hielt: er befahl dem Staatskanzler, fortan nicht mehr feindlich gegen Ruß- land vorzugehen. Friedrich Wilhelm hatte die Wiedererwerbung der Millionen treuloser Polen nie gewünscht und konnte also nur mit Be- fremden erfahren, wie hartnäckig England und Oesterreich nach der Weichsel- grenze verlangten. Er wußte besser als Hardenberg, welche Hemmnisse sich der Einverleibung Sachsens entgegenstellten; er hatte aus vertrautem persönlichen Umgang richtig herausgefühlt, daß der Czar für Preußen mindestens mehr aufrichtiges Wohlwollen hegte als der gute Kaiser Franz. Sein schlichter Verstand begriff nicht, warum Preußen -- auf die Gefahr hin seinen besten Bundesgenossen zu verlieren -- um jeden Preis den phantastischen Gedanken des russisch-polnischen Königthums bekämpfen sollte, der für Rußland selbst weit gefährlicher war als für Deutschland. Nun, da er seine eigenen Staatsmänner rathlos hin und her schwanken sah, griff er selber durch und bewährte wieder den klaren, sicheren Soldaten- blick, den er am Tage von Kulm und so oft auf den Schlachtfeldern des letzten Winterfeldzugs gezeigt hatte. Die persönliche Neigung mag dabei mitgewirkt haben, doch der Drang des Gemüths stimmte überein mit der nüchternen politischen Berechnung.
Hardenberg fühlte sich tief gekränkt durch das entschiedene Auftreten seines königlichen Herrn und dachte ernstlich daran seinen Abschied zu for- dern; Metternich und Castlereagh suchten ihn in diesem Entschlusse zu be- stärken. Die Schwenkung des Königs wurde sofort von den gewandten Geg- nern ausgebeutet. Die Franzosen setzten ein effectvolles Märchen in Umlauf: wie Alexander durch brünstige Zärtlichkeitsbetheuerungen seinen Freund und sich selber in sanfte Rührung hineingeredet und dann dem arglosen Könige das verhängnißvolle Versprechen abgenommen habe. Die anmuthige Erfin- dung fand bei den erbosten fremden Diplomaten um so leichter Gehör, da der Entschluß des Königs ihre sämmtlichen Berechnungen über den Haufen warf; seit dem bekannten Auftritte am Grabe Friedrichs des Großen wußte ohnehin Jedermann, wie Großes der Czar in kunstvollen Rührscenen zu leisten vermochte. Talleyrand verkündete schon am 7. November frohlockend an Gentz den großen Verrath der Preußen und gab dann die Parole aus, welche bald von Metternich und Castlereagh nachgesprochen wurde: Preußen hat "die Sache Europas" aufgegeben und darf darum Sachsen nicht er- halten! Dieser Abfall der falschen Freunde ist aber nicht durch den König verschuldet worden; er wäre vielmehr, auch ohne die That Friedrich Wilhelms, unzweifelhaft nach einigen Wochen, und dann unter Mitwir- kung des Czaren selber, eingetreten. Es bleibt das Verdienst des Mo- narchen, daß er seinem Staate für den unausbleiblichen Zusammenstoß mit Oesterreich und den Westmächten den Beistand Rußlands und also doch mindestens eine leidliche Entschädigung sicherte.
Leider führte der König sein gutes Werk nicht ganz zu Ende. Ihm genügte, daß er den Bruch mit Preußens natürlichem Bundesgenossen
II. 1. Der Wiener Congreß.
hielt: er befahl dem Staatskanzler, fortan nicht mehr feindlich gegen Ruß- land vorzugehen. Friedrich Wilhelm hatte die Wiedererwerbung der Millionen treuloſer Polen nie gewünſcht und konnte alſo nur mit Be- fremden erfahren, wie hartnäckig England und Oeſterreich nach der Weichſel- grenze verlangten. Er wußte beſſer als Hardenberg, welche Hemmniſſe ſich der Einverleibung Sachſens entgegenſtellten; er hatte aus vertrautem perſönlichen Umgang richtig herausgefühlt, daß der Czar für Preußen mindeſtens mehr aufrichtiges Wohlwollen hegte als der gute Kaiſer Franz. Sein ſchlichter Verſtand begriff nicht, warum Preußen — auf die Gefahr hin ſeinen beſten Bundesgenoſſen zu verlieren — um jeden Preis den phantaſtiſchen Gedanken des ruſſiſch-polniſchen Königthums bekämpfen ſollte, der für Rußland ſelbſt weit gefährlicher war als für Deutſchland. Nun, da er ſeine eigenen Staatsmänner rathlos hin und her ſchwanken ſah, griff er ſelber durch und bewährte wieder den klaren, ſicheren Soldaten- blick, den er am Tage von Kulm und ſo oft auf den Schlachtfeldern des letzten Winterfeldzugs gezeigt hatte. Die perſönliche Neigung mag dabei mitgewirkt haben, doch der Drang des Gemüths ſtimmte überein mit der nüchternen politiſchen Berechnung.
