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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 5. Ende der Kriegszeit.
nur die Erfahrung zeigen, ob das Offizierscorps der Landwehr wirklich
im Stande war, wie dies Gesetz annahm, völlig selbständig neben den
Offizieren der Linie zu stehen. Aber wie unfertig auch Manches noch
erschien, der große Wurf war doch gelungen. Mit diesem Volksheere
war ein großartiges Mittel sittlicher Volkserziehung gefunden, trefflich
geeignet die alten Tugenden der Nation, Muth, Treue, Pflichtgefühl zu
entwickeln, ihre natürlichen Schwächen, Eigensinn, Particularismus, Ver-
schwommenheit zu bekämpfen. Der Staat wurde nun erst diesem staat-
losen Geschlechte wahrhaft lebendig, wie den Bürgervölkern des Alter-
thums, trat mit seiner begeisternden Majestät und seiner herben Strenge
in jedes Haus hinein. Die kurze Dienstzeit zwang die Mannschaft und
mehr noch die Offiziere zur Anspannung aller Kräfte; das Freiwilligen-
jahr bot das einfache Mittel den höheren Ständen die ungewohnte Last
erträglich zu machen. Der alte, mit dem Wesen dieses Staates fest ver-
wachsene Gedanke Friedrich Wilhelms I. fand endlich die Gestaltung,
welche den demokratischen Anschauungen des neuen Jahrhunderts ent-
sprach und doch der unzerstörbaren Aristokratie der Bildung gerecht wurde.

Das Wehrgesetz gab ein unzweideutiges Zeugniß für die friedfertigen
Absichten der Regierung; mit einer Feldarmee, die zur größeren Hälfte
aus Landwehren bestand, ließ sich eine Politik des unruhigen Ehrgeizes
schlechterdings nicht führen. Gleichwohl sprach aus dem Aufgebote der
gesammten Nation zugleich der bestimmte Entschluß, die wiedererrungene
Großmachtstellung der Monarchie zu behaupten. Daher denn an allen
Nachbarhöfen lebhafte Beunruhigung. Mochten einzelne Generale der
alten Schule über das preußische "Milizwesen" verächtlich absprechen,
die Kriegsthaten dieses Heeres standen doch noch in zu frischer Erinne-
rung. Der französische Kriegsminister Dupont zog sogleich mit ersicht-
licher Sorge bei dem preußischen Gesandten Erkundigungen ein und
erhielt die trockene Antwort: "wir wollen große Streitkräfte ohne ein
unverhältnißmäßig großes stehendes Heer."*) Noch besorgter war die
Hofburg; sie fürchtete nicht blos das Erstarken des alten Nebenbuhlers,
sondern sie erkannte auch in dem Wehrgesetze einen Triumph der militä-
rischen Jacobiner des schlesischen Heeres und witterte unheimliche demo-
kratische Bestrebungen.

Boyen aber sah in seinem Gesetze das köstliche Vermächtniß des
Befreiungskrieges; er sagte sich mit frohem Stolze, daß die Eigenart des
preußischen Staates in diesen Institutionen sich verkörperte, daß Preußen
in der Ausbildung seines Heerwesens allen anderen Staaten überlegen
war und keine andere Großmacht jener Zeit, am allerwenigsten Oester-
reich mit seinen murrenden Italienern, wagen durfte ihrem ganzen Volke
Waffen in die Hände zu geben. In wie großem und freiem Sinne er

*) Goltz's Bericht, Paris 26. Sept. 1814.

I. 5. Ende der Kriegszeit.
nur die Erfahrung zeigen, ob das Offizierscorps der Landwehr wirklich
im Stande war, wie dies Geſetz annahm, völlig ſelbſtändig neben den
Offizieren der Linie zu ſtehen. Aber wie unfertig auch Manches noch
erſchien, der große Wurf war doch gelungen. Mit dieſem Volksheere
war ein großartiges Mittel ſittlicher Volkserziehung gefunden, trefflich
geeignet die alten Tugenden der Nation, Muth, Treue, Pflichtgefühl zu
entwickeln, ihre natürlichen Schwächen, Eigenſinn, Particularismus, Ver-
ſchwommenheit zu bekämpfen. Der Staat wurde nun erſt dieſem ſtaat-
loſen Geſchlechte wahrhaft lebendig, wie den Bürgervölkern des Alter-
thums, trat mit ſeiner begeiſternden Majeſtät und ſeiner herben Strenge
in jedes Haus hinein. Die kurze Dienſtzeit zwang die Mannſchaft und
mehr noch die Offiziere zur Anſpannung aller Kräfte; das Freiwilligen-
jahr bot das einfache Mittel den höheren Ständen die ungewohnte Laſt
erträglich zu machen. Der alte, mit dem Weſen dieſes Staates feſt ver-
wachſene Gedanke Friedrich Wilhelms I. fand endlich die Geſtaltung,
welche den demokratiſchen Anſchauungen des neuen Jahrhunderts ent-
ſprach und doch der unzerſtörbaren Ariſtokratie der Bildung gerecht wurde.

