daß das Gleichgewicht in Deutschland nicht durch das Vorrücken Preußens südwärts der Mosel gestört werde, und daß die Einverleibung "nicht die Entschädigung bilde für die Zustimmung zu Vergrößerungsabsichten". Die fast wörtliche Uebereinstimmung dieses dunklen Satzes mit Castlereaghs Note vom 11. October legt abermals den Gedanken nahe, daß der edle Lord bei dem verschlungenen Ränkespiele nur ein argloses Werkzeug Met- ternichs gewesen ist. Der österreichische Staatsmann hielt das Spiel be- reits für gewonnen und war der blinden Hingebung des preußischen Staatskanzlers so sicher, daß er ihn in einer neuen Note vom 2. No- vember gradezu aufforderte, mit Oesterreich vereint das aberwitzige pol- nische Programm Lord Castlereaghs zu unterstützen: Preußen sollte ver- langen entweder die Herstellung des Polenreichs von 1771 oder den Zustand von 1791 oder endlich zum Allermindesten die Theilung Polens nach dem Laufe der Weichsel! Dies Allermindeste war selbstverständlich die eigentliche Absicht der Hofburg. Wahrlich, Preußens Staatsmänner mußten mit Blindheit geschlagen sein, wenn sie jetzt nicht bemerkten, daß Oesterreich überall, in Sachsen, in Polen wie am Rhein, das Gegentheil der preußischen Pläne verfolgte.
Und doch hat es noch lange gewährt, bis dem Staatskanzler und Wilhelm Humboldt die Augen aufgingen. Seltsam, wie künstlich die beiden geistreichen Männer sich drehten und wendeten um nur das Nächstliegende, das treulose Doppelspiel der Hofburg, nicht zu bemerken. Sofort nach Empfang der österreichischen Note vom 22. October begannen lebhafte Be- rathungen im Schooße des preußischen Cabinets. Am 23. stellte Humboldt die leitenden Gedanken für die Beantwortung der Note zusammen.*) Hier spricht er noch ganz ohne Mißtrauen, wiederholt nochmals alle Gründe, die für die Einverleibung Sachsens sprechen: Preußen vertragsmäßigen Anspruch auf Entschädigung, und die Nothwendigkeit, durch "eine politische Lection" zu zeigen, "daß ein Fürst nicht ungestraft gegen die Interessen der Nation, welcher sein Volk angehört, handeln darf." Der Kalischer Vertrag und die Vergrößerung Rußlands in Polen war eine unerfreuliche aber unvermeidliche Folge der Lage, "des falschen Systems die Uebermacht des Westens durch den Osten zu bekämpfen. Grade damit dies nicht wieder vorkomme, müssen die Mächte Mitteleuropas und namentlich Preu- ßen verstärkt werden." Zerstreute Gebiete in Polen, Deutschland oder Belgien reichen zu solcher Verstärkung nicht aus, "man darf die großen Mächte nicht als Zahlenwerthe behandeln." Darum ist die Einverleibung Sachsens für Oesterreich nicht ein dem preußischen Bündniß, sondern ein dem europäischen Gleichgewichte gebrachtes Opfer; eine Theilung des Landes erscheint durchaus unannehmbar. Darauf erörtert Humboldt die Mainzer Frage und erklärt: Betrachten wir den Platz nur als nöthig für die Ver-
*) Humboldts Denkschrift über den Brief des Fürsten Metternich, 23. Oct. 1814.
II. 1. Der Wiener Congreß.
daß das Gleichgewicht in Deutſchland nicht durch das Vorrücken Preußens ſüdwärts der Moſel geſtört werde, und daß die Einverleibung „nicht die Entſchädigung bilde für die Zuſtimmung zu Vergrößerungsabſichten“. Die faſt wörtliche Uebereinſtimmung dieſes dunklen Satzes mit Caſtlereaghs Note vom 11. October legt abermals den Gedanken nahe, daß der edle Lord bei dem verſchlungenen Ränkeſpiele nur ein argloſes Werkzeug Met- ternichs geweſen iſt. Der öſterreichiſche Staatsmann hielt das Spiel be- reits für gewonnen und war der blinden Hingebung des preußiſchen Staatskanzlers ſo ſicher, daß er ihn in einer neuen Note vom 2. No- vember gradezu aufforderte, mit Oeſterreich vereint das aberwitzige pol- niſche Programm Lord Caſtlereaghs zu unterſtützen: Preußen ſollte ver- langen entweder die Herſtellung des Polenreichs von 1771 oder den Zuſtand von 1791 oder endlich zum Allermindeſten die Theilung Polens nach dem Laufe der Weichſel! Dies Allermindeſte war ſelbſtverſtändlich die eigentliche Abſicht der Hofburg. Wahrlich, Preußens Staatsmänner mußten mit Blindheit geſchlagen ſein, wenn ſie jetzt nicht bemerkten, daß Oeſterreich überall, in Sachſen, in Polen wie am Rhein, das Gegentheil der preußiſchen Pläne verfolgte.
