werke am rechten Ufer zu bemächtigen; sie genügten um den Platz in Schach zu halten, zur Besetzung der ganzen Festung reichten die beschei- denen Kräfte nicht aus. Auch die anderen Festungen ließ Boyen insge- heim ausrüsten. Die sächsischen Truppen am Rhein wurden ohne Auf- sehen weiter nordwärts, in die Nähe preußischer Regimenter verlegt. Von den kleinen norddeutschen Contingenten nahm Boyen an, daß sie alle- sammt, mit Ausnahme der Hannoveraner, den Fahnen Preußens folgen müßten. Die Monarchie war entschlossen sogleich als der Herr von Nord- deutschland aufzutreten; wer durfte in einem solchen Daseinskampfe nach dem Zetergeschrei und den Souveränitätsverwahrungen der Kleinfürsten fragen?
Inmitten dieser allgemeinen Verwirrung sah Talleyrand seinen Wai- zen blühen. Nachdem ihm Metternich die letzte österreichische Note über Sachsen amtlich mitgetheilt hatte, hielt sich der Franzose nunmehr be- rechtigt, selber von Amtswegen in die sächsischen Händel einzugreifen und antwortete dem österreichischen Freunde am 19. December. Da die poli- tische Frage zu einer einfachen Grenzfrage geworden sei, so sei die sächsische Angelegenheit gegenwärtig die wichtigste Principienfrage für den Welt- theil. Hier stehen die beiden Grundsätze der Legitimität und des Gleich- gewichts zugleich auf dem Spiele. Man verbreitet heute die entsetzliche Lehre, daß Könige verurtheilt werden können, daß die Strafe der Confis- cation wieder eingeführt werden darf, daß die Völker wie die Heerden eines Meierhofes getheilt werden dürfen, daß es kein öffentliches Recht giebt, "daß für den Stärkeren Alles gerecht ist." Aber Europa verflucht diese Grundsätze; "sie erregen den gleichen Abscheu in Wien, in Peters- burg, in London, in Madrid und Lissabon" (also nicht in Berlin). Die Einverleibung Sachsens würde aber auch das Gleichgewicht Europas zer- stören, inmitten des Deutschen Bundes "eine unverhältnißmäßige Angriffs- macht" schaffen. Darum Herstellung des legitimen Königs; sind einige Abtretungen zur Entschädigung Preußens unvermeidlich, so wird Frank- reich dem rechtmäßigen Herrscher dazu rathen.
Durch diese Note warf Talleyrand den geheimen Artikel des Pariser Friedens den vier Mächten zerrissen vor die Füße. Nachdem er lange nur im Dunkeln gegen den Vertrag angekämpft, drängte er sich jetzt mit einer amtlichen Denkschrift in die Territorialverhandlungen ein, von denen Frankreich vertragsmäßig ausgeschlossen war, und unterstützte den öster- reichischen Vorschlag der Theilung Sachsens -- was ihn freilich nicht abhielt, im selben Athemzuge den Fluch Europas wider die Politik der Ländervertheilung auszusprechen. Eine zweite Note des Franzosen an Castlereagh (v. 26. Dec.) schlug jenen Ton legitimistischer Salbung an, welcher den Hochtorys unwiderstehlich war. Der Zweck des Congresses ist, "die Revolution zu schließen;" früher bekämpften sich Republik und Monarchie, heute die revolutionären und die legitimen Dynastien; die
II. 1. Der Wiener Congreß.
werke am rechten Ufer zu bemächtigen; ſie genügten um den Platz in Schach zu halten, zur Beſetzung der ganzen Feſtung reichten die beſchei- denen Kräfte nicht aus. Auch die anderen Feſtungen ließ Boyen insge- heim ausrüſten. Die ſächſiſchen Truppen am Rhein wurden ohne Auf- ſehen weiter nordwärts, in die Nähe preußiſcher Regimenter verlegt. Von den kleinen norddeutſchen Contingenten nahm Boyen an, daß ſie alle- ſammt, mit Ausnahme der Hannoveraner, den Fahnen Preußens folgen müßten. Die Monarchie war entſchloſſen ſogleich als der Herr von Nord- deutſchland aufzutreten; wer durfte in einem ſolchen Daſeinskampfe nach dem Zetergeſchrei und den Souveränitätsverwahrungen der Kleinfürſten fragen?
Inmitten dieſer allgemeinen Verwirrung ſah Talleyrand ſeinen Wai- zen blühen. Nachdem ihm Metternich die letzte öſterreichiſche Note über Sachſen amtlich mitgetheilt hatte, hielt ſich der Franzoſe nunmehr be- rechtigt, ſelber von Amtswegen in die ſächſiſchen Händel einzugreifen und antwortete dem öſterreichiſchen Freunde am 19. December. Da die poli- tiſche Frage zu einer einfachen Grenzfrage geworden ſei, ſo ſei die ſächſiſche Angelegenheit gegenwärtig die wichtigſte Principienfrage für den Welt- theil. Hier ſtehen die beiden Grundſätze der Legitimität und des Gleich- gewichts zugleich auf dem Spiele. Man verbreitet heute die entſetzliche Lehre, daß Könige verurtheilt werden können, daß die Strafe der Confis- cation wieder eingeführt werden darf, daß die Völker wie die Heerden eines Meierhofes getheilt werden dürfen, daß es kein öffentliches Recht giebt, „daß für den Stärkeren Alles gerecht iſt.“ Aber Europa verflucht dieſe Grundſätze; „ſie erregen den gleichen Abſcheu in Wien, in Peters- burg, in London, in Madrid und Liſſabon“ (alſo nicht in Berlin). Die Einverleibung Sachſens würde aber auch das Gleichgewicht Europas zer- ſtören, inmitten des Deutſchen Bundes „eine unverhältnißmäßige Angriffs- macht“ ſchaffen. Darum Herſtellung des legitimen Königs; ſind einige Abtretungen zur Entſchädigung Preußens unvermeidlich, ſo wird Frank- reich dem rechtmäßigen Herrſcher dazu rathen.
