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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Schölers Berichte aus Petersburg.

In seinen Berichten an den Staatskanzler und in einem ausführ-
lichen "Memoire über Rußlands Forderungen" entwarf der Gesandte
ein finsteres Schauergemälde von Alexanders Ehrgeiz. Wahres und
Falsches wirft er wirr durch einander. Er vermuthet, daß der Czar
selbst Memel, ja ganz Ostpreußen zu gewinnen denke, und verweist war-
nend auf die russische Garnison, die noch immer unter General Kuleneff
in Danzig stand. Seit dem Tilsiter Frieden gefalle sich Alexander in
"unbedingtem Huldigen des Zeitgeistes"; er werde vielleicht dereinst seinen
Russen eine Verfassung geben und jedenfalls die orientalischen Pläne seiner
Vorfahren wieder aufnehmen. Er ist "ein Schüler Napoleons". Der
Oberst fühlt indeß, daß sein erschöpfter Staat nicht daran denken darf
die Russen aus Warschau zu vertreiben: vorderhand müssen wir um
jeden Preis den Frieden wahren, doch die Zukunft wird uns zwingen
mit Oesterreich verbündet gegen Rußland zu fechten.

Erschreckt durch diese düstere Schilderung, ermuthigt durch Hum-
boldts hoffnungsvollen Wiener Bericht, beschloß der Staatskanzler sich
an Oesterreich und England anzuschließen, freilich ohne mit Rußland
offen zu brechen. In seiner Antwort an Humboldt*) sprach er diesen
Entschluß aus und entwickelte zugleich nochmals sowohl die Gebietsan-
sprüche Preußens als die alten dualistischen Pläne: "Wir brauchen Sach-
sen (il nous faut la Saxe). Ich würde mir's ewig vorwerfen, wenn ich
in diesem Punkte nur im Geringsten nachgäbe. Die Anstrengungen
Preußens haben so wesentlich zur Befreiung Europas beigetragen, daß
wir berechtigt sind die Berücksichtigung unserer Interessen zu erwarten.
Der Bund Oesterreichs und Preußens ist so nothwendig für die Erhal-
tung der Unabhängigkeit Europas; die Staatsmänner, welche den guten
Gedanken gehabt haben sich von den unglückseligen Vorurtheilen früherer
Zeiten zu befreien, müssen einsehen, daß die Interessen der beiden Groß-
mächte zusammenfallen, und daß Oesterreich gar nichts Besseres thun
kann als zur Verstärkung Preußens beizutragen, ganz wie Preußen mit
großer Freude die Vergrößerung und Kräftigung Oesterreichs sehen wird.
Ich sehe mit Schmerz -- und ich habe die Beweise dafür -- daß es
noch sehr achtungswerthe Männer giebt, die von diesen großen Wahr-
heiten noch nicht durchdrungen sind, sondern im Gegentheil nach den
politischen Ansichten des vergangenen Jahrhunderts denken und handeln."

Dann erklärt sich der Staatskanzler über Mainz: wir werden diesen
Platz niemals an Baiern ausliefern, auch die bairischen Ansprüche auf
Frankfurt und Hanau entschieden bekämpfen. Um Metternich zu über-
zeugen ward eine Denkschrift Knesebecks beigefügt, die mit einem großen
Aufwande schwerfälliger militärischer Gelehrsamkeit den richtigen Satz be-
wies, daß Mainz für die Vertheidigung von Nord- und Mitteldeutschland

*) Hardenberg an Humboldt, 3. September 1814.
Schölers Berichte aus Petersburg.

In ſeinen Berichten an den Staatskanzler und in einem ausführ-
lichen „Memoire über Rußlands Forderungen“ entwarf der Geſandte
ein finſteres Schauergemälde von Alexanders Ehrgeiz. Wahres und
Falſches wirft er wirr durch einander. Er vermuthet, daß der Czar
ſelbſt Memel, ja ganz Oſtpreußen zu gewinnen denke, und verweiſt war-
nend auf die ruſſiſche Garniſon, die noch immer unter General Kuleneff
in Danzig ſtand. Seit dem Tilſiter Frieden gefalle ſich Alexander in
„unbedingtem Huldigen des Zeitgeiſtes“; er werde vielleicht dereinſt ſeinen
Ruſſen eine Verfaſſung geben und jedenfalls die orientaliſchen Pläne ſeiner
Vorfahren wieder aufnehmen. Er iſt „ein Schüler Napoleons“. Der
Oberſt fühlt indeß, daß ſein erſchöpfter Staat nicht daran denken darf
die Ruſſen aus Warſchau zu vertreiben: vorderhand müſſen wir um
jeden Preis den Frieden wahren, doch die Zukunft wird uns zwingen
mit Oeſterreich verbündet gegen Rußland zu fechten.

