sollte Preußen die österreichische Nachbarschaft der russischen vorziehen oder gar die Ansprüche der Hofburg auf Zamosz und die Niederungen der Nida unterstützen? Nachdem der König entschieden hatte, war es geboten sofort mit Rußland die Grenzfrage ins Reine zu bringen.
Hardenberg aber hatte sich schon allzu tief eingelassen in die englisch- österreichischen Zettelungen; er konnte das Mißtrauen gegen Rußland nicht überwinden. Alle seine ehrlichen Hoffnungen für Deutschlands Zukunft beruhten auf dem Bündniß der "drei deutschen Großmächte". Darum wollte er auch jetzt noch eine Mittellinie zwischen den beiden Parteien ein- halten und schrieb am Tage nach jenem Gespräche (7. November) ver- traulich an Castlereagh. Er hütete sich wohl, von dem Befehle des Königs etwas zu sagen und erzählte nur, wie er im Verlaufe jener Unterredung die Ueberzeugung gewonnen habe, daß man Alexanders polnische Königs- krone anerkennen müsse. Für Preußen verlangte er nochmals die Warthe- linie und Thorn, für Oesterreich das Land bis zur Nida, Krakau und Zamosz, obgleich Metternich selber auf letzteren Platz wenig Werth legte. -- Es war kaum möglich ungeschickter zu verfahren. Der Staatskanzler setzte sich zwischen zwei Stühle; durch die Anerkennung des Königreichs Polen gab er der Hofburg willkommenen Anlaß über Preußens Verrath zu klagen, und zugleich stieß er den Czaren vor den Kopf durch die Forderung einer Grenze, welche Rußland nicht bewilligen konnte.
Auch Humboldt fügte sich nur widerstrebend dem Befehle des Königs In einer dritten Denkschrift, vom 9. November, warnte er vor der Ge- fahr, daß Oesterreich durch unser russisches Bündniß in allen deutschen Fragen uns verfeindet werde *): "Da diese Verhältnisse für Preußen immer die nächsten und wichtigsten bleiben, wird Rußland es dafür nicht ent- schädigen können. Ruhe, Gleichgewicht und Sicherheit lassen sich nicht mehr denken, wenn Preußen sich, ohne die gerechtesten und wichtigsten Gründe, von seinem natürlichen politischen Systeme, der Verbindung mit Oesterreich, Deutschland, England und Holland trennt." Immer wieder verbreitet der holde Traum des deutschen Dualismus seinen Dunstkreis um die Köpfe der preußischen Staatsmänner. Auch ein sehr sonderbarer Grund wird von Humboldts überscharfem Geiste für Hardenbergs Politik herangezogen: der Umstand nämlich, daß die beiden schlimmsten Feinde Preußens und des europäischen Friedens, Frankreich und Baiern, ebenfalls gegen Rußland kämpfen; daraus folgt nicht, wie gewöhnliche Menschen vermuthen werden, daß Preußen, mit diesen Feinden verbündet, höchst- wahrscheinlich frevelhaft betrogen würde, sondern umgekehrt, daß "Frank- reich und Baiern alles Interesse dabei verlieren, sobald Preußen auf die Seite tritt, auf welche sie sich in Absicht der polnischen Angelegenheit stellen!"
*) Humboldts Denkschrift über die polnische Frage, 9. Nov. 1814.
II. 1. Der Wiener Congreß.
ſollte Preußen die öſterreichiſche Nachbarſchaft der ruſſiſchen vorziehen oder gar die Anſprüche der Hofburg auf Zamosz und die Niederungen der Nida unterſtützen? Nachdem der König entſchieden hatte, war es geboten ſofort mit Rußland die Grenzfrage ins Reine zu bringen.
Hardenberg aber hatte ſich ſchon allzu tief eingelaſſen in die engliſch- öſterreichiſchen Zettelungen; er konnte das Mißtrauen gegen Rußland nicht überwinden. Alle ſeine ehrlichen Hoffnungen für Deutſchlands Zukunft beruhten auf dem Bündniß der „drei deutſchen Großmächte“. Darum wollte er auch jetzt noch eine Mittellinie zwiſchen den beiden Parteien ein- halten und ſchrieb am Tage nach jenem Geſpräche (7. November) ver- traulich an Caſtlereagh. Er hütete ſich wohl, von dem Befehle des Königs etwas zu ſagen und erzählte nur, wie er im Verlaufe jener Unterredung die Ueberzeugung gewonnen habe, daß man Alexanders polniſche Königs- krone anerkennen müſſe. Für Preußen verlangte er nochmals die Warthe- linie und Thorn, für Oeſterreich das Land bis zur Nida, Krakau und Zamosz, obgleich Metternich ſelber auf letzteren Platz wenig Werth legte. — Es war kaum möglich ungeſchickter zu verfahren. Der Staatskanzler ſetzte ſich zwiſchen zwei Stühle; durch die Anerkennung des Königreichs Polen gab er der Hofburg willkommenen Anlaß über Preußens Verrath zu klagen, und zugleich ſtieß er den Czaren vor den Kopf durch die Forderung einer Grenze, welche Rußland nicht bewilligen konnte.