Durch dieſe Note warf Talleyrand den geheimen Artikel des Pariſer Friedens den vier Mächten zerriſſen vor die Füße. Nachdem er lange nur im Dunkeln gegen den Vertrag angekämpft, drängte er ſich jetzt mit einer amtlichen Denkſchrift in die Territorialverhandlungen ein, von denen Frankreich vertragsmäßig ausgeſchloſſen war, und unterſtützte den öſter- reichiſchen Vorſchlag der Theilung Sachſens — was ihn freilich nicht abhielt, im ſelben Athemzuge den Fluch Europas wider die Politik der Ländervertheilung auszuſprechen. Eine zweite Note des Franzoſen an Caſtlereagh (v. 26. Dec.) ſchlug jenen Ton legitimiſtiſcher Salbung an, welcher den Hochtorys unwiderſtehlich war. Der Zweck des Congreſſes iſt, „die Revolution zu ſchließen;“ früher bekämpften ſich Republik und Monarchie, heute die revolutionären und die legitimen Dynaſtien; die
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werke am rechten Ufer zu bemächtigen; ſie genügten um den Platz in
Schach zu halten, zur Beſetzung der ganzen Feſtung reichten die beſchei-
denen Kräfte nicht aus. Auch die anderen Feſtungen ließ Boyen insge-
heim ausrüſten. Die ſächſiſchen Truppen am Rhein wurden ohne Auf-
ſehen weiter nordwärts, in die Nähe preußiſcher Regimenter verlegt. Von
den kleinen norddeutſchen Contingenten nahm Boyen an, daß ſie alle-
ſammt, mit Ausnahme der Hannoveraner, den Fahnen Preußens folgen
müßten. Die Monarchie war entſchloſſen ſogleich als der Herr von Nord-
deutſchland aufzutreten; wer durfte in einem ſolchen Daſeinskampfe nach
dem Zetergeſchrei und den Souveränitätsverwahrungen der Kleinfürſten
fragen?
Inmitten dieſer allgemeinen Verwirrung ſah Talleyrand ſeinen Wai-
zen blühen. Nachdem ihm Metternich die letzte öſterreichiſche Note über
Sachſen amtlich mitgetheilt hatte, hielt ſich der Franzoſe nunmehr be-
rechtigt, ſelber von Amtswegen in die ſächſiſchen Händel einzugreifen und
antwortete dem öſterreichiſchen Freunde am 19. December. Da die poli-
tiſche Frage zu einer einfachen Grenzfrage geworden ſei, ſo ſei die ſächſiſche
Angelegenheit gegenwärtig die wichtigſte Principienfrage für den Welt-
theil. Hier ſtehen die beiden Grundſätze der Legitimität und des Gleich-
gewichts zugleich auf dem Spiele. Man verbreitet heute die entſetzliche
Lehre, daß Könige verurtheilt werden können, daß die Strafe der Confis-
cation wieder eingeführt werden darf, daß die Völker wie die Heerden
eines Meierhofes getheilt werden dürfen, daß es kein öffentliches Recht
giebt, „daß für den Stärkeren Alles gerecht iſt.“ Aber Europa verflucht
dieſe Grundſätze; „ſie erregen den gleichen Abſcheu in Wien, in Peters-
burg, in London, in Madrid und Liſſabon“ (alſo nicht in Berlin). Die
Einverleibung Sachſens würde aber auch das Gleichgewicht Europas zer-
ſtören, inmitten des Deutſchen Bundes „eine unverhältnißmäßige Angriffs-
macht“ ſchaffen. Darum Herſtellung des legitimen Königs; ſind einige
Abtretungen zur Entſchädigung Preußens unvermeidlich, ſo wird Frank-
reich dem rechtmäßigen Herrſcher dazu rathen.
Durch dieſe Note warf Talleyrand den geheimen Artikel des Pariſer
Friedens den vier Mächten zerriſſen vor die Füße. Nachdem er lange
nur im Dunkeln gegen den Vertrag angekämpft, drängte er ſich jetzt mit
einer amtlichen Denkſchrift in die Territorialverhandlungen ein, von denen
Frankreich vertragsmäßig ausgeſchloſſen war, und unterſtützte den öſter-
reichiſchen Vorſchlag der Theilung Sachſens — was ihn freilich nicht
abhielt, im ſelben Athemzuge den Fluch Europas wider die Politik der
Ländervertheilung auszuſprechen. Eine zweite Note des Franzoſen an
Caſtlereagh (v. 26. Dec.) ſchlug jenen Ton legitimiſtiſcher Salbung an,
welcher den Hochtorys unwiderſtehlich war. Der Zweck des Congreſſes
iſt, „die Revolution zu ſchließen;“ früher bekämpften ſich Republik und
Monarchie, heute die revolutionären und die legitimen Dynaſtien; die
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 650. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/666>, abgerufen am 22.11.2024.
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