Das Wehrgeſetz gab ein unzweideutiges Zeugniß für die friedfertigen
Abſichten der Regierung; mit einer Feldarmee, die zur größeren Hälfte
aus Landwehren beſtand, ließ ſich eine Politik des unruhigen Ehrgeizes
ſchlechterdings nicht führen. Gleichwohl ſprach aus dem Aufgebote der
geſammten Nation zugleich der beſtimmte Entſchluß, die wiedererrungene
Großmachtſtellung der Monarchie zu behaupten. Daher denn an allen
Nachbarhöfen lebhafte Beunruhigung. Mochten einzelne Generale der
alten Schule über das preußiſche „Milizweſen“ verächtlich abſprechen,
die Kriegsthaten dieſes Heeres ſtanden doch noch in zu friſcher Erinne-
rung. Der franzöſiſche Kriegsminiſter Dupont zog ſogleich mit erſicht-
licher Sorge bei dem preußiſchen Geſandten Erkundigungen ein und
erhielt die trockene Antwort: „wir wollen große Streitkräfte ohne ein
unverhältnißmäßig großes ſtehendes Heer.“*) Noch beſorgter war die
Hofburg; ſie fürchtete nicht blos das Erſtarken des alten Nebenbuhlers,
ſondern ſie erkannte auch in dem Wehrgeſetze einen Triumph der militä-
riſchen Jacobiner des ſchleſiſchen Heeres und witterte unheimliche demo-
kratiſche Beſtrebungen.

Boyen aber ſah in ſeinem Geſetze das köſtliche Vermächtniß des
Befreiungskrieges; er ſagte ſich mit frohem Stolze, daß die Eigenart des
preußiſchen Staates in dieſen Inſtitutionen ſich verkörperte, daß Preußen
in der Ausbildung ſeines Heerweſens allen anderen Staaten überlegen
war und keine andere Großmacht jener Zeit, am allerwenigſten Oeſter-
reich mit ſeinen murrenden Italienern, wagen durfte ihrem ganzen Volke
Waffen in die Hände zu geben. In wie großem und freiem Sinne er

*) Goltz’s Bericht, Paris 26. Sept. 1814.
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[590/0606] I. 5. Ende der Kriegszeit. nur die Erfahrung zeigen, ob das Offizierscorps der Landwehr wirklich im Stande war, wie dies Geſetz annahm, völlig ſelbſtändig neben den Offizieren der Linie zu ſtehen. Aber wie unfertig auch Manches noch erſchien, der große Wurf war doch gelungen. Mit dieſem Volksheere war ein großartiges Mittel ſittlicher Volkserziehung gefunden, trefflich geeignet die alten Tugenden der Nation, Muth, Treue, Pflichtgefühl zu entwickeln, ihre natürlichen Schwächen, Eigenſinn, Particularismus, Ver- ſchwommenheit zu bekämpfen. Der Staat wurde nun erſt dieſem ſtaat- loſen Geſchlechte wahrhaft lebendig, wie den Bürgervölkern des Alter- thums, trat mit ſeiner begeiſternden Majeſtät und ſeiner herben Strenge in jedes Haus hinein. Die kurze Dienſtzeit zwang die Mannſchaft und mehr noch die Offiziere zur Anſpannung aller Kräfte; das Freiwilligen- jahr bot das einfache Mittel den höheren Ständen die ungewohnte Laſt erträglich zu machen. Der alte, mit dem Weſen dieſes Staates feſt ver- wachſene Gedanke Friedrich Wilhelms I. fand endlich die Geſtaltung, welche den demokratiſchen Anſchauungen des neuen Jahrhunderts ent- ſprach und doch der unzerſtörbaren Ariſtokratie der Bildung gerecht wurde. Das Wehrgeſetz gab ein unzweideutiges Zeugniß für die friedfertigen Abſichten der Regierung; mit einer Feldarmee, die zur größeren Hälfte aus Landwehren beſtand, ließ ſich eine Politik des unruhigen Ehrgeizes ſchlechterdings nicht führen. Gleichwohl ſprach aus dem Aufgebote der geſammten Nation zugleich der beſtimmte Entſchluß, die wiedererrungene Großmachtſtellung der Monarchie zu behaupten. Daher denn an allen Nachbarhöfen lebhafte Beunruhigung. Mochten einzelne Generale der alten Schule über das preußiſche „Milizweſen“ verächtlich abſprechen, die Kriegsthaten dieſes Heeres ſtanden doch noch in zu friſcher Erinne- rung. Der franzöſiſche Kriegsminiſter Dupont zog ſogleich mit erſicht- licher Sorge bei dem preußiſchen Geſandten Erkundigungen ein und erhielt die trockene Antwort: „wir wollen große Streitkräfte ohne ein unverhältnißmäßig großes ſtehendes Heer.“ *) Noch beſorgter war die Hofburg; ſie fürchtete nicht blos das Erſtarken des alten Nebenbuhlers, ſondern ſie erkannte auch in dem Wehrgeſetze einen Triumph der militä- riſchen Jacobiner des ſchleſiſchen Heeres und witterte unheimliche demo- kratiſche Beſtrebungen. Boyen aber ſah in ſeinem Geſetze das köſtliche Vermächtniß des Befreiungskrieges; er ſagte ſich mit frohem Stolze, daß die Eigenart des preußiſchen Staates in dieſen Inſtitutionen ſich verkörperte, daß Preußen in der Ausbildung ſeines Heerweſens allen anderen Staaten überlegen war und keine andere Großmacht jener Zeit, am allerwenigſten Oeſter- reich mit ſeinen murrenden Italienern, wagen durfte ihrem ganzen Volke Waffen in die Hände zu geben. In wie großem und freiem Sinne er *) Goltz’s Bericht, Paris 26. Sept. 1814.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 590. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/606>, abgerufen am 25.11.2024.