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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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II. 1. Der Wiener Congreß.
meinsame Gefahr führte die vier alliirten Mächte aufs Neue zusammen,
die letzten noch offenen Gebietsfragen wurden rasch abgethan. Vergeblich
versuchte Napoleon die erneuerte Coalition zu sprengen, indem er die Ur-
kunde des Vertrags vom 3. Januar, die er in den Tuilerien im Schreib-
tische Ludwigs XVIII. vorgefunden, dem Czaren übersendete. Alexander
verbrannte das unsaubere Actenstück in Gegenwart Steins vor Metternichs
unbeschämten Augen. Man wollte der vergangenen Untreue nicht mehr
gedenken.

Die Rückkehr des Imperators brachte die unter der Hand langsam
fortgeführten Verhandlungen über Italiens Zukunft endlich zum Abschluß.
Auch hier im Süden bewährte sich England als der vertrauteste Bundes-
genosse der Hofburg. Aber mit Rußlands Hilfe durchkreuzten die Piemon-
tesen d'Aglie und Brusasco die geheime Absicht Metternichs, einen ita-
lienischen Fürstenbund unter Oesterreichs Führung zu stiften. Auch der
Wunsch Oesterreichs, die Linie Savoyen-Carignan von der Thronfolge in
Piemont auszuschließen erwies sich als unausführbar, da Rußland und
Frankreich entschieden widersprachen. Um so zäher hielt die Hofburg ihre
alten Ansprüche auf die Legationen fest; sie hatte den gesammten Kirchen-
staat durch ihre Truppen besetzt und hoffte sicher, mindestens die Lande
nördlich des Apennin zu behalten. Metternich verwarf den Vorschlag der
bourbonischen Höfe, daß ein italienischer Ausschuß, nach dem Vorbilde des
deutschen, auf dem Congresse gebildet würde um die Frage zu entscheiden:
er fürchtete überstimmt zu werden, zumal da die Bourbonen auch auf
Toscana Ansprüche erhoben. Inzwischen begann es auf der Halbinsel zu
gähren; die voreilige Freude der Lombarden über den Einzug der Tedeschi
wich bald einer tiefen Verstimmung, das Volk in der Romagna rottete
sich zusammen wider die österreichischen Truppen, einzelne patriotische
Verschwörer verkehrten insgeheim mit dem Gefangenen von Elba. Als
nun der Größte der Italiener seinen abenteuerlichen Zug antrat und
Murat in Neapel zum Kriege rüstete, da mußte man in Wien unberechen-
bare Wirren befürchten. Man lenkte klug ein und verständigte sich rasch
mit den sogenannten legitimen Mächten der Halbinsel: Toscana wurde
für die Erzherzöge gerettet, die Bourbonen vorläufig mit Lucca abgefun-
den, der gesammte alte Kirchenstaat aber dem Papste zurückgegeben; allein
die Polesina, das fette Niederungsland der Pomündungen, blieb den
Oesterreichern. Preußen betheiligte sich an diesen Verhandlungen wenig;
nur hielt der König für Fürstenpflicht, aus Rücksicht auf seine neuen
katholischen Unterthanen sich wiederholt und nachdrücklich für die Wieder-
herstellung des Kirchenstaates zu verwenden; nach der allgemeinen Ansicht
jener romantischen Tage war ja der Bestand der römischen Kirche unzer-
trennlich von der weltlichen Macht des Papstthums. In einem feierlichen
Proteste verwahrte sich der römische Stuhl gegen die Schmälerung des
Kirchenstaates. Niemand achtete darauf. Das moderne Europa war be-

II. 1. Der Wiener Congreß.
meinſame Gefahr führte die vier alliirten Mächte aufs Neue zuſammen,
die letzten noch offenen Gebietsfragen wurden raſch abgethan. Vergeblich
verſuchte Napoleon die erneuerte Coalition zu ſprengen, indem er die Ur-
kunde des Vertrags vom 3. Januar, die er in den Tuilerien im Schreib-
tiſche Ludwigs XVIII. vorgefunden, dem Czaren überſendete. Alexander
verbrannte das unſaubere Actenſtück in Gegenwart Steins vor Metternichs
unbeſchämten Augen. Man wollte der vergangenen Untreue nicht mehr
gedenken.

