die Befreiung des Vaterlandes
darauf gegangen. Wohl flogen die Hoffnungen der Patrioten hoch; wir
warten, sagte Arndt, einer neuen Herrlichkeit wie seit Jahrhunderten nicht
gewesen ist! Die constitutionellen Ideen der Revolution hatten in der
Stille auf deutschem Boden überall Wurzeln geschlagen, "Verfassung"
und "Repräsentativsystem" galten bereits als gleichbedeutende Worte.
Gleichzeitig, unter Männern von ganz verschiedener Bildung, ward die
zuversichtliche Weissagung laut: wie die kirchliche Reformation im sech-
zehnten, so werde die politische im neunzehnten Jahrhundert von Deutsch-
land über die Welt hinausgehen. Zu diesen modernen Gedanken gesellten
sich romantische Erinnerungen aus Deutschlands ältester Geschichte: die un-
vergeßliche Schande der Regensburger Tage schien wie ausgelöscht, mit
der Herstellung von Kaiser und Reich mußte auch die Macht der Ottonen

II. 1. Der Wiener Congreß.
kommen, da das Schwert Friedrichs wieder aus der Scheide fuhr um auch
die andere Hälfte, die noch in allen Gliedern die Nachwirkung der zwei-
hundertjährigen Fremdherrſchaft verſpürte, zum Vaterlande zurückzuführen.


Als ein Menſchenalter ſpäter die Vertreter der Nation ohne die
Mitwirkung der Fürſten über den Neubau des deutſchen Geſammtſtaates
beriethen, vergeudeten ſie die günſtige Zeit mit Berathungen über die
Grundrechte des Volks. Derſelbe dunkle Drang der Selbſtſucht beherrſchte
die Diplomaten, die in Wien ohne Zuziehung der Nation über Deutſch-
lands Zukunft verhandelten; das deutſche Verfaſſungswerk gerieth nach
kurzem Anlauf ins Stocken, der Streit über die dynaſtiſchen Intereſſen
des Hauſes Wettin nahm monatelang alle Kräfte des Congreſſes in An-
ſpruch, und erſt gegen das Ende des großen Fürſtentages, als die Dinge
bereits völlig ausſichtslos lagen, ward in übereilter Haſt die deutſche
Bundesacte beendigt. Sehr günſtig hatten die Ausſichten freilich nie ge-
ſtanden. Einem Lande, deſſen Grenzen Niemand kannte, dem unbeſtimm-
ten Begriffe „Deutſchland“ eine feſte politiſche Form zu geben war an
ſich eine unmögliche Aufgabe. Ein erbarmungsloſer Druck der Noth, wie
er einſt die Staaten Nordamerikas gezwungen hatte widerwillig auf ihre
Souveränität zu verzichten, ward in jenem Augenblicke nicht fühlbar, da
alle Welt auf eine lange Zeit friedlichen Behagens hoffte. So zeigte ſich
denn hart und nackt das politiſche Naturgeſetz, das jeden Staat treibt,
ſein Ich, ſeine Unabhängigkeit bis aufs Aeußerſte zu vertheidigen. Ehr-
furcht vor dem großen Vaterlande, Dankbarkeit gegen ſeine Befreier,
Scham über die eigenen Frevel ließ ſich von den Sklaven Napoleons
nicht erwarten.

Auch eine durchgebildete öffentliche Meinung, ein leidenſchaftlicher
Volkswille, ſtark genug die Widerſtrebenden fortzureißen beſtand noch
nirgends. Was dieſe Generation an ſchöpferiſchem politiſchem Vermögen
beſaß, war in dem ungeheuren Ringen um die Befreiung des Vaterlandes
darauf gegangen. Wohl flogen die Hoffnungen der Patrioten hoch; wir
warten, ſagte Arndt, einer neuen Herrlichkeit wie ſeit Jahrhunderten nicht
geweſen iſt! Die conſtitutionellen Ideen der Revolution hatten in der
Stille auf deutſchem Boden überall Wurzeln geſchlagen, „Verfaſſung“
und „Repräſentativſyſtem“ galten bereits als gleichbedeutende Worte.
Gleichzeitig, unter Männern von ganz verſchiedener Bildung, ward die
zuverſichtliche Weiſſagung laut: wie die kirchliche Reformation im ſech-
zehnten, ſo werde die politiſche im neunzehnten Jahrhundert von Deutſch-
land über die Welt hinausgehen. Zu dieſen modernen Gedanken geſellten
ſich romantiſche Erinnerungen aus Deutſchlands älteſter Geſchichte: die un-
vergeßliche Schande der Regensburger Tage ſchien wie ausgelöſcht, mit
der Herſtellung von Kaiſer und Reich mußte auch die Macht der Ottonen

