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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Die Verträge über Polen.
dem polnisch-ruthenischen Galizien oder Rußland zu der Hauptmasse der
alten Adelsrepublik? Wollten die Ostmächte diese neue unberufene An-
maßung Englands nach Gebühr abfertigen, so mußten sie das Cabinet
von St. James verbindlich ersuchen, zuvörderst die Iren als Iren zu be-
handeln. Sie verschmähten jedoch weislich, einen neuen müßigen Streit
zu erregen und antworteten mit höflich nichtssagenden Noten. Hardenberg
erwiderte (30. Jan.): Preußen sei bereit dem Posener Lande eine den Ge-
wohnheiten und dem Geiste der Einwohner entsprechende Verwaltung zu
geben und zu zeigen, daß das nationale Dasein der Völker unter jeder
Regierung unangetastet bleiben könne. Auf eine Beschränkung der eigenen
Souveränität ließ er sich nicht ein. Es war für Oesterreich wie für
Preußen gebieterische Pflicht, sich nicht die Hände zu binden, da Niemand
den Verlauf der polnischen Experimente Alexanders berechnen konnte; auch
der Czar selber wünschte nicht, in seinen völkerbeglückenden Plänen beauf-
sichtigt zu werden. Daher enthielt weder die Schlußacte des Congresses
noch der Vertrag der drei Theilungsmächte vom 3. Mai irgend ein Wort,
das die Polen zu politischer Selbständigkeit berechtigte. Die drei Mächte
versprachen lediglich: "ihre polnischen Unterthanen sollen Institutionen
erhalten, welche die Bewahrung ihres Volksthums sichern, in Gemäßheit
der Staatsformen, welche jede der betheiligten Regierungen ihnen zu ge-
währen für gut finden wird." Dazu die Zusage freien, höchstens durch
einen Zoll von 10 Procent beschwerten Handels mit den eigenen Erzeug-
nissen der vormals polnischen Landestheile, freier Durchfuhr gegen mäßige
Zölle und freier (d. h. unverbotener) Schifffahrt auf den polnischen
Flüssen bis in die Seehäfen. Die Theilungsmächte waren mithin nur
verpflichtet, Sprache und Sitte des Volkes zu schonen, desgleichen dem
Handel einige geringfügige Begünstigungen zu gewähren; in allem Uebrigen
behielten sie freie Hand.

Gegen Mitte Februars waren die Gebietsverhandlungen zwischen den
Großmächten nahezu beendigt. Talleyrands Kriegslust hatte an dem tiefen
Friedensbedürfniß der ermüdeten Zeit zuletzt doch einen unüberwindlichen
Widerstand gefunden; in dem Comite der Fünf gewann er keinen ent-
scheidenden Einfluß, und die kläffende Meute seiner rheinbündlerischen Ge-
nossen wurde von den großen Mächten kurzweg zur Seite geschoben. Die
deutsche Verfassung blieb freilich noch in tiefem Dunkel; doch da der
Hofburg an der raschen Lösung dieser Frage wenig lag, so entwarf Gentz
schon jetzt ein pomphaftes Manifest, das der bewundernden Welt verkünden
sollte: "die große Arbeit des Congresses ist beendigt." Da kehrte Napo-
leon von Elba zurück, das von Talleyrand so prahlerisch geschilderte
Kartenhaus der bourbonischen Herrlichkeit stob vor dem Hauche des Im-
perators in alle Winde. Der französische Minister, der soeben noch
pathetisch versichert hatte, Millionen französischer Fäuste würden sich gegen
den Corsen erheben, ward über Nacht ein machtloser Mann. Die ge-

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Die Verträge über Polen.
dem polniſch-rutheniſchen Galizien oder Rußland zu der Hauptmaſſe der
alten Adelsrepublik? Wollten die Oſtmächte dieſe neue unberufene An-
maßung Englands nach Gebühr abfertigen, ſo mußten ſie das Cabinet
von St. James verbindlich erſuchen, zuvörderſt die Iren als Iren zu be-
handeln. Sie verſchmähten jedoch weislich, einen neuen müßigen Streit
zu erregen und antworteten mit höflich nichtsſagenden Noten. Hardenberg
erwiderte (30. Jan.): Preußen ſei bereit dem Poſener Lande eine den Ge-
wohnheiten und dem Geiſte der Einwohner entſprechende Verwaltung zu
geben und zu zeigen, daß das nationale Daſein der Völker unter jeder
Regierung unangetaſtet bleiben könne. Auf eine Beſchränkung der eigenen
Souveränität ließ er ſich nicht ein. Es war für Oeſterreich wie für
Preußen gebieteriſche Pflicht, ſich nicht die Hände zu binden, da Niemand
den Verlauf der polniſchen Experimente Alexanders berechnen konnte; auch
der Czar ſelber wünſchte nicht, in ſeinen völkerbeglückenden Plänen beauf-
ſichtigt zu werden. Daher enthielt weder die Schlußacte des Congreſſes
noch der Vertrag der drei Theilungsmächte vom 3. Mai irgend ein Wort,
das die Polen zu politiſcher Selbſtändigkeit berechtigte. Die drei Mächte
verſprachen lediglich: „ihre polniſchen Unterthanen ſollen Inſtitutionen
erhalten, welche die Bewahrung ihres Volksthums ſichern, in Gemäßheit
der Staatsformen, welche jede der betheiligten Regierungen ihnen zu ge-
währen für gut finden wird.“ Dazu die Zuſage freien, höchſtens durch
einen Zoll von 10 Procent beſchwerten Handels mit den eigenen Erzeug-
niſſen der vormals polniſchen Landestheile, freier Durchfuhr gegen mäßige
Zölle und freier (d. h. unverbotener) Schifffahrt auf den polniſchen
Flüſſen bis in die Seehäfen. Die Theilungsmächte waren mithin nur
verpflichtet, Sprache und Sitte des Volkes zu ſchonen, desgleichen dem
Handel einige geringfügige Begünſtigungen zu gewähren; in allem Uebrigen
behielten ſie freie Hand.

