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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 5. Ende der Kriegszeit.
hingerissen schrieb Castlereagh über diesen reinen Charakter, der über aller
Verstellung hoch erhaben sei. Auch Nesselrode neigte sich der Friedens-
partei zu; Hardenberg klagte über Steins Intrigen und gab sich der
bestrickenden Liebenswürdigkeit des österreichischen Staatsmannes mit einem
arglosen Vertrauen hin, das auch durch die härtesten Enttäuschungen
nicht belehrt wurde. Die Coalition war nahe daran, bevor noch eine
Schlacht auf französischem Boden gewagt worden, den Frieden auf die
Frankfurter Bedingungen hin abzuschließen. Und dies unter den denkbar
günstigsten militärischen Aussichten, während man nur acht Märsche von
Paris entfernt stand!

Das Heer Schwarzenbergs zählte 190,000, das Blüchers 84,000 Mann
-- eine erdrückende Uebermacht, obgleich die Heerhaufen von Genf bis
zur Mosel verzettelt waren. Napoleon war zwar nicht mehr, wie er im
November selbst gestanden, zu jedem kriegerischen Unternehmen unfähig,
sondern hatte, Dank dem Zaudern der Alliirten, eine neue Feldarmee
gebildet, aber nur 70,000 Mann, meistentheils ungeschulte muthlose
Rekruten, während die Truppen der Verbündeten aus krieggewohnten,
siegesfrohen Soldaten bestanden. Der Schimpf eines Friedensschlusses
in solcher Lage wurde durch die Monarchen von Rußland und Preußen,
mit Steins Hilfe, abgewendet. Alexander drohte den Feldzug nöthigen-
falls allein fortzuführen, und da der König erklärte, daß er sich von
seinem Freunde nicht trennen werde, so gab Oesterreich zur Hälfte nach
und man einigte sich über ein Compromiß: der Krieg sollte fortgesetzt,
aber gleichzeitig eine große Friedensverhandlung in Chatillon eröffnet
werden. Von der Absetzung Napoleons, überhaupt von Frankreichs in-
neren Verhältnissen sah man vorläufig ab. Auch über die Entschädigungs-
ansprüche der einzelnen Mächte sollte erst nach dem Kriege verhandelt
werden; dies verlangte Alexander nicht blos weil er seine polnischen
Pläne nicht aufdecken wollte, sondern auch weil die Coalition in der That
schon auf zu schwachen Füßen stand als daß sie die Erörterung so pein-
licher Fragen jetzt noch hätte ertragen können.

Widerwillig nahm Metternich diese Beschlüsse an, widerwillig führte
Schwarzenberg sie aus. Blücher hatte am 28. Januar bei Brienne mit
geringem Glücke ein Gefecht gegen Napoleon bestanden; er brannte vor Be-
gier, hier im Angesichte des Schlosses, wo der große Kriegsfürst des Jahr-
hunderts einst auf der Schule gewesen, sein Examen abzulegen: "die Fran-
zosen sollen doch sehen, daß wir Deutschen in der Kriegskunst auch etwas
gelernt haben!" Auf die dringenden Vorstellungen der preußischen Ge-
nerale gestattete der Oberfeldherr endlich, daß Blücher am 1. Februar,
verstärkt durch zwei Corps der großen Armee, von den Höhen von Trannes
hinabstieg und den Imperator in seiner weit ausgedehnten Aufstellung
bei La Rothiere angriff. Schwarzenberg selbst sah mit zwei Dritteln der
vereinigten Armeen der Schlacht unthätig zu. Aber schon jenes eine

I. 5. Ende der Kriegszeit.
hingeriſſen ſchrieb Caſtlereagh über dieſen reinen Charakter, der über aller
Verſtellung hoch erhaben ſei. Auch Neſſelrode neigte ſich der Friedens-
partei zu; Hardenberg klagte über Steins Intrigen und gab ſich der
beſtrickenden Liebenswürdigkeit des öſterreichiſchen Staatsmannes mit einem
argloſen Vertrauen hin, das auch durch die härteſten Enttäuſchungen
nicht belehrt wurde. Die Coalition war nahe daran, bevor noch eine
Schlacht auf franzöſiſchem Boden gewagt worden, den Frieden auf die
Frankfurter Bedingungen hin abzuſchließen. Und dies unter den denkbar
günſtigſten militäriſchen Ausſichten, während man nur acht Märſche von
Paris entfernt ſtand!

Das Heer Schwarzenbergs zählte 190,000, das Blüchers 84,000 Mann
— eine erdrückende Uebermacht, obgleich die Heerhaufen von Genf bis
zur Moſel verzettelt waren. Napoleon war zwar nicht mehr, wie er im
November ſelbſt geſtanden, zu jedem kriegeriſchen Unternehmen unfähig,
ſondern hatte, Dank dem Zaudern der Alliirten, eine neue Feldarmee
gebildet, aber nur 70,000 Mann, meiſtentheils ungeſchulte muthloſe
Rekruten, während die Truppen der Verbündeten aus krieggewohnten,
ſiegesfrohen Soldaten beſtanden. Der Schimpf eines Friedensſchluſſes
in ſolcher Lage wurde durch die Monarchen von Rußland und Preußen,
mit Steins Hilfe, abgewendet. Alexander drohte den Feldzug nöthigen-
falls allein fortzuführen, und da der König erklärte, daß er ſich von
ſeinem Freunde nicht trennen werde, ſo gab Oeſterreich zur Hälfte nach
und man einigte ſich über ein Compromiß: der Krieg ſollte fortgeſetzt,
aber gleichzeitig eine große Friedensverhandlung in Chatillon eröffnet
werden. Von der Abſetzung Napoleons, überhaupt von Frankreichs in-
neren Verhältniſſen ſah man vorläufig ab. Auch über die Entſchädigungs-
anſprüche der einzelnen Mächte ſollte erſt nach dem Kriege verhandelt
werden; dies verlangte Alexander nicht blos weil er ſeine polniſchen
Pläne nicht aufdecken wollte, ſondern auch weil die Coalition in der That
ſchon auf zu ſchwachen Füßen ſtand als daß ſie die Erörterung ſo pein-
licher Fragen jetzt noch hätte ertragen können.

