Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

Einschreiten des Königs.
von ihrer Ansicht nicht abgehen würden, aber auch in diesem Falle müssen
sie so weit als möglich Frankreich fern halten.

Ein wunderlicher Anblick, wie der geistvolle Mann immer wieder sein
Roß bis dicht an den Graben heranführt und sich doch nicht das Herz
faßt das Hinderniß zu nehmen. Er sieht, daß die vorgeblichen Bundesge-
nossen ganz andere Pläne verfolgen als Preußen selbst, daß Preußen für
sich bei diesem diplomatischen Feldzuge nichts Wesentliches gewinnen kann;
er ahnt die Nichtigkeit der österreichischen Versprechungen; er begreift, daß
aus dem Kampfe gegen Rußland nur Frankreich Vortheil ziehen wird.
Wir erwarten, die einzig mögliche Schlußfolgerung schwebe dem scharf-
sinnigen Denker schon auf den Lippen. Da führt ihn ein wunderbar künst-
licher Gedankengang zu der ungeheuerlichen Ansicht: die erste und selbst-
verständlichste Pflicht jedes preußischen Staatsmannes, die Pflicht, des
eigenen Landes Macht zu sichern, sei eine niedrige Sorge für "das per-
sönliche Interesse Preußens"! Die gleißnerische englische Phrase von "der
Sache Europas" berauscht auch diesen kalten Kopf! Es ist dieselbe über-
irdische Großmuth, dieselbe übergeistreiche Willensschwäche, die in unserer
Geschichte immer mit unheimlicher Regelmäßigkeit den großen Zeiten kühn
zugreifender Thatkraft zu folgen pflegt. Auch der gelehrte Hoffmann be-
gnügte sich mit unfruchtbaren Klagen über die Feindseligkeit fast aller
Mächte gegen Preußen*); er so wenig wie Humboldt fand den einfachen
Schluß, daß man die erdrückende Masse der Gegner sprengen und min-
destens mit einer der fremden Mächte sich abfinden müsse.

Was man von Oesterreich zu erwarten habe, konnte nur der gut-
müthigen Schwäche noch zweifelhaft scheinen. Eben jetzt traten auf Be-
fehl ihres Kaisers Metternich, Stadion und Schwarzenberg zu einem Rathe
zusammen und beschlossen, Preußen müsse durchaus wieder bis zur Weichsel-
linie vorrücken. Zur selben Zeit ließ Metternich dem Czaren vertraulich
anbieten, Oesterreich sei bereit in der polnischen Sache nachzugeben, wenn
Rußland die sächsischen Ansprüche Preußens nicht mehr unterstütze. So
versicherte Alexander seinem königlichen Freunde auf das Bestimmteste;
Metternich, nach seiner Gewohnheit, leugnete Alles. Da aber jenes An-
erbieten genau übereinstimmt mit der gleich nachher von Oesterreich wirklich
eingehaltenen Politik, so ist diesmal der Czar sicherlich nicht der Lügner
gewesen. --

Eine unerhörte Demüthigung stand dem preußischen Staate bevor;
da griff König Friedrich Wilhelm rettend ein. Es war vielleicht der heil-
samste diplomatische Entschluß seines Lebens. Am 6. November hatte er mit
dem Czaren eine lange Unterredung im engsten Kreise. Die beiden Freunde
verständigten sich, und der König wagte nun endlich, seinen Diplomaten die
Politik anzubefehlen, welche er schon seit Monaten für die einzig sichere

*) Hoffmanns Bemerkungen zu seiner Statistischen Uebersicht, 30. Oct. 1814.

Einſchreiten des Königs.
von ihrer Anſicht nicht abgehen würden, aber auch in dieſem Falle müſſen
ſie ſo weit als möglich Frankreich fern halten.

