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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Talleyrands Instruction.
Mittelstaaten dagegen sind berechtigt die ihnen durch Napoleon geschenkten
Gebiete mediatisirter Reichsstände zu behalten. Denn die Mediatisirten
waren nicht Souveräne, sondern Unterthanen von Kaiser und Reich; jeder
Versuch sie wiederherzustellen wäre illegitim und gefährlich. "Schon ein
Zögern in diesem Punkte würde genügen ganz Süddeutschland aufzuregen
und in Flammen zu setzen." So ist denn mit wunderbar dreister Logik
erwiesen, daß die legitime Dynastie der Bourbonen die Politik des Rhein-
bundes fortführen, die Könige von Napoleons Gnaden beschützen muß.
Die größte Gefahr droht der deutschen Freiheit von der Herrschsucht
Preußens. Jeder Vorwand ist dem Ehrgeiz dieses Staates recht; kein
Gewissensbedenken hält ihn auf. Gebe man ihm erst die versprochenen
zehn Millionen Seelen, so wird er bald ihrer zwanzig haben und ganz
Deutschland ihm unterworfen sein. Darum muß sein Besitzstand in
Deutschland beschränkt, sein Einfluß auf die deutschen Staaten im Zaum
gehalten werden durch eine weise Bundesverfassung, welche die Bundes-
gewalt in möglichst viele Hände legt. Dazu ist nöthig die Erhaltung der
kleinen, die Vergrößerung der Mittelstaaten und vor Allem die Wiederher-
stellung des den Bourbonen so nahe verwandten Königs Friedrich August;
"durch die Erwerbung Sachsens würde Preußen einen ungeheuren und
entscheidenden Schritt thun nach dem Ziele der völligen Beherrschung
Deutschlands." Darum soll auch Mainz nimmermehr eine preußische
Festung werden, sondern, wie Luxemburg, ein fester Platz des deutschen
Bundes; südlich der Mosel darf sich Preußen nicht ausbreiten. Wir müssen
Holland helfen möglichst weit auf dem linken Rheinufer vorzurücken, des-
gleichen die Ansprüche Hessens, Baierns und namentlich Hannovers unter-
stützen "um das für Preußen verfügbare Ländergebiet zu verkleinern". Da
die Unabhängigkeit Polens leider unmöglich ist und nur zur Anarchie führen
kann, so muß dort der Zustand von 1805 wiederhergestellt werden, um so
mehr "da dies den Ansprüchen Preußens auf Sachsen ein Ziel setzen
würde". Italiens Unabhängigkeit besteht darin, daß stets mehrere Mächte
auf der Halbinsel einander das Gleichgewicht halten; daher soll der Usur-
pator Murat, celui qui regne a Naples, den legitimen Bourbonen die
Krone zurückgeben, Toscana an einen anderen Zweig der Bourbonen fallen,
der Papst erhält die Legationen, Sardinien wird vergrößert und das Erb-
folgerecht der Linie Carignan sicher gestellt. So empfängt Frankreich im
Süden neben Oesterreich den herrschenden Einfluß. Der beste Bundes-
genosse für diese Pläne ist England, das außerhalb Europas der Länder-
gier fröhnt, in Europa eine conservative Politik einhält.

Meisterhaft hatte Talleyrand seine Denkschrift auf die persönlichen
Neigungen des legitimsten aller Könige berechnet. Der Mann, der einst
bei dem Verbrüderungsfeste der Revolution das Hochamt gehalten und
dann jahrelang als napoleonischer Minister, nach seinem eigenen Geständ-
niß, "den Henker Europas" gespielt, vertheidigte jetzt das legitime Recht

Treitschke, Deutsche Geschichte. I. 37

Talleyrands Inſtruction.
Mittelſtaaten dagegen ſind berechtigt die ihnen durch Napoleon geſchenkten
Gebiete mediatiſirter Reichsſtände zu behalten. Denn die Mediatiſirten
waren nicht Souveräne, ſondern Unterthanen von Kaiſer und Reich; jeder
Verſuch ſie wiederherzuſtellen wäre illegitim und gefährlich. „Schon ein
Zögern in dieſem Punkte würde genügen ganz Süddeutſchland aufzuregen
und in Flammen zu ſetzen.“ So iſt denn mit wunderbar dreiſter Logik
erwieſen, daß die legitime Dynaſtie der Bourbonen die Politik des Rhein-
bundes fortführen, die Könige von Napoleons Gnaden beſchützen muß.
Die größte Gefahr droht der deutſchen Freiheit von der Herrſchſucht
Preußens. Jeder Vorwand iſt dem Ehrgeiz dieſes Staates recht; kein
Gewiſſensbedenken hält ihn auf. Gebe man ihm erſt die verſprochenen
zehn Millionen Seelen, ſo wird er bald ihrer zwanzig haben und ganz
Deutſchland ihm unterworfen ſein. Darum muß ſein Beſitzſtand in
Deutſchland beſchränkt, ſein Einfluß auf die deutſchen Staaten im Zaum
gehalten werden durch eine weiſe Bundesverfaſſung, welche die Bundes-
gewalt in möglichſt viele Hände legt. Dazu iſt nöthig die Erhaltung der
kleinen, die Vergrößerung der Mittelſtaaten und vor Allem die Wiederher-
ſtellung des den Bourbonen ſo nahe verwandten Königs Friedrich Auguſt;
„durch die Erwerbung Sachſens würde Preußen einen ungeheuren und
entſcheidenden Schritt thun nach dem Ziele der völligen Beherrſchung
Deutſchlands.“ Darum ſoll auch Mainz nimmermehr eine preußiſche
Feſtung werden, ſondern, wie Luxemburg, ein feſter Platz des deutſchen
Bundes; ſüdlich der Moſel darf ſich Preußen nicht ausbreiten. Wir müſſen
Holland helfen möglichſt weit auf dem linken Rheinufer vorzurücken, des-
gleichen die Anſprüche Heſſens, Baierns und namentlich Hannovers unter-
ſtützen „um das für Preußen verfügbare Ländergebiet zu verkleinern“. Da
die Unabhängigkeit Polens leider unmöglich iſt und nur zur Anarchie führen
kann, ſo muß dort der Zuſtand von 1805 wiederhergeſtellt werden, um ſo
mehr „da dies den Anſprüchen Preußens auf Sachſen ein Ziel ſetzen
würde“. Italiens Unabhängigkeit beſteht darin, daß ſtets mehrere Mächte
auf der Halbinſel einander das Gleichgewicht halten; daher ſoll der Uſur-
pator Murat, celui qui règne à Naples, den legitimen Bourbonen die
Krone zurückgeben, Toscana an einen anderen Zweig der Bourbonen fallen,
der Papſt erhält die Legationen, Sardinien wird vergrößert und das Erb-
folgerecht der Linie Carignan ſicher geſtellt. So empfängt Frankreich im
Süden neben Oeſterreich den herrſchenden Einfluß. Der beſte Bundes-
genoſſe für dieſe Pläne iſt England, das außerhalb Europas der Länder-
gier fröhnt, in Europa eine conſervative Politik einhält.