Hardenberg fühlte ſich tief gekränkt durch das entſchiedene Auftreten ſeines königlichen Herrn und dachte ernſtlich daran ſeinen Abſchied zu for- dern; Metternich und Caſtlereagh ſuchten ihn in dieſem Entſchluſſe zu be- ſtärken. Die Schwenkung des Königs wurde ſofort von den gewandten Geg- nern ausgebeutet. Die Franzoſen ſetzten ein effectvolles Märchen in Umlauf: wie Alexander durch brünſtige Zärtlichkeitsbetheuerungen ſeinen Freund und ſich ſelber in ſanfte Rührung hineingeredet und dann dem argloſen Könige das verhängnißvolle Verſprechen abgenommen habe. Die anmuthige Erfin- dung fand bei den erboſten fremden Diplomaten um ſo leichter Gehör, da der Entſchluß des Königs ihre ſämmtlichen Berechnungen über den Haufen warf; ſeit dem bekannten Auftritte am Grabe Friedrichs des Großen wußte ohnehin Jedermann, wie Großes der Czar in kunſtvollen Rührſcenen zu leiſten vermochte. Talleyrand verkündete ſchon am 7. November frohlockend an Gentz den großen Verrath der Preußen und gab dann die Parole aus, welche bald von Metternich und Caſtlereagh nachgeſprochen wurde: Preußen hat „die Sache Europas“ aufgegeben und darf darum Sachſen nicht er- halten! Dieſer Abfall der falſchen Freunde iſt aber nicht durch den König verſchuldet worden; er wäre vielmehr, auch ohne die That Friedrich Wilhelms, unzweifelhaft nach einigen Wochen, und dann unter Mitwir- kung des Czaren ſelber, eingetreten. Es bleibt das Verdienſt des Mo- narchen, daß er ſeinem Staate für den unausbleiblichen Zuſammenſtoß mit Oeſterreich und den Weſtmächten den Beiſtand Rußlands und alſo doch mindeſtens eine leidliche Entſchädigung ſicherte.
Leider führte der König ſein gutes Werk nicht ganz zu Ende. Ihm genügte, daß er den Bruch mit Preußens natürlichem Bundesgenoſſen
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II. 1. Der Wiener Congreß.
hielt: er befahl dem Staatskanzler, fortan nicht mehr feindlich gegen Ruß-
land vorzugehen. Friedrich Wilhelm hatte die Wiedererwerbung der
Millionen treuloſer Polen nie gewünſcht und konnte alſo nur mit Be-
fremden erfahren, wie hartnäckig England und Oeſterreich nach der Weichſel-
grenze verlangten. Er wußte beſſer als Hardenberg, welche Hemmniſſe
ſich der Einverleibung Sachſens entgegenſtellten; er hatte aus vertrautem
perſönlichen Umgang richtig herausgefühlt, daß der Czar für Preußen
mindeſtens mehr aufrichtiges Wohlwollen hegte als der gute Kaiſer Franz.
Sein ſchlichter Verſtand begriff nicht, warum Preußen — auf die Gefahr
hin ſeinen beſten Bundesgenoſſen zu verlieren — um jeden Preis den
phantaſtiſchen Gedanken des ruſſiſch-polniſchen Königthums bekämpfen ſollte,
der für Rußland ſelbſt weit gefährlicher war als für Deutſchland. Nun,
da er ſeine eigenen Staatsmänner rathlos hin und her ſchwanken ſah,
griff er ſelber durch und bewährte wieder den klaren, ſicheren Soldaten-
blick, den er am Tage von Kulm und ſo oft auf den Schlachtfeldern des
letzten Winterfeldzugs gezeigt hatte. Die perſönliche Neigung mag dabei
mitgewirkt haben, doch der Drang des Gemüths ſtimmte überein mit der
nüchternen politiſchen Berechnung.
Hardenberg fühlte ſich tief gekränkt durch das entſchiedene Auftreten
ſeines königlichen Herrn und dachte ernſtlich daran ſeinen Abſchied zu for-
dern; Metternich und Caſtlereagh ſuchten ihn in dieſem Entſchluſſe zu be-
ſtärken. Die Schwenkung des Königs wurde ſofort von den gewandten Geg-
nern ausgebeutet. Die Franzoſen ſetzten ein effectvolles Märchen in Umlauf:
wie Alexander durch brünſtige Zärtlichkeitsbetheuerungen ſeinen Freund und
ſich ſelber in ſanfte Rührung hineingeredet und dann dem argloſen Könige
das verhängnißvolle Verſprechen abgenommen habe. Die anmuthige Erfin-
dung fand bei den erboſten fremden Diplomaten um ſo leichter Gehör, da
der Entſchluß des Königs ihre ſämmtlichen Berechnungen über den Haufen
warf; ſeit dem bekannten Auftritte am Grabe Friedrichs des Großen wußte
ohnehin Jedermann, wie Großes der Czar in kunſtvollen Rührſcenen zu
leiſten vermochte. Talleyrand verkündete ſchon am 7. November frohlockend
an Gentz den großen Verrath der Preußen und gab dann die Parole aus,
welche bald von Metternich und Caſtlereagh nachgeſprochen wurde: Preußen
hat „die Sache Europas“ aufgegeben und darf darum Sachſen nicht er-
halten! Dieſer Abfall der falſchen Freunde iſt aber nicht durch den König
verſchuldet worden; er wäre vielmehr, auch ohne die That Friedrich
Wilhelms, unzweifelhaft nach einigen Wochen, und dann unter Mitwir-
kung des Czaren ſelber, eingetreten. Es bleibt das Verdienſt des Mo-
narchen, daß er ſeinem Staate für den unausbleiblichen Zuſammenſtoß
mit Oeſterreich und den Weſtmächten den Beiſtand Rußlands und alſo
doch mindeſtens eine leidliche Entſchädigung ſicherte.
Leider führte der König ſein gutes Werk nicht ganz zu Ende. Ihm
genügte, daß er den Bruch mit Preußens natürlichem Bundesgenoſſen
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 634. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/650>, abgerufen am 16.02.2025.
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