Auch Humboldt fügte ſich nur widerſtrebend dem Befehle des Königs In einer dritten Denkſchrift, vom 9. November, warnte er vor der Ge- fahr, daß Oeſterreich durch unſer ruſſiſches Bündniß in allen deutſchen Fragen uns verfeindet werde *): „Da dieſe Verhältniſſe für Preußen immer die nächſten und wichtigſten bleiben, wird Rußland es dafür nicht ent- ſchädigen können. Ruhe, Gleichgewicht und Sicherheit laſſen ſich nicht mehr denken, wenn Preußen ſich, ohne die gerechteſten und wichtigſten Gründe, von ſeinem natürlichen politiſchen Syſteme, der Verbindung mit Oeſterreich, Deutſchland, England und Holland trennt.“ Immer wieder verbreitet der holde Traum des deutſchen Dualismus ſeinen Dunſtkreis um die Köpfe der preußiſchen Staatsmänner. Auch ein ſehr ſonderbarer Grund wird von Humboldts überſcharfem Geiſte für Hardenbergs Politik herangezogen: der Umſtand nämlich, daß die beiden ſchlimmſten Feinde Preußens und des europäiſchen Friedens, Frankreich und Baiern, ebenfalls gegen Rußland kämpfen; daraus folgt nicht, wie gewöhnliche Menſchen vermuthen werden, daß Preußen, mit dieſen Feinden verbündet, höchſt- wahrſcheinlich frevelhaft betrogen würde, ſondern umgekehrt, daß „Frank- reich und Baiern alles Intereſſe dabei verlieren, ſobald Preußen auf die Seite tritt, auf welche ſie ſich in Abſicht der polniſchen Angelegenheit ſtellen!“
*) Humboldts Denkſchrift über die polniſche Frage, 9. Nov. 1814.
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gar die Anſprüche der Hofburg auf Zamosz und die Niederungen der Nida
unterſtützen? Nachdem der König entſchieden hatte, war es geboten ſofort
mit Rußland die Grenzfrage ins Reine zu bringen.
Hardenberg aber hatte ſich ſchon allzu tief eingelaſſen in die engliſch-
öſterreichiſchen Zettelungen; er konnte das Mißtrauen gegen Rußland nicht
überwinden. Alle ſeine ehrlichen Hoffnungen für Deutſchlands Zukunft
beruhten auf dem Bündniß der „drei deutſchen Großmächte“. Darum
wollte er auch jetzt noch eine Mittellinie zwiſchen den beiden Parteien ein-
halten und ſchrieb am Tage nach jenem Geſpräche (7. November) ver-
traulich an Caſtlereagh. Er hütete ſich wohl, von dem Befehle des Königs
etwas zu ſagen und erzählte nur, wie er im Verlaufe jener Unterredung
die Ueberzeugung gewonnen habe, daß man Alexanders polniſche Königs-
krone anerkennen müſſe. Für Preußen verlangte er nochmals die Warthe-
linie und Thorn, für Oeſterreich das Land bis zur Nida, Krakau und
Zamosz, obgleich Metternich ſelber auf letzteren Platz wenig Werth legte. —
Es war kaum möglich ungeſchickter zu verfahren. Der Staatskanzler ſetzte
ſich zwiſchen zwei Stühle; durch die Anerkennung des Königreichs Polen
gab er der Hofburg willkommenen Anlaß über Preußens Verrath zu klagen,
und zugleich ſtieß er den Czaren vor den Kopf durch die Forderung einer
Grenze, welche Rußland nicht bewilligen konnte.
Auch Humboldt fügte ſich nur widerſtrebend dem Befehle des Königs
In einer dritten Denkſchrift, vom 9. November, warnte er vor der Ge-
fahr, daß Oeſterreich durch unſer ruſſiſches Bündniß in allen deutſchen
Fragen uns verfeindet werde *): „Da dieſe Verhältniſſe für Preußen immer
die nächſten und wichtigſten bleiben, wird Rußland es dafür nicht ent-
ſchädigen können. Ruhe, Gleichgewicht und Sicherheit laſſen ſich nicht
mehr denken, wenn Preußen ſich, ohne die gerechteſten und wichtigſten
Gründe, von ſeinem natürlichen politiſchen Syſteme, der Verbindung mit
Oeſterreich, Deutſchland, England und Holland trennt.“ Immer wieder
verbreitet der holde Traum des deutſchen Dualismus ſeinen Dunſtkreis
um die Köpfe der preußiſchen Staatsmänner. Auch ein ſehr ſonderbarer
Grund wird von Humboldts überſcharfem Geiſte für Hardenbergs Politik
herangezogen: der Umſtand nämlich, daß die beiden ſchlimmſten Feinde
Preußens und des europäiſchen Friedens, Frankreich und Baiern, ebenfalls
gegen Rußland kämpfen; daraus folgt nicht, wie gewöhnliche Menſchen
vermuthen werden, daß Preußen, mit dieſen Feinden verbündet, höchſt-
wahrſcheinlich frevelhaft betrogen würde, ſondern umgekehrt, daß „Frank-
reich und Baiern alles Intereſſe dabei verlieren, ſobald Preußen auf
die Seite tritt, auf welche ſie ſich in Abſicht der polniſchen Angelegenheit
ſtellen!“
*) Humboldts Denkſchrift über die polniſche Frage, 9. Nov. 1814.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 636. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/652>, abgerufen am 22.11.2024.
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