Ein wunderlicher Anblick, wie der geiſtvolle Mann immer wieder ſein
Roß bis dicht an den Graben heranführt und ſich doch nicht das Herz
faßt das Hinderniß zu nehmen. Er ſieht, daß die vorgeblichen Bundesge-
noſſen ganz andere Pläne verfolgen als Preußen ſelbſt, daß Preußen für
ſich bei dieſem diplomatiſchen Feldzuge nichts Weſentliches gewinnen kann;
er ahnt die Nichtigkeit der öſterreichiſchen Verſprechungen; er begreift, daß
aus dem Kampfe gegen Rußland nur Frankreich Vortheil ziehen wird.
Wir erwarten, die einzig mögliche Schlußfolgerung ſchwebe dem ſcharf-
ſinnigen Denker ſchon auf den Lippen. Da führt ihn ein wunderbar künſt-
licher Gedankengang zu der ungeheuerlichen Anſicht: die erſte und ſelbſt-
verſtändlichſte Pflicht jedes preußiſchen Staatsmannes, die Pflicht, des
eigenen Landes Macht zu ſichern, ſei eine niedrige Sorge für „das per-
ſönliche Intereſſe Preußens“! Die gleißneriſche engliſche Phraſe von „der
Sache Europas“ berauſcht auch dieſen kalten Kopf! Es iſt dieſelbe über-
irdiſche Großmuth, dieſelbe übergeiſtreiche Willensſchwäche, die in unſerer
Geſchichte immer mit unheimlicher Regelmäßigkeit den großen Zeiten kühn
zugreifender Thatkraft zu folgen pflegt. Auch der gelehrte Hoffmann be-
gnügte ſich mit unfruchtbaren Klagen über die Feindſeligkeit faſt aller
Mächte gegen Preußen*); er ſo wenig wie Humboldt fand den einfachen
Schluß, daß man die erdrückende Maſſe der Gegner ſprengen und min-
deſtens mit einer der fremden Mächte ſich abfinden müſſe.

Was man von Oeſterreich zu erwarten habe, konnte nur der gut-
müthigen Schwäche noch zweifelhaft ſcheinen. Eben jetzt traten auf Be-
fehl ihres Kaiſers Metternich, Stadion und Schwarzenberg zu einem Rathe
zuſammen und beſchloſſen, Preußen müſſe durchaus wieder bis zur Weichſel-
linie vorrücken. Zur ſelben Zeit ließ Metternich dem Czaren vertraulich
anbieten, Oeſterreich ſei bereit in der polniſchen Sache nachzugeben, wenn
Rußland die ſächſiſchen Anſprüche Preußens nicht mehr unterſtütze. So
verſicherte Alexander ſeinem königlichen Freunde auf das Beſtimmteſte;
Metternich, nach ſeiner Gewohnheit, leugnete Alles. Da aber jenes An-
erbieten genau übereinſtimmt mit der gleich nachher von Oeſterreich wirklich
eingehaltenen Politik, ſo iſt diesmal der Czar ſicherlich nicht der Lügner
geweſen. —

Eine unerhörte Demüthigung ſtand dem preußiſchen Staate bevor;
da griff König Friedrich Wilhelm rettend ein. Es war vielleicht der heil-
ſamſte diplomatiſche Entſchluß ſeines Lebens. Am 6. November hatte er mit
dem Czaren eine lange Unterredung im engſten Kreiſe. Die beiden Freunde
verſtändigten ſich, und der König wagte nun endlich, ſeinen Diplomaten die
Politik anzubefehlen, welche er ſchon ſeit Monaten für die einzig ſichere