Widerwillig nahm Metternich dieſe Beſchlüſſe an, widerwillig führte
Schwarzenberg ſie aus. Blücher hatte am 28. Januar bei Brienne mit
geringem Glücke ein Gefecht gegen Napoleon beſtanden; er brannte vor Be-
gier, hier im Angeſichte des Schloſſes, wo der große Kriegsfürſt des Jahr-
hunderts einſt auf der Schule geweſen, ſein Examen abzulegen: „die Fran-
zoſen ſollen doch ſehen, daß wir Deutſchen in der Kriegskunſt auch etwas
gelernt haben!“ Auf die dringenden Vorſtellungen der preußiſchen Ge-
nerale geſtattete der Oberfeldherr endlich, daß Blücher am 1. Februar,
verſtärkt durch zwei Corps der großen Armee, von den Höhen von Trannes
hinabſtieg und den Imperator in ſeiner weit ausgedehnten Aufſtellung
bei La Rothière angriff. Schwarzenberg ſelbſt ſah mit zwei Dritteln der
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[536/0552] I. 5. Ende der Kriegszeit. hingeriſſen ſchrieb Caſtlereagh über dieſen reinen Charakter, der über aller Verſtellung hoch erhaben ſei. Auch Neſſelrode neigte ſich der Friedens- partei zu; Hardenberg klagte über Steins Intrigen und gab ſich der beſtrickenden Liebenswürdigkeit des öſterreichiſchen Staatsmannes mit einem argloſen Vertrauen hin, das auch durch die härteſten Enttäuſchungen nicht belehrt wurde. Die Coalition war nahe daran, bevor noch eine Schlacht auf franzöſiſchem Boden gewagt worden, den Frieden auf die Frankfurter Bedingungen hin abzuſchließen. Und dies unter den denkbar günſtigſten militäriſchen Ausſichten, während man nur acht Märſche von Paris entfernt ſtand! Das Heer Schwarzenbergs zählte 190,000, das Blüchers 84,000 Mann — eine erdrückende Uebermacht, obgleich die Heerhaufen von Genf bis zur Moſel verzettelt waren. Napoleon war zwar nicht mehr, wie er im November ſelbſt geſtanden, zu jedem kriegeriſchen Unternehmen unfähig, ſondern hatte, Dank dem Zaudern der Alliirten, eine neue Feldarmee gebildet, aber nur 70,000 Mann, meiſtentheils ungeſchulte muthloſe Rekruten, während die Truppen der Verbündeten aus krieggewohnten, ſiegesfrohen Soldaten beſtanden. Der Schimpf eines Friedensſchluſſes in ſolcher Lage wurde durch die Monarchen von Rußland und Preußen, mit Steins Hilfe, abgewendet. Alexander drohte den Feldzug nöthigen- falls allein fortzuführen, und da der König erklärte, daß er ſich von ſeinem Freunde nicht trennen werde, ſo gab Oeſterreich zur Hälfte nach und man einigte ſich über ein Compromiß: der Krieg ſollte fortgeſetzt, aber gleichzeitig eine große Friedensverhandlung in Chatillon eröffnet werden. Von der Abſetzung Napoleons, überhaupt von Frankreichs in- neren Verhältniſſen ſah man vorläufig ab. Auch über die Entſchädigungs- anſprüche der einzelnen Mächte ſollte erſt nach dem Kriege verhandelt werden; dies verlangte Alexander nicht blos weil er ſeine polniſchen Pläne nicht aufdecken wollte, ſondern auch weil die Coalition in der That ſchon auf zu ſchwachen Füßen ſtand als daß ſie die Erörterung ſo pein- licher Fragen jetzt noch hätte ertragen können. Widerwillig nahm Metternich dieſe Beſchlüſſe an, widerwillig führte Schwarzenberg ſie aus. Blücher hatte am 28. Januar bei Brienne mit geringem Glücke ein Gefecht gegen Napoleon beſtanden; er brannte vor Be- gier, hier im Angeſichte des Schloſſes, wo der große Kriegsfürſt des Jahr- hunderts einſt auf der Schule geweſen, ſein Examen abzulegen: „die Fran- zoſen ſollen doch ſehen, daß wir Deutſchen in der Kriegskunſt auch etwas gelernt haben!“ Auf die dringenden Vorſtellungen der preußiſchen Ge- nerale geſtattete der Oberfeldherr endlich, daß Blücher am 1. Februar, verſtärkt durch zwei Corps der großen Armee, von den Höhen von Trannes hinabſtieg und den Imperator in ſeiner weit ausgedehnten Aufſtellung bei La Rothière angriff. Schwarzenberg ſelbſt ſah mit zwei Dritteln der vereinigten Armeen der Schlacht unthätig zu. Aber ſchon jenes eine

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 536. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/552>, abgerufen am 25.11.2024.