Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

I. 5. Ende der Kriegszeit.
staaten sollte Frankreich seine Stärke suchen. Wohl nirgends hat diese
Politik, die bis zum heutigen Tage fortwährt, einen so durchsichtig klaren
Ausdruck gefunden, wie in der Instruction, welche Talleyrand im Sep-
tember 1814 für sich selbst niederschrieb. Der Vertrag war noch kaum
unterzeichnet, wodurch Frankreich sich verpflichtete an der Entscheidung der
Gebietsfragen nicht theilzunehmen; und sofort, als sei nichts versprochen,
mit unerschütterlicher Gewissenlosigkeit, entwarf der französische Staats-
mann ein vollständiges Programm für die Neugestaltung der europäischen
Karte. Da jener Artikel des Pariser Friedens auf Frankreichs Betrieb
geheim gehalten wurde, so ahnte das große Publikum gar nicht, welchen
unerhörten Vertragsbruch das französische Cabinet beging. Talleyrands
Instruction folgte Punkt für Punkt jener vertraulichen Pariser Denk-
schrift, worin Hardenberg die preußischen Gebietsansprüche dargelegt hatte,
und beantwortete alle deutschen Fragen durchaus im Sinne des öster-
reichischen Cabinets. Jener preußische Entwurf ist also höchstwahrschein-
lich durch Metternich an Talleyrand verrathen und zwischen den beiden
Staatsmännern genau besprochen worden: -- ein Probstück österreichischer
Bundestreue, das sich nachher in Wien noch mehrmals wiederholte.

Ludwig XVIII. wußte wohl, daß Preußen die Napoleoniden arg-
wöhnisch beobachtete und mehrmals bei den Alliirten die Entfernung
Bonapartes aus Elba beantragte; doch er wußte auch, daß der preußische
Hof die Bourbonen kaum minder mißtrauisch ansah als den gestürzten
Usurpator. Auf Augenblicke schien sich zwar ein freundlicheres Verhältniß
zwischen den beiden Höfen herzustellen. Der Herzog von Berry hoffte
auf die Hand der schönen Prinzessin Charlotte von Preußen und ließ den
Grafen Goltz mehrmals über diese zarte Frage ausforschen*). Indeß da
König Friedrich Wilhelm von einer solchen Familienverbindung durchaus
nichts wissen wollte, so trat bald wieder eine peinliche Spannung ein.
Der Bourbone fühlte sehr richtig, daß seine Nation von ihm entschiedene
Feindschaft gegen den werdenden deutschen Staat verlangte.

Auch Talleyrands Instruction geht von demselben Gedanken aus. Sie
zeigt zunächst, daß Frankreich überall die kleinen Staaten unterstützen müsse,
und stellt sodann drei angeblich unanfechtbare Regeln des Völkerrechts auf:
Die Souveränität, die für das öffentliche Recht das Nämliche ist was das
Eigenthum für das Privatrecht, kann niemals allein durch die Eroberung
erworben werden, sondern nur durch den Verzicht des Souveräns; sie ist
rechtsgiltig nur für diejenigen Mächte, welche sie anerkannt haben; endlich
(mit Nutzanwendung auf den gefangenen König von Sachsen) jeder Ver-
zicht auf die Souveränität ist nichtig, wenn er nicht in voller Freiheit aus-
gesprochen wird. Daraus folgt: Preußen hat durchaus kein Recht die im
Tilsiter Frieden rechtmäßig abgetretenen Provinzen zurückzugewinnen. Die

*) Goltz's Berichte vom 20. Juli 1814 u. f.