Und doch hat es noch lange gewährt, bis dem Staatskanzler und Wilhelm Humboldt die Augen aufgingen. Seltſam, wie künſtlich die beiden geiſtreichen Männer ſich drehten und wendeten um nur das Nächſtliegende, das treuloſe Doppelſpiel der Hofburg, nicht zu bemerken. Sofort nach Empfang der öſterreichiſchen Note vom 22. October begannen lebhafte Be- rathungen im Schooße des preußiſchen Cabinets. Am 23. ſtellte Humboldt die leitenden Gedanken für die Beantwortung der Note zuſammen.*) Hier ſpricht er noch ganz ohne Mißtrauen, wiederholt nochmals alle Gründe, die für die Einverleibung Sachſens ſprechen: Preußen vertragsmäßigen Anſpruch auf Entſchädigung, und die Nothwendigkeit, durch „eine politiſche Lection“ zu zeigen, „daß ein Fürſt nicht ungeſtraft gegen die Intereſſen der Nation, welcher ſein Volk angehört, handeln darf.“ Der Kaliſcher Vertrag und die Vergrößerung Rußlands in Polen war eine unerfreuliche aber unvermeidliche Folge der Lage, „des falſchen Syſtems die Uebermacht des Weſtens durch den Oſten zu bekämpfen. Grade damit dies nicht wieder vorkomme, müſſen die Mächte Mitteleuropas und namentlich Preu- ßen verſtärkt werden.“ Zerſtreute Gebiete in Polen, Deutſchland oder Belgien reichen zu ſolcher Verſtärkung nicht aus, „man darf die großen Mächte nicht als Zahlenwerthe behandeln.“ Darum iſt die Einverleibung Sachſens für Oeſterreich nicht ein dem preußiſchen Bündniß, ſondern ein dem europäiſchen Gleichgewichte gebrachtes Opfer; eine Theilung des Landes erſcheint durchaus unannehmbar. Darauf erörtert Humboldt die Mainzer Frage und erklärt: Betrachten wir den Platz nur als nöthig für die Ver-
*) Humboldts Denkſchrift über den Brief des Fürſten Metternich, 23. Oct. 1814.
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II. 1. Der Wiener Congreß.
daß das Gleichgewicht in Deutſchland nicht durch das Vorrücken Preußens
ſüdwärts der Moſel geſtört werde, und daß die Einverleibung „nicht die
Entſchädigung bilde für die Zuſtimmung zu Vergrößerungsabſichten“. Die
faſt wörtliche Uebereinſtimmung dieſes dunklen Satzes mit Caſtlereaghs
Note vom 11. October legt abermals den Gedanken nahe, daß der edle
Lord bei dem verſchlungenen Ränkeſpiele nur ein argloſes Werkzeug Met-
ternichs geweſen iſt. Der öſterreichiſche Staatsmann hielt das Spiel be-
reits für gewonnen und war der blinden Hingebung des preußiſchen
Staatskanzlers ſo ſicher, daß er ihn in einer neuen Note vom 2. No-
vember gradezu aufforderte, mit Oeſterreich vereint das aberwitzige pol-
niſche Programm Lord Caſtlereaghs zu unterſtützen: Preußen ſollte ver-
langen entweder die Herſtellung des Polenreichs von 1771 oder den
Zuſtand von 1791 oder endlich zum Allermindeſten die Theilung Polens
nach dem Laufe der Weichſel! Dies Allermindeſte war ſelbſtverſtändlich
die eigentliche Abſicht der Hofburg. Wahrlich, Preußens Staatsmänner
mußten mit Blindheit geſchlagen ſein, wenn ſie jetzt nicht bemerkten, daß
Oeſterreich überall, in Sachſen, in Polen wie am Rhein, das Gegentheil
der preußiſchen Pläne verfolgte.
Und doch hat es noch lange gewährt, bis dem Staatskanzler und
Wilhelm Humboldt die Augen aufgingen. Seltſam, wie künſtlich die beiden
geiſtreichen Männer ſich drehten und wendeten um nur das Nächſtliegende,
das treuloſe Doppelſpiel der Hofburg, nicht zu bemerken. Sofort nach
Empfang der öſterreichiſchen Note vom 22. October begannen lebhafte Be-
rathungen im Schooße des preußiſchen Cabinets. Am 23. ſtellte Humboldt
die leitenden Gedanken für die Beantwortung der Note zuſammen. *) Hier
ſpricht er noch ganz ohne Mißtrauen, wiederholt nochmals alle Gründe,
die für die Einverleibung Sachſens ſprechen: Preußen vertragsmäßigen
Anſpruch auf Entſchädigung, und die Nothwendigkeit, durch „eine politiſche
Lection“ zu zeigen, „daß ein Fürſt nicht ungeſtraft gegen die Intereſſen
der Nation, welcher ſein Volk angehört, handeln darf.“ Der Kaliſcher
Vertrag und die Vergrößerung Rußlands in Polen war eine unerfreuliche
aber unvermeidliche Folge der Lage, „des falſchen Syſtems die Uebermacht
des Weſtens durch den Oſten zu bekämpfen. Grade damit dies nicht
wieder vorkomme, müſſen die Mächte Mitteleuropas und namentlich Preu-
ßen verſtärkt werden.“ Zerſtreute Gebiete in Polen, Deutſchland oder
Belgien reichen zu ſolcher Verſtärkung nicht aus, „man darf die großen
Mächte nicht als Zahlenwerthe behandeln.“ Darum iſt die Einverleibung
Sachſens für Oeſterreich nicht ein dem preußiſchen Bündniß, ſondern ein
dem europäiſchen Gleichgewichte gebrachtes Opfer; eine Theilung des Landes
erſcheint durchaus unannehmbar. Darauf erörtert Humboldt die Mainzer
Frage und erklärt: Betrachten wir den Platz nur als nöthig für die Ver-
*) Humboldts Denkſchrift über den Brief des Fürſten Metternich, 23. Oct. 1814.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 630. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/646>, abgerufen am 23.07.2024.
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