*) Hoffmanns Bemerkungen zu ſeiner Statiſtiſchen Ueberſicht, 30. Oct. 1814.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0649" n="633"/><fw place="top" type="header">Ein&#x017F;chreiten des Königs.</fw><lb/>
von ihrer An&#x017F;icht nicht abgehen würden, aber auch in die&#x017F;em Falle mü&#x017F;&#x017F;en<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;o weit als möglich Frankreich fern halten.</p><lb/>
            <p>Ein wunderlicher Anblick, wie der gei&#x017F;tvolle Mann immer wieder &#x017F;ein<lb/>
Roß bis dicht an den Graben heranführt und &#x017F;ich doch nicht das Herz<lb/>
faßt das Hinderniß zu nehmen. Er &#x017F;ieht, daß die vorgeblichen Bundesge-<lb/>
no&#x017F;&#x017F;en ganz andere Pläne verfolgen als Preußen &#x017F;elb&#x017F;t, daß Preußen für<lb/>
&#x017F;ich bei die&#x017F;em diplomati&#x017F;chen Feldzuge nichts We&#x017F;entliches gewinnen kann;<lb/>
er ahnt die Nichtigkeit der ö&#x017F;terreichi&#x017F;chen Ver&#x017F;prechungen; er begreift, daß<lb/>
aus dem Kampfe gegen Rußland nur Frankreich Vortheil ziehen wird.<lb/>
Wir erwarten, die einzig mögliche Schlußfolgerung &#x017F;chwebe dem &#x017F;charf-<lb/>
&#x017F;innigen Denker &#x017F;chon auf den Lippen. Da führt ihn ein wunderbar kün&#x017F;t-<lb/>
licher Gedankengang zu der ungeheuerlichen An&#x017F;icht: die er&#x017F;te und &#x017F;elb&#x017F;t-<lb/>
ver&#x017F;tändlich&#x017F;te Pflicht jedes preußi&#x017F;chen Staatsmannes, die Pflicht, des<lb/>
eigenen Landes Macht zu &#x017F;ichern, &#x017F;ei eine niedrige Sorge für &#x201E;das per-<lb/>
&#x017F;önliche Intere&#x017F;&#x017F;e Preußens&#x201C;! Die gleißneri&#x017F;che engli&#x017F;che Phra&#x017F;e von &#x201E;der<lb/>
Sache Europas&#x201C; berau&#x017F;cht auch die&#x017F;en kalten Kopf! Es i&#x017F;t die&#x017F;elbe über-<lb/>
irdi&#x017F;che Großmuth, die&#x017F;elbe übergei&#x017F;treiche Willens&#x017F;chwäche, die in un&#x017F;erer<lb/>
Ge&#x017F;chichte immer mit unheimlicher Regelmäßigkeit den großen Zeiten kühn<lb/>
zugreifender Thatkraft zu folgen pflegt. Auch der gelehrte Hoffmann be-<lb/>
gnügte &#x017F;ich mit unfruchtbaren Klagen über die Feind&#x017F;eligkeit fa&#x017F;t aller<lb/>
Mächte gegen Preußen<note place="foot" n="*)">Hoffmanns Bemerkungen zu &#x017F;einer Stati&#x017F;ti&#x017F;chen Ueber&#x017F;icht, 30. Oct. 1814.</note>; er &#x017F;o wenig wie Humboldt fand den einfachen<lb/>
Schluß, daß man die erdrückende Ma&#x017F;&#x017F;e der Gegner &#x017F;prengen und min-<lb/>
de&#x017F;tens mit einer der fremden Mächte &#x017F;ich abfinden mü&#x017F;&#x017F;e.</p><lb/>
            <p>Was man von Oe&#x017F;terreich zu erwarten habe, konnte nur der gut-<lb/>
müthigen Schwäche noch zweifelhaft &#x017F;cheinen. Eben jetzt traten auf Be-<lb/>
fehl ihres Kai&#x017F;ers Metternich, Stadion und Schwarzenberg zu einem Rathe<lb/>
zu&#x017F;ammen und be&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, Preußen mü&#x017F;&#x017F;e durchaus wieder bis zur Weich&#x017F;el-<lb/>
linie vorrücken. Zur &#x017F;elben Zeit ließ Metternich dem Czaren vertraulich<lb/>
anbieten, Oe&#x017F;terreich &#x017F;ei bereit in der polni&#x017F;chen Sache nachzugeben, wenn<lb/>
Rußland die &#x017F;äch&#x017F;i&#x017F;chen An&#x017F;prüche Preußens nicht mehr unter&#x017F;tütze. So<lb/>
ver&#x017F;icherte Alexander &#x017F;einem königlichen Freunde auf das Be&#x017F;timmte&#x017F;te;<lb/>
Metternich, nach &#x017F;einer Gewohnheit, leugnete Alles. Da aber jenes An-<lb/>
erbieten genau überein&#x017F;timmt mit der gleich nachher von Oe&#x017F;terreich wirklich<lb/>
eingehaltenen Politik, &#x017F;o i&#x017F;t diesmal der Czar &#x017F;icherlich nicht der Lügner<lb/>
gewe&#x017F;en. &#x2014;</p><lb/>
