abgewendet hatte; das Weitere überließ er, nach seiner schüchternen Weise, dem Staatskanzler. Die Monarchen waren in jenem Gespräche nur über zwei Punkte übereingekommen: der König wollte, da ihm der Czar abermals den Besitz von Sachsen verbürgte, der polnischen Königskrone Alexanders nicht mehr widersprechen, und er verwarf die von Oesterreich und England verlangte Weichselgrenze als eine übertriebene, für Preußen selbst nachtheilige Forderung. Doch über die Zukunft des Landstrichs zwischen Warthe und Prosna gingen die Meinungen noch auseinander, und es war sicherlich Hardenbergs Pflicht, diese Grenzfrage sogleich durch vertrauliche Verhandlungen zu erledigen, alle zwischen Rußland und Preußen noch streitigen Punkte aus der Welt zu schaffen, um dann, wohl gedeckt durch gegenseitige bindende Verpflichtungen, mit einem ge- meinsamen Programm den Westmächten und der Hofburg entgegenzutreten. Der bestimmte Befehl des Königs hatte die Lage völlig verändert; der Staatskanzler konnte nicht mehr den Vermittler spielen, er mußte Partei ergreifen. Angesichts der unwahren Winkelzüge Metternichs, der sinnlosen Phrasen Castlereaghs, der offenbaren Feindseligkeit Talleyrands und aller kleinen Höfe war Preußen verpflichtet rücksichtslos an seine eigene Siche- rung zu denken. Dem heuchlerischen Geschrei über "den Verrath an der Sache Europas" entging man ja doch nicht mehr.
Außer der von Rußland bereits angebotenen Prosnalinie waren aber nur Thorn und die benachbarten Gebiete des alten Deutsch-Ordenslandes für Preußen unentbehrlich. Diese wichtige Position an der Weichsel und ihr deutsches Hinterland dem großen Vaterlande zurückzugeben blieb aller- dings eine unerläßliche Aufgabe der nationalen Politik. Schon auf die erste unbestimmte Nachricht von der bevorstehenden Wiedervereinigung spra- chen die Aemter Engelsburg und Rheden sofort dem Staatskanzler ihre herzliche Freude aus und schilderten beweglich, mit wie "unnennbaren Empfindungen" sie durch sieben lange Jahre dicht an ihrer Grenze das Glück der Preußen gesehen und selber das Joch der fremden Tyrannei hätten tragen müssen. *) Die Wiedererwerbung dieser treuen deutschen Lande war, wie der Erfolg gezeigt hat, keineswegs unmöglich, obgleich Czar Alexander auf das feste Thorn großen Werth legte; man mußte nur einen klaren Entschluß fassen, auf die rein polnischen Landstriche um Kalisch und Czenstochau verzichten und vor Allem Oesterreichs An- sprüche auf Krakau nicht mehr unterstützen. Krakau war, wenn Preußen die Stadt erlangen konnte, unschätzbar als Grenzfestung wie als Stapel- platz für den oberschlesischen Handel; die alte Pflanzung des deutschen Bürgerthums hätte voraussichtlich unter preußischem Scepter bald wieder ein deutsches Gepräge empfangen. Aber wie die Dinge lagen, stritten sich nur Oesterreich und Rußland um den Besitz des Platzes; und warum
*) Eingabe an Hardenberg, 5. Nov. 1814.
Wendung der preußiſchen Politik.
abgewendet hatte; das Weitere überließ er, nach ſeiner ſchüchternen Weiſe, dem Staatskanzler. Die Monarchen waren in jenem Geſpräche nur über zwei Punkte übereingekommen: der König wollte, da ihm der Czar abermals den Beſitz von Sachſen verbürgte, der polniſchen Königskrone Alexanders nicht mehr widerſprechen, und er verwarf die von Oeſterreich und England verlangte Weichſelgrenze als eine übertriebene, für Preußen ſelbſt nachtheilige Forderung. Doch über die Zukunft des Landſtrichs zwiſchen Warthe und Prosna gingen die Meinungen noch auseinander, und es war ſicherlich Hardenbergs Pflicht, dieſe Grenzfrage ſogleich durch vertrauliche Verhandlungen zu erledigen, alle zwiſchen Rußland und Preußen noch ſtreitigen Punkte aus der Welt zu ſchaffen, um dann, wohl gedeckt durch gegenſeitige bindende Verpflichtungen, mit einem ge- meinſamen Programm den Weſtmächten und der Hofburg entgegenzutreten. Der beſtimmte Befehl des Königs hatte die Lage völlig verändert; der Staatskanzler konnte nicht mehr den Vermittler ſpielen, er mußte Partei ergreifen. Angeſichts der unwahren Winkelzüge Metternichs, der ſinnloſen Phraſen Caſtlereaghs, der offenbaren Feindſeligkeit Talleyrands und aller kleinen Höfe war Preußen verpflichtet rückſichtslos an ſeine eigene Siche- rung zu denken. Dem heuchleriſchen Geſchrei über „den Verrath an der Sache Europas“ entging man ja doch nicht mehr.
