Mächte für Preußens Ansprüche kaum einen Finger regten, so hielt sich König Ludwig seines Wortes entbunden. Sein gesammtes Volk stand hinter ihm wie ein Mann; kein Franzose, der nicht die Zurückforderung des völkerrechtswidrigen Raubes für ein himmelschreiendes Unrecht ge- halten hätte. Mit erschreckender Klarheit trat zu Tage, wie von Grund aus die Plünderungszüge des Kaiserreichs das Rechtsgefühl in dieser Nation verwüstet hatten und wie nöthig es war, sie durch eine strenge Züchtigung wieder an die sittlichen Grundgedanken jeder friedlichen Staa- tengesellschaft zu erinnern.
Stand es also, wie durfte man hoffen, daß die Alliirten sogleich auf die von Preußen beanspruchte Gebietsentschädigung eingehen würden? Seinen eigenen Antheil an der Beute hatte Oesterreich soeben in Sicher- heit gebracht. Am 20. April zogen die Oesterreicher nach einem schlaffen, unrühmlichen Feldzuge in Venedig ein; am selben Tage warf ein unbe- sonnener Aufstand der Mailänder das Königreich Italien über den Hau- fen. So erlangte Kaiser Franz fast mühelos durch eine seltene Gunst des Glückes den Besitz von Ober- und Mittelitalien und war daher weniger denn je geneigt, dem beargwöhnten Preußen gegenüber irgend eine Ver- pflichtung zu übernehmen. Gleichwohl wagte Hardenberg, wie seine Pflicht gebot, den aussichtslosen Versuch und legte am 29. April jene Forde- rungen, die er schon in Basel ausgesprochen hatte, in einer ausführ- lichen Denkschrift den Verbündeten vor.*)
Er beginnt mit dem aufrichtigen Geständniß, daß Preußen für alle anderen Mächte freundliche Absichten hege, nur nicht für Dänemark; denn das soeben an die Dänen abgetretene schwedische Pommern müsse um jeden Preis preußisch werden. Für Deutschland fordert er eine Bundes- acte, welche vornehmlich eine kräftige Kriegsordnung einrichten, die Be- ziehungen zwischen Fürsten und Unterthanen, desgleichen das Gerichts- wesen und den deutschen Handel regeln und "die Stelle einer Verfassung vertreten" soll. Holland und die Schweiz schließen ein ewiges Bündniß mit dem deutschen Bunde. Rußland erlangt den größten Theil von Warschau mit etwa 2,3 Millionen Einwohnern; Preußen erhält Posen bis zur Warthe, mit Einschluß von Thorn, etwa 1,3 Millionen Köpfe; Oesterreich nur das 1809 abgetretene Neu-Galizien, Krakau und Zamoscz mit 700,000 Einwohnern. Außer diesen polnischen Strichen und Ober- italien soll Oesterreich vor Allem den zur Vertheidigung des Oberrheins unentbehrlichen Breisgau erhalten; der vorgeschobene Posten muß mit dem Kaiserstaate in ununterbrochener Verbindung stehen, daher haben Baiern, Baden und Württemberg einige Stücke ihres Oberlandes (so Passau und Lindau) abzutreten, die Fürsten von Hohenzollern und Lichten- stein werden mediatisirt und ihre Länder zu dem gleichen Zwecke verwendet.
*) Hardenbergs Plan pour l'arrangement futur de l'Europe, 29. April 1814.
I. 5. Ende der Kriegszeit.
Mächte für Preußens Anſprüche kaum einen Finger regten, ſo hielt ſich König Ludwig ſeines Wortes entbunden. Sein geſammtes Volk ſtand hinter ihm wie ein Mann; kein Franzoſe, der nicht die Zurückforderung des völkerrechtswidrigen Raubes für ein himmelſchreiendes Unrecht ge- halten hätte. Mit erſchreckender Klarheit trat zu Tage, wie von Grund aus die Plünderungszüge des Kaiſerreichs das Rechtsgefühl in dieſer Nation verwüſtet hatten und wie nöthig es war, ſie durch eine ſtrenge Züchtigung wieder an die ſittlichen Grundgedanken jeder friedlichen Staa- tengeſellſchaft zu erinnern.