            <p>Eine unerhörte Demüthigung &#x017F;tand dem preußi&#x017F;chen Staate bevor;<lb/>
da griff König Friedrich Wilhelm rettend ein. Es war vielleicht der heil-<lb/>
&#x017F;am&#x017F;te diplomati&#x017F;che Ent&#x017F;chluß &#x017F;eines Lebens. Am 6. November hatte er mit<lb/>
dem Czaren eine lange Unterredung im eng&#x017F;ten Krei&#x017F;e. Die beiden Freunde<lb/>
ver&#x017F;tändigten &#x017F;ich, und der König wagte nun endlich, &#x017F;einen Diplomaten die<lb/>
Politik anzubefehlen, welche er &#x017F;chon &#x017F;eit Monaten für die einzig &#x017F;ichere<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[633/0649] Einſchreiten des Königs. von ihrer Anſicht nicht abgehen würden, aber auch in dieſem Falle müſſen ſie ſo weit als möglich Frankreich fern halten. Ein wunderlicher Anblick, wie der geiſtvolle Mann immer wieder ſein Roß bis dicht an den Graben heranführt und ſich doch nicht das Herz faßt das Hinderniß zu nehmen. Er ſieht, daß die vorgeblichen Bundesge- noſſen ganz andere Pläne verfolgen als Preußen ſelbſt, daß Preußen für ſich bei dieſem diplomatiſchen Feldzuge nichts Weſentliches gewinnen kann; er ahnt die Nichtigkeit der öſterreichiſchen Verſprechungen; er begreift, daß aus dem Kampfe gegen Rußland nur Frankreich Vortheil ziehen wird. Wir erwarten, die einzig mögliche Schlußfolgerung ſchwebe dem ſcharf- ſinnigen Denker ſchon auf den Lippen. Da führt ihn ein wunderbar künſt- licher Gedankengang zu der ungeheuerlichen Anſicht: die erſte und ſelbſt- verſtändlichſte Pflicht jedes preußiſchen Staatsmannes, die Pflicht, des eigenen Landes Macht zu ſichern, ſei eine niedrige Sorge für „das per- ſönliche Intereſſe Preußens“! Die gleißneriſche engliſche Phraſe von „der Sache Europas“ berauſcht auch dieſen kalten Kopf! Es iſt dieſelbe über- irdiſche Großmuth, dieſelbe übergeiſtreiche Willensſchwäche, die in unſerer Geſchichte immer mit unheimlicher Regelmäßigkeit den großen Zeiten kühn zugreifender Thatkraft zu folgen pflegt. Auch der gelehrte Hoffmann be- gnügte ſich mit unfruchtbaren Klagen über die Feindſeligkeit faſt aller Mächte gegen Preußen *); er ſo wenig wie Humboldt fand den einfachen Schluß, daß man die erdrückende Maſſe der Gegner ſprengen und min- deſtens mit einer der fremden Mächte ſich abfinden müſſe. Was man von Oeſterreich zu erwarten habe, konnte nur der gut- müthigen Schwäche noch zweifelhaft ſcheinen. Eben jetzt traten auf Be- fehl ihres Kaiſers Metternich, Stadion und Schwarzenberg zu einem Rathe zuſammen und beſchloſſen, Preußen müſſe durchaus wieder bis zur Weichſel- linie vorrücken. Zur ſelben Zeit ließ Metternich dem Czaren vertraulich anbieten, Oeſterreich ſei bereit in der polniſchen Sache nachzugeben, wenn Rußland die ſächſiſchen Anſprüche Preußens nicht mehr unterſtütze. So verſicherte Alexander ſeinem königlichen Freunde auf das Beſtimmteſte; Metternich, nach ſeiner Gewohnheit, leugnete Alles. Da aber jenes An- erbieten genau übereinſtimmt mit der gleich nachher von Oeſterreich wirklich eingehaltenen Politik, ſo iſt diesmal der Czar ſicherlich nicht der Lügner geweſen. — Eine unerhörte Demüthigung ſtand dem preußiſchen Staate bevor; da griff König Friedrich Wilhelm rettend ein. Es war vielleicht der heil- ſamſte diplomatiſche Entſchluß ſeines Lebens. Am 6. November hatte er mit dem Czaren eine lange Unterredung im engſten Kreiſe. Die beiden Freunde verſtändigten ſich, und der König wagte nun endlich, ſeinen Diplomaten die Politik anzubefehlen, welche er ſchon ſeit Monaten für die einzig ſichere *) Hoffmanns Bemerkungen zu ſeiner Statiſtiſchen Ueberſicht, 30. Oct. 1814.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/649
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 633. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/649>, abgerufen am 25.11.2024.