Außer der von Rußland bereits angebotenen Prosnalinie waren aber nur Thorn und die benachbarten Gebiete des alten Deutſch-Ordenslandes für Preußen unentbehrlich. Dieſe wichtige Poſition an der Weichſel und ihr deutſches Hinterland dem großen Vaterlande zurückzugeben blieb aller- dings eine unerläßliche Aufgabe der nationalen Politik. Schon auf die erſte unbeſtimmte Nachricht von der bevorſtehenden Wiedervereinigung ſpra- chen die Aemter Engelsburg und Rheden ſofort dem Staatskanzler ihre herzliche Freude aus und ſchilderten beweglich, mit wie „unnennbaren Empfindungen“ ſie durch ſieben lange Jahre dicht an ihrer Grenze das Glück der Preußen geſehen und ſelber das Joch der fremden Tyrannei hätten tragen müſſen. *) Die Wiedererwerbung dieſer treuen deutſchen Lande war, wie der Erfolg gezeigt hat, keineswegs unmöglich, obgleich Czar Alexander auf das feſte Thorn großen Werth legte; man mußte nur einen klaren Entſchluß faſſen, auf die rein polniſchen Landſtriche um Kaliſch und Czenſtochau verzichten und vor Allem Oeſterreichs An- ſprüche auf Krakau nicht mehr unterſtützen. Krakau war, wenn Preußen die Stadt erlangen konnte, unſchätzbar als Grenzfeſtung wie als Stapel- platz für den oberſchleſiſchen Handel; die alte Pflanzung des deutſchen Bürgerthums hätte vorausſichtlich unter preußiſchem Scepter bald wieder ein deutſches Gepräge empfangen. Aber wie die Dinge lagen, ſtritten ſich nur Oeſterreich und Rußland um den Beſitz des Platzes; und warum
*) Eingabe an Hardenberg, 5. Nov. 1814.
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[635/0651]
Wendung der preußiſchen Politik.
abgewendet hatte; das Weitere überließ er, nach ſeiner ſchüchternen Weiſe,
dem Staatskanzler. Die Monarchen waren in jenem Geſpräche nur
über zwei Punkte übereingekommen: der König wollte, da ihm der Czar
abermals den Beſitz von Sachſen verbürgte, der polniſchen Königskrone
Alexanders nicht mehr widerſprechen, und er verwarf die von Oeſterreich
und England verlangte Weichſelgrenze als eine übertriebene, für Preußen
ſelbſt nachtheilige Forderung. Doch über die Zukunft des Landſtrichs
zwiſchen Warthe und Prosna gingen die Meinungen noch auseinander,
und es war ſicherlich Hardenbergs Pflicht, dieſe Grenzfrage ſogleich durch
vertrauliche Verhandlungen zu erledigen, alle zwiſchen Rußland und
Preußen noch ſtreitigen Punkte aus der Welt zu ſchaffen, um dann,
wohl gedeckt durch gegenſeitige bindende Verpflichtungen, mit einem ge-
meinſamen Programm den Weſtmächten und der Hofburg entgegenzutreten.
Der beſtimmte Befehl des Königs hatte die Lage völlig verändert; der
Staatskanzler konnte nicht mehr den Vermittler ſpielen, er mußte Partei
ergreifen. Angeſichts der unwahren Winkelzüge Metternichs, der ſinnloſen
Phraſen Caſtlereaghs, der offenbaren Feindſeligkeit Talleyrands und aller
kleinen Höfe war Preußen verpflichtet rückſichtslos an ſeine eigene Siche-
rung zu denken. Dem heuchleriſchen Geſchrei über „den Verrath an der
Sache Europas“ entging man ja doch nicht mehr.
Außer der von Rußland bereits angebotenen Prosnalinie waren aber
nur Thorn und die benachbarten Gebiete des alten Deutſch-Ordenslandes
für Preußen unentbehrlich. Dieſe wichtige Poſition an der Weichſel und
ihr deutſches Hinterland dem großen Vaterlande zurückzugeben blieb aller-
dings eine unerläßliche Aufgabe der nationalen Politik. Schon auf die
erſte unbeſtimmte Nachricht von der bevorſtehenden Wiedervereinigung ſpra-
chen die Aemter Engelsburg und Rheden ſofort dem Staatskanzler ihre
herzliche Freude aus und ſchilderten beweglich, mit wie „unnennbaren
Empfindungen“ ſie durch ſieben lange Jahre dicht an ihrer Grenze das
Glück der Preußen geſehen und ſelber das Joch der fremden Tyrannei
hätten tragen müſſen. *) Die Wiedererwerbung dieſer treuen deutſchen
Lande war, wie der Erfolg gezeigt hat, keineswegs unmöglich, obgleich
Czar Alexander auf das feſte Thorn großen Werth legte; man mußte
nur einen klaren Entſchluß faſſen, auf die rein polniſchen Landſtriche
um Kaliſch und Czenſtochau verzichten und vor Allem Oeſterreichs An-
ſprüche auf Krakau nicht mehr unterſtützen. Krakau war, wenn Preußen
die Stadt erlangen konnte, unſchätzbar als Grenzfeſtung wie als Stapel-
platz für den oberſchleſiſchen Handel; die alte Pflanzung des deutſchen
Bürgerthums hätte vorausſichtlich unter preußiſchem Scepter bald wieder
ein deutſches Gepräge empfangen. Aber wie die Dinge lagen, ſtritten ſich
nur Oeſterreich und Rußland um den Beſitz des Platzes; und warum
*) Eingabe an Hardenberg, 5. Nov. 1814.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 635. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/651>, abgerufen am 23.07.2024.
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