Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.Hans von Gagern. Gegensatze zur preußischen Knechtschaft; die treffende Widerlegung, welcheFriedrich von Bülow, aus gründlicher Kenntniß beider Staaten heraus, veröffentlichte, wurde von Niemand beachtet. So hatte sich auch Münster seinen Begriff vom preußischen Staate allein aus dem landläufigen Ge- rede und vielleicht aus Wilhelminens Memoiren gebildet; mit unendlicher Verachtung äußerte er sich über die Misere der Berliner Corporalswirth- schaft. Wie er im Jahre 1803 aus kleinlichem Mißtrauen die preußische Occupation, welche seine Heimath vielleicht noch retten konnte, hintertrieb, so glaubte er beim Ausbruche des Befreiungskrieges, Preußen lebe nur noch in der Erinnerung, und jetzt da dieser holde Traum verflogen war, schrieb er schwer besorgt an Gagern: seit Oesterreich sich im Osten abrundet und halb aus Deutschland ausscheidet ist Preußens Vergrößerung für uns die schwerste Gefahr. Angst und Scheelsucht blieben die treibenden Kräfte in der deutschen Politik dieser Ministeriunculi, wie Stein sie verächtlich nannte. In Wien hielt sich Münster vorerst noch zurück; er wollte, so meldete er dem Prinzregenten, die preußischen Staatsmänner nicht er- bittern um die schwebenden Verhandlungen über die Abrundung des Welfenreichs nicht zu erschweren. Eine läßliche Dilettantennatur, war "der Maler", wie er bei seinen Freunden hieß, ohnehin wenig geneigt zu nachhaltiger Thätigkeit, auch fesselte ihn jetzt eine Krankheit lange an das Zimmer. Wo sich aber die Gelegenheit bot, da arbeitete er emsig gegen Preußen und leider war er über die Gedanken des Staatskanzlers nur zu genau unterrichtet durch jenen bösen Zwischenträger, den Hannovera- ner Hardenberg. Wieder eine andere Spielart kleinstaatlicher Ausländerei verkörperte 39*
Hans von Gagern. Gegenſatze zur preußiſchen Knechtſchaft; die treffende Widerlegung, welcheFriedrich von Bülow, aus gründlicher Kenntniß beider Staaten heraus, veröffentlichte, wurde von Niemand beachtet. So hatte ſich auch Münſter ſeinen Begriff vom preußiſchen Staate allein aus dem landläufigen Ge- rede und vielleicht aus Wilhelminens Memoiren gebildet; mit unendlicher Verachtung äußerte er ſich über die Miſere der Berliner Corporalswirth- ſchaft. Wie er im Jahre 1803 aus kleinlichem Mißtrauen die preußiſche Occupation, welche ſeine Heimath vielleicht noch retten konnte, hintertrieb, ſo glaubte er beim Ausbruche des Befreiungskrieges, Preußen lebe nur noch in der Erinnerung, und jetzt da dieſer holde Traum verflogen war, ſchrieb er ſchwer beſorgt an Gagern: ſeit Oeſterreich ſich im Oſten abrundet und halb aus Deutſchland ausſcheidet iſt Preußens Vergrößerung für uns die ſchwerſte Gefahr. Angſt und Scheelſucht blieben die treibenden Kräfte in der deutſchen Politik dieſer Ministeriunculi, wie Stein ſie verächtlich nannte. In Wien hielt ſich Münſter vorerſt noch zurück; er wollte, ſo meldete er dem Prinzregenten, die preußiſchen Staatsmänner nicht er- bittern um die ſchwebenden Verhandlungen über die Abrundung des Welfenreichs nicht zu erſchweren. Eine läßliche Dilettantennatur, war „der Maler“, wie er bei ſeinen Freunden hieß, ohnehin wenig geneigt zu nachhaltiger Thätigkeit, auch feſſelte ihn jetzt eine Krankheit lange an das Zimmer. Wo ſich aber die Gelegenheit bot, da arbeitete er emſig gegen Preußen und leider war er über die Gedanken des Staatskanzlers nur zu genau unterrichtet durch jenen böſen Zwiſchenträger, den Hannovera- ner Hardenberg. Wieder eine andere Spielart kleinſtaatlicher Ausländerei verkörperte 39*
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Hans von Gagern.