I. 5. Ende der Kriegszeit.
ſtaaten ſollte Frankreich ſeine Stärke ſuchen. Wohl nirgends hat dieſe
Politik, die bis zum heutigen Tage fortwährt, einen ſo durchſichtig klaren
Ausdruck gefunden, wie in der Inſtruction, welche Talleyrand im Sep-
tember 1814 für ſich ſelbſt niederſchrieb. Der Vertrag war noch kaum
unterzeichnet, wodurch Frankreich ſich verpflichtete an der Entſcheidung der
Gebietsfragen nicht theilzunehmen; und ſofort, als ſei nichts verſprochen,
mit unerſchütterlicher Gewiſſenloſigkeit, entwarf der franzöſiſche Staats-
mann ein vollſtändiges Programm für die Neugeſtaltung der europäiſchen
Karte. Da jener Artikel des Pariſer Friedens auf Frankreichs Betrieb
geheim gehalten wurde, ſo ahnte das große Publikum gar nicht, welchen
unerhörten Vertragsbruch das franzöſiſche Cabinet beging. Talleyrands
Inſtruction folgte Punkt für Punkt jener vertraulichen Pariſer Denk-
ſchrift, worin Hardenberg die preußiſchen Gebietsanſprüche dargelegt hatte,
und beantwortete alle deutſchen Fragen durchaus im Sinne des öſter-
reichiſchen Cabinets. Jener preußiſche Entwurf iſt alſo höchſtwahrſchein-
lich durch Metternich an Talleyrand verrathen und zwiſchen den beiden
Staatsmännern genau beſprochen worden: — ein Probſtück öſterreichiſcher
Bundestreue, das ſich nachher in Wien noch mehrmals wiederholte.

Ludwig XVIII. wußte wohl, daß Preußen die Napoleoniden arg-
wöhniſch beobachtete und mehrmals bei den Alliirten die Entfernung
Bonapartes aus Elba beantragte; doch er wußte auch, daß der preußiſche
Hof die Bourbonen kaum minder mißtrauiſch anſah als den geſtürzten
Uſurpator. Auf Augenblicke ſchien ſich zwar ein freundlicheres Verhältniß
zwiſchen den beiden Höfen herzuſtellen. Der Herzog von Berry hoffte
auf die Hand der ſchönen Prinzeſſin Charlotte von Preußen und ließ den
Grafen Goltz mehrmals über dieſe zarte Frage ausforſchen*). Indeß da
König Friedrich Wilhelm von einer ſolchen Familienverbindung durchaus
nichts wiſſen wollte, ſo trat bald wieder eine peinliche Spannung ein.
Der Bourbone fühlte ſehr richtig, daß ſeine Nation von ihm entſchiedene
Feindſchaft gegen den werdenden deutſchen Staat verlangte.

Auch Talleyrands Inſtruction geht von demſelben Gedanken aus. Sie
zeigt zunächſt, daß Frankreich überall die kleinen Staaten unterſtützen müſſe,
und ſtellt ſodann drei angeblich unanfechtbare Regeln des Völkerrechts auf:
Die Souveränität, die für das öffentliche Recht das Nämliche iſt was das
Eigenthum für das Privatrecht, kann niemals allein durch die Eroberung
erworben werden, ſondern nur durch den Verzicht des Souveräns; ſie iſt
rechtsgiltig nur für diejenigen Mächte, welche ſie anerkannt haben; endlich
(mit Nutzanwendung auf den gefangenen König von Sachſen) jeder Ver-
zicht auf die Souveränität iſt nichtig, wenn er nicht in voller Freiheit aus-
geſprochen wird. Daraus folgt: Preußen hat durchaus kein Recht die im
Tilſiter Frieden rechtmäßig abgetretenen Provinzen zurückzugewinnen. Die