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[672/0688] II. 1. Der Wiener Congreß. kommen, da das Schwert Friedrichs wieder aus der Scheide fuhr um auch die andere Hälfte, die noch in allen Gliedern die Nachwirkung der zwei- hundertjährigen Fremdherrſchaft verſpürte, zum Vaterlande zurückzuführen. Als ein Menſchenalter ſpäter die Vertreter der Nation ohne die Mitwirkung der Fürſten über den Neubau des deutſchen Geſammtſtaates beriethen, vergeudeten ſie die günſtige Zeit mit Berathungen über die Grundrechte des Volks. Derſelbe dunkle Drang der Selbſtſucht beherrſchte die Diplomaten, die in Wien ohne Zuziehung der Nation über Deutſch- lands Zukunft verhandelten; das deutſche Verfaſſungswerk gerieth nach kurzem Anlauf ins Stocken, der Streit über die dynaſtiſchen Intereſſen des Hauſes Wettin nahm monatelang alle Kräfte des Congreſſes in An- ſpruch, und erſt gegen das Ende des großen Fürſtentages, als die Dinge bereits völlig ausſichtslos lagen, ward in übereilter Haſt die deutſche Bundesacte beendigt. Sehr günſtig hatten die Ausſichten freilich nie ge- ſtanden. Einem Lande, deſſen Grenzen Niemand kannte, dem unbeſtimm- ten Begriffe „Deutſchland“ eine feſte politiſche Form zu geben war an ſich eine unmögliche Aufgabe. Ein erbarmungsloſer Druck der Noth, wie er einſt die Staaten Nordamerikas gezwungen hatte widerwillig auf ihre Souveränität zu verzichten, ward in jenem Augenblicke nicht fühlbar, da alle Welt auf eine lange Zeit friedlichen Behagens hoffte. So zeigte ſich denn hart und nackt das politiſche Naturgeſetz, das jeden Staat treibt, ſein Ich, ſeine Unabhängigkeit bis aufs Aeußerſte zu vertheidigen. Ehr- furcht vor dem großen Vaterlande, Dankbarkeit gegen ſeine Befreier, Scham über die eigenen Frevel ließ ſich von den Sklaven Napoleons nicht erwarten. Auch eine durchgebildete öffentliche Meinung, ein leidenſchaftlicher Volkswille, ſtark genug die Widerſtrebenden fortzureißen beſtand noch nirgends. Was dieſe Generation an ſchöpferiſchem politiſchem Vermögen beſaß, war in dem ungeheuren Ringen um die Befreiung des Vaterlandes darauf gegangen. Wohl flogen die Hoffnungen der Patrioten hoch; wir warten, ſagte Arndt, einer neuen Herrlichkeit wie ſeit Jahrhunderten nicht geweſen iſt! Die conſtitutionellen Ideen der Revolution hatten in der Stille auf deutſchem Boden überall Wurzeln geſchlagen, „Verfaſſung“ und „Repräſentativſyſtem“ galten bereits als gleichbedeutende Worte. Gleichzeitig, unter Männern von ganz verſchiedener Bildung, ward die zuverſichtliche Weiſſagung laut: wie die kirchliche Reformation im ſech- zehnten, ſo werde die politiſche im neunzehnten Jahrhundert von Deutſch- land über die Welt hinausgehen. Zu dieſen modernen Gedanken geſellten ſich romantiſche Erinnerungen aus Deutſchlands älteſter Geſchichte: die un- vergeßliche Schande der Regensburger Tage ſchien wie ausgelöſcht, mit der Herſtellung von Kaiſer und Reich mußte auch die Macht der Ottonen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 672. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/688>, abgerufen am 25.11.2024.