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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Der Sturm auf Leipzig.
fühlen, wie aus Schmach und Gräueln der junge Tag des neuen Deutsch-
lands leuchtend emporsteigt. Während den König von Preußen sein tapferes
Heer frohlockend umdrängt, steht nahebei -- ein klägliches Bild der alten
Zeit, die nun zu Grabe geht -- Friedrich August von Sachsen entblößten
Hauptes, mitten im Gewühle an der Thüre des Königshauses. Der hat
während der Stunden des Sturmes ängstlich im Keller gesessen, betrogen
von den prahlerischen Verheißungen des Protectors noch bis zum letzten
Augenblicke auf die siegreiche Rückkehr des Unüberwindlichen gehofft. Nun
würdigen ihn die Sieger keines Blickes, sein eigenes Volk beachtet ihn nicht,
vor seinen Augen wird seine rothe Garde von Friedrich Wilhelms Adju-
tanten Natzmer zur Verfolgung der Franzosen hinweggeführt. Mit naiver
Freude wie ein Held des Alterthums schreibt Gneisenau die Siegesbotschaft
den entfernten Freunden in allen Ecken des Vaterlandes: "Wir haben die
Nationalrache in langen Zügen genossen. Wir sind arm geworden, aber reich
an kriegerischem Ruhme und stolz auf die wiedererrungene Unabhängigkeit."

Dreißigtausend Gefangene fielen den Siegern in die Hände. Die Um-
zingelung der Stadt von den Auen her war bereits nahezu vollendet, als
die Elsterbrücke an der Frankfurter Landstraße in die Luft gesprengt und
damit den Wenigen, die sich vielleicht noch retten konnten, der letzte Aus-
weg versperrt wurde. Ein ganzes Heer, an hunderttausend Mann, lag
todt oder verwundet. Was vermochte die Kunst der Aerzte, was die
menschenfreundliche Aufopferung des edlen Ostfriesen Reil gegen solches
Uebermaß des Jammers? Das Medicinalwesen der Heere war überall
noch nicht weit über die Weisheit der fridericianischen Feldscheerer hinaus-
gekommen, und über der wackeren, gutherzigen Leipziger Bürgerschaft lag
noch der Schlummergeist des alten kursächsischen Lebens, sie verstand nicht
rechtzeitig Hand anzulegen. Tagelang blieben die Leichen der preußischen
Krieger im Hofe der Bürgerschule am Wall unbeerdigt, von Raben und
Hunden benagt; in den Concertsälen des Gewandhauses lagen Todte,
Wunde, Kranke auf faulem Stroh beisammen, ein verpestender Brodem
erfüllte den scheußlichen Pferch, ein Strom von zähem Koth sickerte lang-
sam die Treppen hinab. Wenn die Leichenwagen durch die Straßen
fuhren, dann geschah es wohl, daß ein Todter der Kürze halber aus dem
dritten Stockwerke hinabgeworfen wurde, oder die begleitenden Soldaten
bemerkten unter den starren Körpern auf dem Wagen einen, der sich noch
regte, und machten mit einem Kolbenschlage mitleidig dem Gräuel ein Ende.
Draußen auf dem Schlachtfelde hielten die Aasgeier ihren Schmaus; es
währte lange bis die entflohenen Bauern in die verwüsteten Dörfer heim-
kehrten und die Leichen in großen Massengräbern verscharrten. Unter
solchem Elend nahm dies Zeitalter der Kriege vom deutschen Boden Ab-
schied, die fürchterliche Zeit, von der Arndt sagte: "dahin wollte es fast
mit uns kommen, daß es endlich nur zwei Menschenarten gab, Menschen-
fresser und Gefressene!" Dem Geschlechte, das Solches gesehen, blieb für

Der Sturm auf Leipzig.
fühlen, wie aus Schmach und Gräueln der junge Tag des neuen Deutſch-
lands leuchtend emporſteigt. Während den König von Preußen ſein tapferes
Heer frohlockend umdrängt, ſteht nahebei — ein klägliches Bild der alten
Zeit, die nun zu Grabe geht — Friedrich Auguſt von Sachſen entblößten
Hauptes, mitten im Gewühle an der Thüre des Königshauſes. Der hat
während der Stunden des Sturmes ängſtlich im Keller geſeſſen, betrogen
von den prahleriſchen Verheißungen des Protectors noch bis zum letzten
Augenblicke auf die ſiegreiche Rückkehr des Unüberwindlichen gehofft. Nun
würdigen ihn die Sieger keines Blickes, ſein eigenes Volk beachtet ihn nicht,
vor ſeinen Augen wird ſeine rothe Garde von Friedrich Wilhelms Adju-
tanten Natzmer zur Verfolgung der Franzoſen hinweggeführt. Mit naiver
Freude wie ein Held des Alterthums ſchreibt Gneiſenau die Siegesbotſchaft
den entfernten Freunden in allen Ecken des Vaterlandes: „Wir haben die
Nationalrache in langen Zügen genoſſen. Wir ſind arm geworden, aber reich
an kriegeriſchem Ruhme und ſtolz auf die wiedererrungene Unabhängigkeit.“

