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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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II. 1. Der Wiener Congreß.
bairischen Politik hindurchgezogen. Namentlich der Kronprinz Ludwig war
völlig beherrscht von diesem Gedanken; er sollte sein schönes geliebtes
Salzburg, wo er die letzten Jahre über Hof gehalten, jetzt an Oesterreich
ausliefern und wollte dafür mindestens die "Wiege seines Geschlechts"
zurückerwerben, obgleich durchaus kein Rechtsgrund den Anspruch unter-
stützte. Baiern hatte vor Jahren die rechtsrheinische Pfalz gegen über-
reichliche Entschädigung, ohne jeden Vorbehalt abgetreten, und es ließ sich
schlechterdings nicht absehen, warum das Land wieder an die Wittelsbacher
zurückfallen sollte sobald die Erbfolge in Baden auf die Grafen von Hoch-
berg überging. Nur die Mißgunst der Großmächte gegen das nachlässige
Regiment des Großherzogs Karl von Baden hat eine Zeit lang diese
bairischen Anmaßungen begünstigt. Aber der Aprilvertrag war todtge-
boren, denn er behielt ausdrücklich "die Zustimmung der betheiligten Sou-
veräne" vor; und diese, Württemberg, Baden, beide Hessen, erhoben so-
fort lauten Einspruch. Der badische Bevollmächtigte Marschall hatte schon
früher dem Staatskanzler geschrieben: "Ludwig XIV. hat durch alle
blutigen Kriege, die Europa während seiner Regierung erschütterten, nicht
eine Million Einwohner für die französische Monarchie erworben, und
nun will Baiern durch einen coup de main im Wege der Unterhand-
lungen sich um 400,000 Unterthanen bereichern."*) Jetzt erneuerte er
seinen Protest. Auch König Friedrich Wilhelm fand es höchst unbillig,
daß Hanau ohne jeden Rechtsgrund von Kurhessen abgerissen werden
sollte. So geschah es, daß der Aprilvertrag nicht ratificirt wurde, und die
Schlußacte des Congresses die Streitfrage offen ließ. --

Unter solchen Kämpfen kam die Wiederherstellung der preußischen
Monarchie zu Stande. Das Ergebniß der Wiener Verhandlungen war
eine halbe Niederlage der preußischen Politik; weder am Rhein noch in
Sachsen noch an der polnischen Grenze hatte sie ihre Ziele vollständig
erreicht. Der Staat war gegen den Besitzstand von 1805 um volle
600 Geviertmeilen kleiner und nur um kaum eine halbe Million Ein-
wohner stärker geworden, er hatte die versprochene Abrundung nicht er-
langt, sondern zerfiel wieder wie vor Alters in zwei weit entlegene Massen.
Zudem war ein den Hohenzollern verfeindetes Fürstenhaus wieder einge-
setzt, ein lebensunfähiger Mittelstaat, der niemals wieder zu gesunden
politischen Zuständen gelangen konnte, aufs Neue hergestellt. Die vier
Kleinkönige beherrschten fast ein Viertel von dem Gebiete des Deutschen
Bundes; die Lieblingsschöpfung Napoleons, die neue Macht der Mittel-
staaten hatte alle Stürme der Zeit überdauert. Im preußischen Volke
erregte der Ausgang des diplomatischen Kampfes tiefe Verstimmung. Ganz
im Sinne der öffentlichen Meinung schrieb Blücher: wir haben einen
tüchtigen Bullen nach Wien hingebracht und uns einen schäbigen Ochsen

*) Marschall an Hardenberg, 5. März 1815.

II. 1. Der Wiener Congreß.
bairiſchen Politik hindurchgezogen. Namentlich der Kronprinz Ludwig war
völlig beherrſcht von dieſem Gedanken; er ſollte ſein ſchönes geliebtes
Salzburg, wo er die letzten Jahre über Hof gehalten, jetzt an Oeſterreich
ausliefern und wollte dafür mindeſtens die „Wiege ſeines Geſchlechts“
zurückerwerben, obgleich durchaus kein Rechtsgrund den Anſpruch unter-
ſtützte. Baiern hatte vor Jahren die rechtsrheiniſche Pfalz gegen über-
reichliche Entſchädigung, ohne jeden Vorbehalt abgetreten, und es ließ ſich
ſchlechterdings nicht abſehen, warum das Land wieder an die Wittelsbacher
zurückfallen ſollte ſobald die Erbfolge in Baden auf die Grafen von Hoch-
berg überging. Nur die Mißgunſt der Großmächte gegen das nachläſſige
Regiment des Großherzogs Karl von Baden hat eine Zeit lang dieſe
bairiſchen Anmaßungen begünſtigt. Aber der Aprilvertrag war todtge-
boren, denn er behielt ausdrücklich „die Zuſtimmung der betheiligten Sou-
veräne“ vor; und dieſe, Württemberg, Baden, beide Heſſen, erhoben ſo-
fort lauten Einſpruch. Der badiſche Bevollmächtigte Marſchall hatte ſchon
früher dem Staatskanzler geſchrieben: „Ludwig XIV. hat durch alle
blutigen Kriege, die Europa während ſeiner Regierung erſchütterten, nicht
eine Million Einwohner für die franzöſiſche Monarchie erworben, und
nun will Baiern durch einen coup de main im Wege der Unterhand-
lungen ſich um 400,000 Unterthanen bereichern.“*) Jetzt erneuerte er
ſeinen Proteſt. Auch König Friedrich Wilhelm fand es höchſt unbillig,
daß Hanau ohne jeden Rechtsgrund von Kurheſſen abgeriſſen werden
ſollte. So geſchah es, daß der Aprilvertrag nicht ratificirt wurde, und die
Schlußacte des Congreſſes die Streitfrage offen ließ. —