Erſchreckt durch dieſe düſtere Schilderung, ermuthigt durch Hum-
boldts hoffnungsvollen Wiener Bericht, beſchloß der Staatskanzler ſich
an Oeſterreich und England anzuſchließen, freilich ohne mit Rußland
offen zu brechen. In ſeiner Antwort an Humboldt*) ſprach er dieſen
Entſchluß aus und entwickelte zugleich nochmals ſowohl die Gebietsan-
ſprüche Preußens als die alten dualiſtiſchen Pläne: „Wir brauchen Sach-
ſen (il nous faut la Saxe). Ich würde mir’s ewig vorwerfen, wenn ich
in dieſem Punkte nur im Geringſten nachgäbe. Die Anſtrengungen
Preußens haben ſo weſentlich zur Befreiung Europas beigetragen, daß
wir berechtigt ſind die Berückſichtigung unſerer Intereſſen zu erwarten.
Der Bund Oeſterreichs und Preußens iſt ſo nothwendig für die Erhal-
tung der Unabhängigkeit Europas; die Staatsmänner, welche den guten
Gedanken gehabt haben ſich von den unglückſeligen Vorurtheilen früherer
Zeiten zu befreien, müſſen einſehen, daß die Intereſſen der beiden Groß-
mächte zuſammenfallen, und daß Oeſterreich gar nichts Beſſeres thun
kann als zur Verſtärkung Preußens beizutragen, ganz wie Preußen mit
großer Freude die Vergrößerung und Kräftigung Oeſterreichs ſehen wird.
Ich ſehe mit Schmerz — und ich habe die Beweiſe dafür — daß es
noch ſehr achtungswerthe Männer giebt, die von dieſen großen Wahr-
heiten noch nicht durchdrungen ſind, ſondern im Gegentheil nach den
politiſchen Anſichten des vergangenen Jahrhunderts denken und handeln.“

Dann erklärt ſich der Staatskanzler über Mainz: wir werden dieſen
Platz niemals an Baiern ausliefern, auch die bairiſchen Anſprüche auf
Frankfurt und Hanau entſchieden bekämpfen. Um Metternich zu über-
zeugen ward eine Denkſchrift Kneſebecks beigefügt, die mit einem großen
Aufwande ſchwerfälliger militäriſcher Gelehrſamkeit den richtigen Satz be-
wies, daß Mainz für die Vertheidigung von Nord- und Mitteldeutſchland

*) Hardenberg an Humboldt, 3. September 1814.
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[583/0599] Schölers Berichte aus Petersburg. In ſeinen Berichten an den Staatskanzler und in einem ausführ- lichen „Memoire über Rußlands Forderungen“ entwarf der Geſandte ein finſteres Schauergemälde von Alexanders Ehrgeiz. Wahres und Falſches wirft er wirr durch einander. Er vermuthet, daß der Czar ſelbſt Memel, ja ganz Oſtpreußen zu gewinnen denke, und verweiſt war- nend auf die ruſſiſche Garniſon, die noch immer unter General Kuleneff in Danzig ſtand. Seit dem Tilſiter Frieden gefalle ſich Alexander in „unbedingtem Huldigen des Zeitgeiſtes“; er werde vielleicht dereinſt ſeinen Ruſſen eine Verfaſſung geben und jedenfalls die orientaliſchen Pläne ſeiner Vorfahren wieder aufnehmen. Er iſt „ein Schüler Napoleons“. Der Oberſt fühlt indeß, daß ſein erſchöpfter Staat nicht daran denken darf die Ruſſen aus Warſchau zu vertreiben: vorderhand müſſen wir um jeden Preis den Frieden wahren, doch die Zukunft wird uns zwingen mit Oeſterreich verbündet gegen Rußland zu fechten. Erſchreckt durch dieſe düſtere Schilderung, ermuthigt durch Hum- boldts hoffnungsvollen Wiener Bericht, beſchloß der Staatskanzler ſich an Oeſterreich und England anzuſchließen, freilich ohne mit Rußland offen zu brechen. In ſeiner Antwort an Humboldt *) ſprach er dieſen Entſchluß aus und entwickelte zugleich nochmals ſowohl die Gebietsan- ſprüche Preußens als die alten dualiſtiſchen Pläne: „Wir brauchen Sach- ſen (il nous faut la Saxe). Ich würde mir’s ewig vorwerfen, wenn ich in dieſem Punkte nur im Geringſten nachgäbe. Die Anſtrengungen Preußens haben ſo weſentlich zur Befreiung Europas beigetragen, daß wir berechtigt ſind die Berückſichtigung unſerer Intereſſen zu erwarten. Der Bund Oeſterreichs und Preußens iſt ſo nothwendig für die Erhal- tung der Unabhängigkeit Europas; die Staatsmänner, welche den guten Gedanken gehabt haben ſich von den unglückſeligen Vorurtheilen früherer Zeiten zu befreien, müſſen einſehen, daß die Intereſſen der beiden Groß- mächte zuſammenfallen, und daß Oeſterreich gar nichts Beſſeres thun kann als zur Verſtärkung Preußens beizutragen, ganz wie Preußen mit großer Freude die Vergrößerung und Kräftigung Oeſterreichs ſehen wird. Ich ſehe mit Schmerz — und ich habe die Beweiſe dafür — daß es noch ſehr achtungswerthe Männer giebt, die von dieſen großen Wahr- heiten noch nicht durchdrungen ſind, ſondern im Gegentheil nach den politiſchen Anſichten des vergangenen Jahrhunderts denken und handeln.“ Dann erklärt ſich der Staatskanzler über Mainz: wir werden dieſen Platz niemals an Baiern ausliefern, auch die bairiſchen Anſprüche auf Frankfurt und Hanau entſchieden bekämpfen. Um Metternich zu über- zeugen ward eine Denkſchrift Kneſebecks beigefügt, die mit einem großen Aufwande ſchwerfälliger militäriſcher Gelehrſamkeit den richtigen Satz be- wies, daß Mainz für die Vertheidigung von Nord- und Mitteldeutſchland *) Hardenberg an Humboldt, 3. September 1814.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 583. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/599>, abgerufen am 25.11.2024.