Die Rückkehr des Imperators brachte die unter der Hand langſam
fortgeführten Verhandlungen über Italiens Zukunft endlich zum Abſchluß.
Auch hier im Süden bewährte ſich England als der vertrauteſte Bundes-
genoſſe der Hofburg. Aber mit Rußlands Hilfe durchkreuzten die Piemon-
teſen d’Aglié und Bruſasco die geheime Abſicht Metternichs, einen ita-
lieniſchen Fürſtenbund unter Oeſterreichs Führung zu ſtiften. Auch der
Wunſch Oeſterreichs, die Linie Savoyen-Carignan von der Thronfolge in
Piemont auszuſchließen erwies ſich als unausführbar, da Rußland und
Frankreich entſchieden widerſprachen. Um ſo zäher hielt die Hofburg ihre
alten Anſprüche auf die Legationen feſt; ſie hatte den geſammten Kirchen-
ſtaat durch ihre Truppen beſetzt und hoffte ſicher, mindeſtens die Lande
nördlich des Apennin zu behalten. Metternich verwarf den Vorſchlag der
bourboniſchen Höfe, daß ein italieniſcher Ausſchuß, nach dem Vorbilde des
deutſchen, auf dem Congreſſe gebildet würde um die Frage zu entſcheiden:
er fürchtete überſtimmt zu werden, zumal da die Bourbonen auch auf
Toscana Anſprüche erhoben. Inzwiſchen begann es auf der Halbinſel zu
gähren; die voreilige Freude der Lombarden über den Einzug der Tedeschi
wich bald einer tiefen Verſtimmung, das Volk in der Romagna rottete
ſich zuſammen wider die öſterreichiſchen Truppen, einzelne patriotiſche
Verſchwörer verkehrten insgeheim mit dem Gefangenen von Elba. Als
nun der Größte der Italiener ſeinen abenteuerlichen Zug antrat und
Murat in Neapel zum Kriege rüſtete, da mußte man in Wien unberechen-
bare Wirren befürchten. Man lenkte klug ein und verſtändigte ſich raſch
mit den ſogenannten legitimen Mächten der Halbinſel: Toscana wurde
für die Erzherzöge gerettet, die Bourbonen vorläufig mit Lucca abgefun-
den, der geſammte alte Kirchenſtaat aber dem Papſte zurückgegeben; allein
die Poleſina, das fette Niederungsland der Pomündungen, blieb den
Oeſterreichern. Preußen betheiligte ſich an dieſen Verhandlungen wenig;
nur hielt der König für Fürſtenpflicht, aus Rückſicht auf ſeine neuen
katholiſchen Unterthanen ſich wiederholt und nachdrücklich für die Wieder-
herſtellung des Kirchenſtaates zu verwenden; nach der allgemeinen Anſicht
jener romantiſchen Tage war ja der Beſtand der römiſchen Kirche unzer-
trennlich von der weltlichen Macht des Papſtthums. In einem feierlichen
Proteſte verwahrte ſich der römiſche Stuhl gegen die Schmälerung des
Kirchenſtaates. Niemand achtete darauf. Das moderne Europa war be-

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[660/0676] II. 1. Der Wiener Congreß. meinſame Gefahr führte die vier alliirten Mächte aufs Neue zuſammen, die letzten noch offenen Gebietsfragen wurden raſch abgethan. Vergeblich verſuchte Napoleon die erneuerte Coalition zu ſprengen, indem er die Ur- kunde des Vertrags vom 3. Januar, die er in den Tuilerien im Schreib- tiſche Ludwigs XVIII. vorgefunden, dem Czaren überſendete. Alexander verbrannte das unſaubere Actenſtück in Gegenwart Steins vor Metternichs unbeſchämten Augen. Man wollte der vergangenen Untreue nicht mehr gedenken. Die Rückkehr des Imperators brachte die unter der Hand langſam fortgeführten Verhandlungen über Italiens Zukunft endlich zum Abſchluß. Auch hier im Süden bewährte ſich England als der vertrauteſte Bundes- genoſſe der Hofburg. Aber mit Rußlands Hilfe durchkreuzten die Piemon- teſen d’Aglié und Bruſasco die geheime Abſicht Metternichs, einen ita- lieniſchen Fürſtenbund unter Oeſterreichs Führung zu ſtiften. Auch der Wunſch Oeſterreichs, die Linie Savoyen-Carignan von der Thronfolge in Piemont auszuſchließen erwies ſich als unausführbar, da Rußland und Frankreich entſchieden widerſprachen. Um ſo zäher hielt die Hofburg ihre alten Anſprüche auf die Legationen feſt; ſie hatte den geſammten Kirchen- ſtaat durch ihre Truppen beſetzt und hoffte ſicher, mindeſtens die Lande nördlich des Apennin zu behalten. Metternich verwarf den Vorſchlag der bourboniſchen Höfe, daß ein italieniſcher Ausſchuß, nach dem Vorbilde des deutſchen, auf dem Congreſſe gebildet würde um die Frage zu entſcheiden: er fürchtete überſtimmt zu werden, zumal da die Bourbonen auch auf Toscana Anſprüche erhoben. Inzwiſchen begann es auf der Halbinſel zu gähren; die voreilige Freude der Lombarden über den Einzug der Tedeschi wich bald einer tiefen Verſtimmung, das Volk in der Romagna rottete ſich zuſammen wider die öſterreichiſchen Truppen, einzelne patriotiſche Verſchwörer verkehrten insgeheim mit dem Gefangenen von Elba. Als nun der Größte der Italiener ſeinen abenteuerlichen Zug antrat und Murat in Neapel zum Kriege rüſtete, da mußte man in Wien unberechen- bare Wirren befürchten. Man lenkte klug ein und verſtändigte ſich raſch mit den ſogenannten legitimen Mächten der Halbinſel: Toscana wurde für die Erzherzöge gerettet, die Bourbonen vorläufig mit Lucca abgefun- den, der geſammte alte Kirchenſtaat aber dem Papſte zurückgegeben; allein die Poleſina, das fette Niederungsland der Pomündungen, blieb den Oeſterreichern. Preußen betheiligte ſich an dieſen Verhandlungen wenig; nur hielt der König für Fürſtenpflicht, aus Rückſicht auf ſeine neuen katholiſchen Unterthanen ſich wiederholt und nachdrücklich für die Wieder- herſtellung des Kirchenſtaates zu verwenden; nach der allgemeinen Anſicht jener romantiſchen Tage war ja der Beſtand der römiſchen Kirche unzer- trennlich von der weltlichen Macht des Papſtthums. In einem feierlichen Proteſte verwahrte ſich der römiſche Stuhl gegen die Schmälerung des Kirchenſtaates. Niemand achtete darauf. Das moderne Europa war be-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 660. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/676>, abgerufen am 22.11.2024.