Meiſterhaft hatte Talleyrand ſeine Denkſchrift auf die perſönlichen
Neigungen des legitimſten aller Könige berechnet. Der Mann, der einſt
bei dem Verbrüderungsfeſte der Revolution das Hochamt gehalten und
dann jahrelang als napoleoniſcher Miniſter, nach ſeinem eigenen Geſtänd-
niß, „den Henker Europas“ geſpielt, vertheidigte jetzt das legitime Recht

Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 37
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[577/0593] Talleyrands Inſtruction. Mittelſtaaten dagegen ſind berechtigt die ihnen durch Napoleon geſchenkten Gebiete mediatiſirter Reichsſtände zu behalten. Denn die Mediatiſirten waren nicht Souveräne, ſondern Unterthanen von Kaiſer und Reich; jeder Verſuch ſie wiederherzuſtellen wäre illegitim und gefährlich. „Schon ein Zögern in dieſem Punkte würde genügen ganz Süddeutſchland aufzuregen und in Flammen zu ſetzen.“ So iſt denn mit wunderbar dreiſter Logik erwieſen, daß die legitime Dynaſtie der Bourbonen die Politik des Rhein- bundes fortführen, die Könige von Napoleons Gnaden beſchützen muß. Die größte Gefahr droht der deutſchen Freiheit von der Herrſchſucht Preußens. Jeder Vorwand iſt dem Ehrgeiz dieſes Staates recht; kein Gewiſſensbedenken hält ihn auf. Gebe man ihm erſt die verſprochenen zehn Millionen Seelen, ſo wird er bald ihrer zwanzig haben und ganz Deutſchland ihm unterworfen ſein. Darum muß ſein Beſitzſtand in Deutſchland beſchränkt, ſein Einfluß auf die deutſchen Staaten im Zaum gehalten werden durch eine weiſe Bundesverfaſſung, welche die Bundes- gewalt in möglichſt viele Hände legt. Dazu iſt nöthig die Erhaltung der kleinen, die Vergrößerung der Mittelſtaaten und vor Allem die Wiederher- ſtellung des den Bourbonen ſo nahe verwandten Königs Friedrich Auguſt; „durch die Erwerbung Sachſens würde Preußen einen ungeheuren und entſcheidenden Schritt thun nach dem Ziele der völligen Beherrſchung Deutſchlands.“ Darum ſoll auch Mainz nimmermehr eine preußiſche Feſtung werden, ſondern, wie Luxemburg, ein feſter Platz des deutſchen Bundes; ſüdlich der Moſel darf ſich Preußen nicht ausbreiten. Wir müſſen Holland helfen möglichſt weit auf dem linken Rheinufer vorzurücken, des- gleichen die Anſprüche Heſſens, Baierns und namentlich Hannovers unter- ſtützen „um das für Preußen verfügbare Ländergebiet zu verkleinern“. Da die Unabhängigkeit Polens leider unmöglich iſt und nur zur Anarchie führen kann, ſo muß dort der Zuſtand von 1805 wiederhergeſtellt werden, um ſo mehr „da dies den Anſprüchen Preußens auf Sachſen ein Ziel ſetzen würde“. Italiens Unabhängigkeit beſteht darin, daß ſtets mehrere Mächte auf der Halbinſel einander das Gleichgewicht halten; daher ſoll der Uſur- pator Murat, celui qui règne à Naples, den legitimen Bourbonen die Krone zurückgeben, Toscana an einen anderen Zweig der Bourbonen fallen, der Papſt erhält die Legationen, Sardinien wird vergrößert und das Erb- folgerecht der Linie Carignan ſicher geſtellt. So empfängt Frankreich im Süden neben Oeſterreich den herrſchenden Einfluß. Der beſte Bundes- genoſſe für dieſe Pläne iſt England, das außerhalb Europas der Länder- gier fröhnt, in Europa eine conſervative Politik einhält. Meiſterhaft hatte Talleyrand ſeine Denkſchrift auf die perſönlichen Neigungen des legitimſten aller Könige berechnet. Der Mann, der einſt bei dem Verbrüderungsfeſte der Revolution das Hochamt gehalten und dann jahrelang als napoleoniſcher Miniſter, nach ſeinem eigenen Geſtänd- niß, „den Henker Europas“ geſpielt, vertheidigte jetzt das legitime Recht Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 37

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 577. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/593>, abgerufen am 22.11.2024.