*) Goltz’s Berichte vom 20. Juli 1814 u. f.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0592" n="576"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> 5. Ende der Kriegszeit.</fw><lb/>
&#x017F;taaten &#x017F;ollte Frankreich &#x017F;eine Stärke &#x017F;uchen. Wohl nirgends hat die&#x017F;e<lb/>
Politik, die bis zum heutigen Tage fortwährt, einen &#x017F;o durch&#x017F;ichtig klaren<lb/>
Ausdruck gefunden, wie in der In&#x017F;truction, welche Talleyrand im Sep-<lb/>
tember 1814 für &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t nieder&#x017F;chrieb. Der Vertrag war noch kaum<lb/>
unterzeichnet, wodurch Frankreich &#x017F;ich verpflichtete an der Ent&#x017F;cheidung der<lb/>
Gebietsfragen nicht theilzunehmen; und &#x017F;ofort, als &#x017F;ei nichts ver&#x017F;prochen,<lb/>
mit uner&#x017F;chütterlicher Gewi&#x017F;&#x017F;enlo&#x017F;igkeit, entwarf der franzö&#x017F;i&#x017F;che Staats-<lb/>
mann ein voll&#x017F;tändiges Programm für die Neuge&#x017F;taltung der europäi&#x017F;chen<lb/>
Karte. Da jener Artikel des Pari&#x017F;er Friedens auf Frankreichs Betrieb<lb/>
geheim gehalten wurde, &#x017F;o ahnte das große Publikum gar nicht, welchen<lb/>
unerhörten Vertragsbruch das franzö&#x017F;i&#x017F;che Cabinet beging. Talleyrands<lb/>
In&#x017F;truction folgte Punkt für Punkt jener vertraulichen Pari&#x017F;er Denk-<lb/>
&#x017F;chrift, worin Hardenberg die preußi&#x017F;chen Gebietsan&#x017F;prüche dargelegt hatte,<lb/>
und beantwortete alle deut&#x017F;chen Fragen durchaus im Sinne des ö&#x017F;ter-<lb/>
reichi&#x017F;chen Cabinets. Jener preußi&#x017F;che Entwurf i&#x017F;t al&#x017F;o höch&#x017F;twahr&#x017F;chein-<lb/>
lich durch Metternich an Talleyrand verrathen und zwi&#x017F;chen den beiden<lb/>
Staatsmännern genau be&#x017F;prochen worden: &#x2014; ein Prob&#x017F;tück ö&#x017F;terreichi&#x017F;cher<lb/>
Bundestreue, das &#x017F;ich nachher in Wien noch mehrmals wiederholte.</p><lb/>
            <p>Ludwig <hi rendition="#aq">XVIII.</hi> wußte wohl, daß Preußen die Napoleoniden arg-<lb/>
wöhni&#x017F;ch beobachtete und mehrmals bei den Alliirten die Entfernung<lb/>
Bonapartes aus Elba beantragte; doch er wußte auch, daß der preußi&#x017F;che<lb/>
Hof die Bourbonen kaum minder mißtraui&#x017F;ch an&#x017F;ah als den ge&#x017F;türzten<lb/>
U&#x017F;urpator. Auf Augenblicke &#x017F;chien &#x017F;ich zwar ein freundlicheres Verhältniß<lb/>
zwi&#x017F;chen den beiden Höfen herzu&#x017F;tellen. Der Herzog von Berry hoffte<lb/>
auf die Hand der &#x017F;chönen Prinze&#x017F;&#x017F;in Charlotte von Preußen und ließ den<lb/>
Grafen Goltz mehrmals über die&#x017F;e zarte Frage ausfor&#x017F;chen<note place="foot" n="*)">Goltz&#x2019;s Berichte vom 20. Juli 1814 u. f.</note>. Indeß da<lb/>
König Friedrich Wilhelm von einer &#x017F;olchen Familienverbindung durchaus<lb/>
nichts wi&#x017F;&#x017F;en wollte, &#x017F;o trat bald wieder eine peinliche Spannung ein.<lb/>
Der Bourbone fühlte &#x017F;ehr richtig, daß &#x017F;eine Nation von ihm ent&#x017F;chiedene<lb/>
Feind&#x017F;chaft gegen den werdenden deut&#x017F;chen Staat verlangte.</p><lb/>
            <p>Auch Talleyrands In&#x017F;truction geht von dem&#x017F;elben Gedanken aus. Sie<lb/>
zeigt zunäch&#x017F;t, daß Frankreich überall die kleinen Staaten unter&#x017F;tützen mü&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
und &#x017F;tellt &#x017F;odann drei angeblich unanfechtbare Regeln des Völkerrechts auf:<lb/>
Die Souveränität, die für das öffentliche Recht das Nämliche i&#x017F;t was das<lb/>
Eigenthum für das Privatrecht, kann niemals allein durch die Eroberung<lb/>
erworben werden, &#x017F;ondern nur durch den Verzicht des Souveräns; &#x017F;ie i&#x017F;t<lb/>