Dreißigtauſend Gefangene fielen den Siegern in die Hände. Die Um-
zingelung der Stadt von den Auen her war bereits nahezu vollendet, als
die Elſterbrücke an der Frankfurter Landſtraße in die Luft geſprengt und
damit den Wenigen, die ſich vielleicht noch retten konnten, der letzte Aus-
weg verſperrt wurde. Ein ganzes Heer, an hunderttauſend Mann, lag
todt oder verwundet. Was vermochte die Kunſt der Aerzte, was die
menſchenfreundliche Aufopferung des edlen Oſtfrieſen Reil gegen ſolches
Uebermaß des Jammers? Das Medicinalweſen der Heere war überall
noch nicht weit über die Weisheit der fridericianiſchen Feldſcheerer hinaus-
gekommen, und über der wackeren, gutherzigen Leipziger Bürgerſchaft lag
noch der Schlummergeiſt des alten kurſächſiſchen Lebens, ſie verſtand nicht
rechtzeitig Hand anzulegen. Tagelang blieben die Leichen der preußiſchen
Krieger im Hofe der Bürgerſchule am Wall unbeerdigt, von Raben und
Hunden benagt; in den Concertſälen des Gewandhauſes lagen Todte,
Wunde, Kranke auf faulem Stroh beiſammen, ein verpeſtender Brodem
erfüllte den ſcheußlichen Pferch, ein Strom von zähem Koth ſickerte lang-
ſam die Treppen hinab. Wenn die Leichenwagen durch die Straßen
fuhren, dann geſchah es wohl, daß ein Todter der Kürze halber aus dem
dritten Stockwerke hinabgeworfen wurde, oder die begleitenden Soldaten
bemerkten unter den ſtarren Körpern auf dem Wagen einen, der ſich noch
regte, und machten mit einem Kolbenſchlage mitleidig dem Gräuel ein Ende.
Draußen auf dem Schlachtfelde hielten die Aasgeier ihren Schmaus; es
währte lange bis die entflohenen Bauern in die verwüſteten Dörfer heim-
kehrten und die Leichen in großen Maſſengräbern verſcharrten. Unter
ſolchem Elend nahm dies Zeitalter der Kriege vom deutſchen Boden Ab-
ſchied, die fürchterliche Zeit, von der Arndt ſagte: „dahin wollte es faſt
mit uns kommen, daß es endlich nur zwei Menſchenarten gab, Menſchen-
freſſer und Gefreſſene!“ Dem Geſchlechte, das Solches geſehen, blieb für

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[505/0521] Der Sturm auf Leipzig. fühlen, wie aus Schmach und Gräueln der junge Tag des neuen Deutſch- lands leuchtend emporſteigt. Während den König von Preußen ſein tapferes Heer frohlockend umdrängt, ſteht nahebei — ein klägliches Bild der alten Zeit, die nun zu Grabe geht — Friedrich Auguſt von Sachſen entblößten Hauptes, mitten im Gewühle an der Thüre des Königshauſes. Der hat während der Stunden des Sturmes ängſtlich im Keller geſeſſen, betrogen von den prahleriſchen Verheißungen des Protectors noch bis zum letzten Augenblicke auf die ſiegreiche Rückkehr des Unüberwindlichen gehofft. Nun würdigen ihn die Sieger keines Blickes, ſein eigenes Volk beachtet ihn nicht, vor ſeinen Augen wird ſeine rothe Garde von Friedrich Wilhelms Adju- tanten Natzmer zur Verfolgung der Franzoſen hinweggeführt. Mit naiver Freude wie ein Held des Alterthums ſchreibt Gneiſenau die Siegesbotſchaft den entfernten Freunden in allen Ecken des Vaterlandes: „Wir haben die Nationalrache in langen Zügen genoſſen. Wir ſind arm geworden, aber reich an kriegeriſchem Ruhme und ſtolz auf die wiedererrungene Unabhängigkeit.“ Dreißigtauſend Gefangene fielen den Siegern in die Hände. Die Um- zingelung der Stadt von den Auen her war bereits nahezu vollendet, als die Elſterbrücke an der Frankfurter Landſtraße in die Luft geſprengt und damit den Wenigen, die ſich vielleicht noch retten konnten, der letzte Aus- weg verſperrt wurde. Ein ganzes Heer, an hunderttauſend Mann, lag todt oder verwundet. Was vermochte die Kunſt der Aerzte, was die menſchenfreundliche Aufopferung des edlen Oſtfrieſen Reil gegen ſolches Uebermaß des Jammers? Das Medicinalweſen der Heere war überall noch nicht weit über die Weisheit der fridericianiſchen Feldſcheerer hinaus- gekommen, und über der wackeren, gutherzigen Leipziger Bürgerſchaft lag noch der Schlummergeiſt des alten kurſächſiſchen Lebens, ſie verſtand nicht rechtzeitig Hand anzulegen. Tagelang blieben die Leichen der preußiſchen Krieger im Hofe der Bürgerſchule am Wall unbeerdigt, von Raben und Hunden benagt; in den Concertſälen des Gewandhauſes lagen Todte, Wunde, Kranke auf faulem Stroh beiſammen, ein verpeſtender Brodem erfüllte den ſcheußlichen Pferch, ein Strom von zähem Koth ſickerte lang- ſam die Treppen hinab. Wenn die Leichenwagen durch die Straßen fuhren, dann geſchah es wohl, daß ein Todter der Kürze halber aus dem dritten Stockwerke hinabgeworfen wurde, oder die begleitenden Soldaten bemerkten unter den ſtarren Körpern auf dem Wagen einen, der ſich noch regte, und machten mit einem Kolbenſchlage mitleidig dem Gräuel ein Ende. Draußen auf dem Schlachtfelde hielten die Aasgeier ihren Schmaus; es währte lange bis die entflohenen Bauern in die verwüſteten Dörfer heim- kehrten und die Leichen in großen Maſſengräbern verſcharrten. Unter ſolchem Elend nahm dies Zeitalter der Kriege vom deutſchen Boden Ab- ſchied, die fürchterliche Zeit, von der Arndt ſagte: „dahin wollte es faſt mit uns kommen, daß es endlich nur zwei Menſchenarten gab, Menſchen- freſſer und Gefreſſene!“ Dem Geſchlechte, das Solches geſehen, blieb für

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 505. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/521>, abgerufen am 22.11.2024.