Unter ſolchen Kämpfen kam die Wiederherſtellung der preußiſchen
Monarchie zu Stande. Das Ergebniß der Wiener Verhandlungen war
eine halbe Niederlage der preußiſchen Politik; weder am Rhein noch in
Sachſen noch an der polniſchen Grenze hatte ſie ihre Ziele vollſtändig
erreicht. Der Staat war gegen den Beſitzſtand von 1805 um volle
600 Geviertmeilen kleiner und nur um kaum eine halbe Million Ein-
wohner ſtärker geworden, er hatte die verſprochene Abrundung nicht er-
langt, ſondern zerfiel wieder wie vor Alters in zwei weit entlegene Maſſen.
Zudem war ein den Hohenzollern verfeindetes Fürſtenhaus wieder einge-
ſetzt, ein lebensunfähiger Mittelſtaat, der niemals wieder zu geſunden
politiſchen Zuſtänden gelangen konnte, aufs Neue hergeſtellt. Die vier
Kleinkönige beherrſchten faſt ein Viertel von dem Gebiete des Deutſchen
Bundes; die Lieblingsſchöpfung Napoleons, die neue Macht der Mittel-
ſtaaten hatte alle Stürme der Zeit überdauert. Im preußiſchen Volke
erregte der Ausgang des diplomatiſchen Kampfes tiefe Verſtimmung. Ganz
im Sinne der öffentlichen Meinung ſchrieb Blücher: wir haben einen
tüchtigen Bullen nach Wien hingebracht und uns einen ſchäbigen Ochſen

*) Marſchall an Hardenberg, 5. März 1815.
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[670/0686] II. 1. Der Wiener Congreß. bairiſchen Politik hindurchgezogen. Namentlich der Kronprinz Ludwig war völlig beherrſcht von dieſem Gedanken; er ſollte ſein ſchönes geliebtes Salzburg, wo er die letzten Jahre über Hof gehalten, jetzt an Oeſterreich ausliefern und wollte dafür mindeſtens die „Wiege ſeines Geſchlechts“ zurückerwerben, obgleich durchaus kein Rechtsgrund den Anſpruch unter- ſtützte. Baiern hatte vor Jahren die rechtsrheiniſche Pfalz gegen über- reichliche Entſchädigung, ohne jeden Vorbehalt abgetreten, und es ließ ſich ſchlechterdings nicht abſehen, warum das Land wieder an die Wittelsbacher zurückfallen ſollte ſobald die Erbfolge in Baden auf die Grafen von Hoch- berg überging. Nur die Mißgunſt der Großmächte gegen das nachläſſige Regiment des Großherzogs Karl von Baden hat eine Zeit lang dieſe bairiſchen Anmaßungen begünſtigt. Aber der Aprilvertrag war todtge- boren, denn er behielt ausdrücklich „die Zuſtimmung der betheiligten Sou- veräne“ vor; und dieſe, Württemberg, Baden, beide Heſſen, erhoben ſo- fort lauten Einſpruch. Der badiſche Bevollmächtigte Marſchall hatte ſchon früher dem Staatskanzler geſchrieben: „Ludwig XIV. hat durch alle blutigen Kriege, die Europa während ſeiner Regierung erſchütterten, nicht eine Million Einwohner für die franzöſiſche Monarchie erworben, und nun will Baiern durch einen coup de main im Wege der Unterhand- lungen ſich um 400,000 Unterthanen bereichern.“ *) Jetzt erneuerte er ſeinen Proteſt. Auch König Friedrich Wilhelm fand es höchſt unbillig, daß Hanau ohne jeden Rechtsgrund von Kurheſſen abgeriſſen werden ſollte. So geſchah es, daß der Aprilvertrag nicht ratificirt wurde, und die Schlußacte des Congreſſes die Streitfrage offen ließ. — Unter ſolchen Kämpfen kam die Wiederherſtellung der preußiſchen Monarchie zu Stande. Das Ergebniß der Wiener Verhandlungen war eine halbe Niederlage der preußiſchen Politik; weder am Rhein noch in Sachſen noch an der polniſchen Grenze hatte ſie ihre Ziele vollſtändig erreicht. Der Staat war gegen den Beſitzſtand von 1805 um volle 600 Geviertmeilen kleiner und nur um kaum eine halbe Million Ein- wohner ſtärker geworden, er hatte die verſprochene Abrundung nicht er- langt, ſondern zerfiel wieder wie vor Alters in zwei weit entlegene Maſſen. Zudem war ein den Hohenzollern verfeindetes Fürſtenhaus wieder einge- ſetzt, ein lebensunfähiger Mittelſtaat, der niemals wieder zu geſunden politiſchen Zuſtänden gelangen konnte, aufs Neue hergeſtellt. Die vier Kleinkönige beherrſchten faſt ein Viertel von dem Gebiete des Deutſchen Bundes; die Lieblingsſchöpfung Napoleons, die neue Macht der Mittel- ſtaaten hatte alle Stürme der Zeit überdauert. Im preußiſchen Volke erregte der Ausgang des diplomatiſchen Kampfes tiefe Verſtimmung. Ganz im Sinne der öffentlichen Meinung ſchrieb Blücher: wir haben einen tüchtigen Bullen nach Wien hingebracht und uns einen ſchäbigen Ochſen *) Marſchall an Hardenberg, 5. März 1815.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 670. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/686>, abgerufen am 22.11.2024.