Stand es alſo, wie durfte man hoffen, daß die Alliirten ſogleich auf die von Preußen beanſpruchte Gebietsentſchädigung eingehen würden? Seinen eigenen Antheil an der Beute hatte Oeſterreich ſoeben in Sicher- heit gebracht. Am 20. April zogen die Oeſterreicher nach einem ſchlaffen, unrühmlichen Feldzuge in Venedig ein; am ſelben Tage warf ein unbe- ſonnener Aufſtand der Mailänder das Königreich Italien über den Hau- fen. So erlangte Kaiſer Franz faſt mühelos durch eine ſeltene Gunſt des Glückes den Beſitz von Ober- und Mittelitalien und war daher weniger denn je geneigt, dem beargwöhnten Preußen gegenüber irgend eine Ver- pflichtung zu übernehmen. Gleichwohl wagte Hardenberg, wie ſeine Pflicht gebot, den ausſichtsloſen Verſuch und legte am 29. April jene Forde- rungen, die er ſchon in Baſel ausgeſprochen hatte, in einer ausführ- lichen Denkſchrift den Verbündeten vor.*)
Er beginnt mit dem aufrichtigen Geſtändniß, daß Preußen für alle anderen Mächte freundliche Abſichten hege, nur nicht für Dänemark; denn das ſoeben an die Dänen abgetretene ſchwediſche Pommern müſſe um jeden Preis preußiſch werden. Für Deutſchland fordert er eine Bundes- acte, welche vornehmlich eine kräftige Kriegsordnung einrichten, die Be- ziehungen zwiſchen Fürſten und Unterthanen, desgleichen das Gerichts- weſen und den deutſchen Handel regeln und „die Stelle einer Verfaſſung vertreten“ ſoll. Holland und die Schweiz ſchließen ein ewiges Bündniß mit dem deutſchen Bunde. Rußland erlangt den größten Theil von Warſchau mit etwa 2,3 Millionen Einwohnern; Preußen erhält Poſen bis zur Warthe, mit Einſchluß von Thorn, etwa 1,3 Millionen Köpfe; Oeſterreich nur das 1809 abgetretene Neu-Galizien, Krakau und Zamoscz mit 700,000 Einwohnern. Außer dieſen polniſchen Strichen und Ober- italien ſoll Oeſterreich vor Allem den zur Vertheidigung des Oberrheins unentbehrlichen Breisgau erhalten; der vorgeſchobene Poſten muß mit dem Kaiſerſtaate in ununterbrochener Verbindung ſtehen, daher haben Baiern, Baden und Württemberg einige Stücke ihres Oberlandes (ſo Paſſau und Lindau) abzutreten, die Fürſten von Hohenzollern und Lichten- ſtein werden mediatiſirt und ihre Länder zu dem gleichen Zwecke verwendet.
*) Hardenbergs Plan pour l’arrangement futur de l’Europe, 29. April 1814.
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I. 5. Ende der Kriegszeit.
Mächte für Preußens Anſprüche kaum einen Finger regten, ſo hielt ſich
König Ludwig ſeines Wortes entbunden. Sein geſammtes Volk ſtand
hinter ihm wie ein Mann; kein Franzoſe, der nicht die Zurückforderung
des völkerrechtswidrigen Raubes für ein himmelſchreiendes Unrecht ge-
halten hätte. Mit erſchreckender Klarheit trat zu Tage, wie von Grund
aus die Plünderungszüge des Kaiſerreichs das Rechtsgefühl in dieſer
Nation verwüſtet hatten und wie nöthig es war, ſie durch eine ſtrenge
Züchtigung wieder an die ſittlichen Grundgedanken jeder friedlichen Staa-
tengeſellſchaft zu erinnern.
Stand es alſo, wie durfte man hoffen, daß die Alliirten ſogleich auf
die von Preußen beanſpruchte Gebietsentſchädigung eingehen würden?
Seinen eigenen Antheil an der Beute hatte Oeſterreich ſoeben in Sicher-
heit gebracht. Am 20. April zogen die Oeſterreicher nach einem ſchlaffen,
unrühmlichen Feldzuge in Venedig ein; am ſelben Tage warf ein unbe-
ſonnener Aufſtand der Mailänder das Königreich Italien über den Hau-
fen. So erlangte Kaiſer Franz faſt mühelos durch eine ſeltene Gunſt des
Glückes den Beſitz von Ober- und Mittelitalien und war daher weniger
denn je geneigt, dem beargwöhnten Preußen gegenüber irgend eine Ver-
pflichtung zu übernehmen. Gleichwohl wagte Hardenberg, wie ſeine Pflicht
gebot, den ausſichtsloſen Verſuch und legte am 29. April jene Forde-
rungen, die er ſchon in Baſel ausgeſprochen hatte, in einer ausführ-
lichen Denkſchrift den Verbündeten vor. *)
Er beginnt mit dem aufrichtigen Geſtändniß, daß Preußen für alle
anderen Mächte freundliche Abſichten hege, nur nicht für Dänemark; denn
das ſoeben an die Dänen abgetretene ſchwediſche Pommern müſſe um
jeden Preis preußiſch werden. Für Deutſchland fordert er eine Bundes-
acte, welche vornehmlich eine kräftige Kriegsordnung einrichten, die Be-
ziehungen zwiſchen Fürſten und Unterthanen, desgleichen das Gerichts-
weſen und den deutſchen Handel regeln und „die Stelle einer Verfaſſung
vertreten“ ſoll. Holland und die Schweiz ſchließen ein ewiges Bündniß
mit dem deutſchen Bunde. Rußland erlangt den größten Theil von
Warſchau mit etwa 2,3 Millionen Einwohnern; Preußen erhält Poſen
bis zur Warthe, mit Einſchluß von Thorn, etwa 1,3 Millionen Köpfe;
Oeſterreich nur das 1809 abgetretene Neu-Galizien, Krakau und Zamoscz
mit 700,000 Einwohnern. Außer dieſen polniſchen Strichen und Ober-
italien ſoll Oeſterreich vor Allem den zur Vertheidigung des Oberrheins
unentbehrlichen Breisgau erhalten; der vorgeſchobene Poſten muß mit
dem Kaiſerſtaate in ununterbrochener Verbindung ſtehen, daher haben
Baiern, Baden und Württemberg einige Stücke ihres Oberlandes (ſo
Paſſau und Lindau) abzutreten, die Fürſten von Hohenzollern und Lichten-
ſtein werden mediatiſirt und ihre Länder zu dem gleichen Zwecke verwendet.
*) Hardenbergs Plan pour l’arrangement futur de l’Europe, 29. April 1814.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 562. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/578>, abgerufen am 22.11.2024.
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