Gegenſatze zur preußiſchen Knechtſchaft; die treffende Widerlegung, welche
Friedrich von Bülow, aus gründlicher Kenntniß beider Staaten heraus,
veröffentlichte, wurde von Niemand beachtet. So hatte ſich auch Münſter
ſeinen Begriff vom preußiſchen Staate allein aus dem landläufigen Ge-
rede und vielleicht aus Wilhelminens Memoiren gebildet; mit unendlicher
Verachtung äußerte er ſich über die Miſere der Berliner Corporalswirth-
ſchaft. Wie er im Jahre 1803 aus kleinlichem Mißtrauen die preußiſche
Occupation, welche ſeine Heimath vielleicht noch retten konnte, hintertrieb, ſo
glaubte er beim Ausbruche des Befreiungskrieges, Preußen lebe nur noch
in der Erinnerung, und jetzt da dieſer holde Traum verflogen war, ſchrieb
er ſchwer beſorgt an Gagern: ſeit Oeſterreich ſich im Oſten abrundet und
halb aus Deutſchland ausſcheidet iſt Preußens Vergrößerung für uns
die ſchwerſte Gefahr. Angſt und Scheelſucht blieben die treibenden Kräfte
in der deutſchen Politik dieſer Ministeriunculi, wie Stein ſie verächtlich
nannte. In Wien hielt ſich Münſter vorerſt noch zurück; er wollte, ſo
meldete er dem Prinzregenten, die preußiſchen Staatsmänner nicht er-
bittern um die ſchwebenden Verhandlungen über die Abrundung des
Welfenreichs nicht zu erſchweren. Eine läßliche Dilettantennatur, war
„der Maler“, wie er bei ſeinen Freunden hieß, ohnehin wenig geneigt zu
nachhaltiger Thätigkeit, auch feſſelte ihn jetzt eine Krankheit lange an das
Zimmer. Wo ſich aber die Gelegenheit bot, da arbeitete er emſig gegen
Preußen und leider war er über die Gedanken des Staatskanzlers nur
zu genau unterrichtet durch jenen böſen Zwiſchenträger, den Hannovera-
ner Hardenberg.
Wieder eine andere Spielart kleinſtaatlicher Ausländerei verkörperte
ſich in dem liberalen Foederaliſten Hans von Gagern. Wer kannte ihn
nicht, den Hans in allen Gaſſen, den raſtlos beweglichen kleinen Herrn
mit den munter blitzenden Augen und dem gewinnenden Lächeln um den
geiſtreichen Mund? Ueberall mußte er mit dabei ſein, wo geſpielt und
dinirt und über Land und Leute verhandelt wurde; völlig unberufen
miſchte er ſich in alle Geſchäfte des Congreſſes, unerſchöpflich in großen
Worten vom europäiſchen Gleichgewicht und vom Schutze der Minder-
mächtigen. Der berühmte Weinkeller des Hauſes Naſſau und die Freund-
ſchaft Talleyrands boten ihm die Mittel ſich zwiſchen den Geſandten der
Großmächte feſtzuniſten. Vor Jahren hatte der vielgeſchäftige Reichsritter
für das heilige Reich geſchwärmt, nachher, immer mit der gleichen vater-
ländiſchen Begeiſterung, dem Rheinbunde gedient und ein reichliches
Dutzend verurtheilter Kleinfürſten menſchenfreundlich vom Galgen abge-
ſchnitten. Jetzt empfahl er eine Foederation von völlig gleichberechtigten
Königen, Groß- und anderen Herzögen unter dem Schutze der öſterreichi-
ſchen Kaiſerkrone, aber auch ein hohes Maß von Grundrechten für das
deutſche Volk, denn ein ehrlicher Liberaler blieb dieſer wunderliche Jünger
der franzöſiſchen Aufklärung immer.
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