rechtsgiltig nur für diejenigen Mächte, welche &#x017F;ie anerkannt haben; endlich<lb/>
(mit Nutzanwendung auf den gefangenen König von Sach&#x017F;en) jeder Ver-<lb/>
zicht auf die Souveränität i&#x017F;t nichtig, wenn er nicht in voller Freiheit aus-<lb/>
ge&#x017F;prochen wird. Daraus folgt: Preußen hat durchaus kein Recht die im<lb/>
Til&#x017F;iter Frieden rechtmäßig abgetretenen Provinzen zurückzugewinnen. Die<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[576/0592] I. 5. Ende der Kriegszeit. ſtaaten ſollte Frankreich ſeine Stärke ſuchen. Wohl nirgends hat dieſe Politik, die bis zum heutigen Tage fortwährt, einen ſo durchſichtig klaren Ausdruck gefunden, wie in der Inſtruction, welche Talleyrand im Sep- tember 1814 für ſich ſelbſt niederſchrieb. Der Vertrag war noch kaum unterzeichnet, wodurch Frankreich ſich verpflichtete an der Entſcheidung der Gebietsfragen nicht theilzunehmen; und ſofort, als ſei nichts verſprochen, mit unerſchütterlicher Gewiſſenloſigkeit, entwarf der franzöſiſche Staats- mann ein vollſtändiges Programm für die Neugeſtaltung der europäiſchen Karte. Da jener Artikel des Pariſer Friedens auf Frankreichs Betrieb geheim gehalten wurde, ſo ahnte das große Publikum gar nicht, welchen unerhörten Vertragsbruch das franzöſiſche Cabinet beging. Talleyrands Inſtruction folgte Punkt für Punkt jener vertraulichen Pariſer Denk- ſchrift, worin Hardenberg die preußiſchen Gebietsanſprüche dargelegt hatte, und beantwortete alle deutſchen Fragen durchaus im Sinne des öſter- reichiſchen Cabinets. Jener preußiſche Entwurf iſt alſo höchſtwahrſchein- lich durch Metternich an Talleyrand verrathen und zwiſchen den beiden Staatsmännern genau beſprochen worden: — ein Probſtück öſterreichiſcher Bundestreue, das ſich nachher in Wien noch mehrmals wiederholte. Ludwig XVIII. wußte wohl, daß Preußen die Napoleoniden arg- wöhniſch beobachtete und mehrmals bei den Alliirten die Entfernung Bonapartes aus Elba beantragte; doch er wußte auch, daß der preußiſche Hof die Bourbonen kaum minder mißtrauiſch anſah als den geſtürzten Uſurpator. Auf Augenblicke ſchien ſich zwar ein freundlicheres Verhältniß zwiſchen den beiden Höfen herzuſtellen. Der Herzog von Berry hoffte auf die Hand der ſchönen Prinzeſſin Charlotte von Preußen und ließ den Grafen Goltz mehrmals über dieſe zarte Frage ausforſchen *). Indeß da König Friedrich Wilhelm von einer ſolchen Familienverbindung durchaus nichts wiſſen wollte, ſo trat bald wieder eine peinliche Spannung ein. Der Bourbone fühlte ſehr richtig, daß ſeine Nation von ihm entſchiedene Feindſchaft gegen den werdenden deutſchen Staat verlangte. Auch Talleyrands Inſtruction geht von demſelben Gedanken aus. Sie zeigt zunächſt, daß Frankreich überall die kleinen Staaten unterſtützen müſſe, und ſtellt ſodann drei angeblich unanfechtbare Regeln des Völkerrechts auf: Die Souveränität, die für das öffentliche Recht das Nämliche iſt was das Eigenthum für das Privatrecht, kann niemals allein durch die Eroberung erworben werden, ſondern nur durch den Verzicht des Souveräns; ſie iſt rechtsgiltig nur für diejenigen Mächte, welche ſie anerkannt haben; endlich (mit Nutzanwendung auf den gefangenen König von Sachſen) jeder Ver- zicht auf die Souveränität iſt nichtig, wenn er nicht in voller Freiheit aus- geſprochen wird. Daraus folgt: Preußen hat durchaus kein Recht die im Tilſiter Frieden rechtmäßig abgetretenen Provinzen zurückzugewinnen. Die *) Goltz’s Berichte vom 20. Juli 1814 u. f.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/592
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 576. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/592>, abgerufen am 23.07.2024.