Gegen Mitte Februars waren die Gebietsverhandlungen zwiſchen den
Großmächten nahezu beendigt. Talleyrands Kriegsluſt hatte an dem tiefen
Friedensbedürfniß der ermüdeten Zeit zuletzt doch einen unüberwindlichen
Widerſtand gefunden; in dem Comité der Fünf gewann er keinen ent-
ſcheidenden Einfluß, und die kläffende Meute ſeiner rheinbündleriſchen Ge-
noſſen wurde von den großen Mächten kurzweg zur Seite geſchoben. Die
deutſche Verfaſſung blieb freilich noch in tiefem Dunkel; doch da der
Hofburg an der raſchen Löſung dieſer Frage wenig lag, ſo entwarf Gentz
ſchon jetzt ein pomphaftes Manifeſt, das der bewundernden Welt verkünden
ſollte: „die große Arbeit des Congreſſes iſt beendigt.“ Da kehrte Napo-
leon von Elba zurück, das von Talleyrand ſo prahleriſch geſchilderte
Kartenhaus der bourboniſchen Herrlichkeit ſtob vor dem Hauche des Im-
perators in alle Winde. Der franzöſiſche Miniſter, der ſoeben noch
pathetiſch verſichert hatte, Millionen franzöſiſcher Fäuſte würden ſich gegen
den Corſen erheben, ward über Nacht ein machtloſer Mann. Die ge-

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[659/0675] Die Verträge über Polen. dem polniſch-rutheniſchen Galizien oder Rußland zu der Hauptmaſſe der alten Adelsrepublik? Wollten die Oſtmächte dieſe neue unberufene An- maßung Englands nach Gebühr abfertigen, ſo mußten ſie das Cabinet von St. James verbindlich erſuchen, zuvörderſt die Iren als Iren zu be- handeln. Sie verſchmähten jedoch weislich, einen neuen müßigen Streit zu erregen und antworteten mit höflich nichtsſagenden Noten. Hardenberg erwiderte (30. Jan.): Preußen ſei bereit dem Poſener Lande eine den Ge- wohnheiten und dem Geiſte der Einwohner entſprechende Verwaltung zu geben und zu zeigen, daß das nationale Daſein der Völker unter jeder Regierung unangetaſtet bleiben könne. Auf eine Beſchränkung der eigenen Souveränität ließ er ſich nicht ein. Es war für Oeſterreich wie für Preußen gebieteriſche Pflicht, ſich nicht die Hände zu binden, da Niemand den Verlauf der polniſchen Experimente Alexanders berechnen konnte; auch der Czar ſelber wünſchte nicht, in ſeinen völkerbeglückenden Plänen beauf- ſichtigt zu werden. Daher enthielt weder die Schlußacte des Congreſſes noch der Vertrag der drei Theilungsmächte vom 3. Mai irgend ein Wort, das die Polen zu politiſcher Selbſtändigkeit berechtigte. Die drei Mächte verſprachen lediglich: „ihre polniſchen Unterthanen ſollen Inſtitutionen erhalten, welche die Bewahrung ihres Volksthums ſichern, in Gemäßheit der Staatsformen, welche jede der betheiligten Regierungen ihnen zu ge- währen für gut finden wird.“ Dazu die Zuſage freien, höchſtens durch einen Zoll von 10 Procent beſchwerten Handels mit den eigenen Erzeug- niſſen der vormals polniſchen Landestheile, freier Durchfuhr gegen mäßige Zölle und freier (d. h. unverbotener) Schifffahrt auf den polniſchen Flüſſen bis in die Seehäfen. Die Theilungsmächte waren mithin nur verpflichtet, Sprache und Sitte des Volkes zu ſchonen, desgleichen dem Handel einige geringfügige Begünſtigungen zu gewähren; in allem Uebrigen behielten ſie freie Hand. Gegen Mitte Februars waren die Gebietsverhandlungen zwiſchen den Großmächten nahezu beendigt. Talleyrands Kriegsluſt hatte an dem tiefen Friedensbedürfniß der ermüdeten Zeit zuletzt doch einen unüberwindlichen Widerſtand gefunden; in dem Comité der Fünf gewann er keinen ent- ſcheidenden Einfluß, und die kläffende Meute ſeiner rheinbündleriſchen Ge- noſſen wurde von den großen Mächten kurzweg zur Seite geſchoben. Die deutſche Verfaſſung blieb freilich noch in tiefem Dunkel; doch da der Hofburg an der raſchen Löſung dieſer Frage wenig lag, ſo entwarf Gentz ſchon jetzt ein pomphaftes Manifeſt, das der bewundernden Welt verkünden ſollte: „die große Arbeit des Congreſſes iſt beendigt.“ Da kehrte Napo- leon von Elba zurück, das von Talleyrand ſo prahleriſch geſchilderte Kartenhaus der bourboniſchen Herrlichkeit ſtob vor dem Hauche des Im- perators in alle Winde. Der franzöſiſche Miniſter, der ſoeben noch pathetiſch verſichert hatte, Millionen franzöſiſcher Fäuſte würden ſich gegen den Corſen erheben, ward über Nacht ein machtloſer Mann. Die ge- 42*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 659. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/675>, abgerufen am 22.11.2024.