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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Bündniß mit England.
gefühl des Königs. Er wollte zur Noth Hildesheim, das nur vier Jahre
lang preußisch gewesen, den Welfen überlassen, doch weder die getreuen
Ravensberger, noch das feste Minden, das der Kriegskunst jener Zeit als
der Schlüssel der Weserlinie galt. Auch als die welfischen Unterhändler
statt dessen die Abtretung von Ostfriesland vorschlugen, blieb der König
standhaft; es kam zu einem heftigen Auftritt zwischen ihm und dem Staats-
kanzler. Die Welfen mußten sich zuletzt begnügen mit dem Versprechen,
daß Preußen ihrem Stammlande eine Abrundung von 250--300,000
Seelen, einschließlich Hildesheim, verschaffen werde. Die Aussichten der
preußischen Diplomatie wurden von Tag zu Tag trüber; sie hatte neue
drückende Verpflichtungen übernommen und zum Entgelt wieder nur die
allgemeine Zusage erlangt, daß Preußen "zum Mindesten" ebenso mächtig
werden solle wie vor dem Kriege von 1806. Einen Tag darauf schloß
Rußland sein Kriegsbündniß mit England. Der Czar blieb für die Frie-
denswünsche seiner Generale wie für Napoleons Anerbietungen ganz un-
zugänglich: der Ruhm des Weltbefreiers und die polnische Königskrone
standen so glänzend vor seiner Seele, daß er der Ermahnungen Steins
jetzt kaum bedurfte, und der Kanzler Rumänzoff, der alte Gegner der
Coalition, entmuthigt um Entlassung bat. Die preußischen Patrioten
fanden sich nach kurzer Verstimmung rasch wieder zusammen in der frohen
Gemeinschaft der unsichtbaren Kirche, wie Niebuhr zu sagen pflegte; sie
bemerkten bald, wie sehr die Waffenruhe der Ausbildung der Landwehr
zu gute kam. In Schlesien entfaltete Gneisenau im Verein mit dem
wackeren Präsidenten Merkel eine gewaltige Thätigkeit, so daß bei Ablauf
des Stillstands 68 Bataillone Landwehr formirt waren. Blücher schrieb
ihm zufrieden: "Landwehren Sie man druff, aber wenn die Fehde wieder
beginnt, dann gesellen Sie Sich wieder zu mich!"

Wie diese Rüstungen, so bewiesen auch die Friedensvorschläge des
Czaren und des Königs, daß die Verbündeten nicht gesonnen waren auf
halbem Wege stehen zu bleiben. Sie verlangten: Wiederherstellung der
alten Macht von Preußen und Oesterreich, Auflösung des Rheinbundes
und des Herzogthums Warschau, Rückgabe der Nordseeküste, endlich die
Unabhängigkeit von Holland, Spanien und Italien. Es waren im We-
sentlichen die Pläne von Bartenstein; nur ein ungeheurer Krieg konnte
sie verwirklichen. Ganz anders sah Kaiser Franz die Lage an. Ihm
graute vor diesem Kriege, vor dem Enthusiasmus der norddeutschen Ju-
gend; aus tiefster Seele hatte er seinem Schwiegersohne zu der Groß-
görschener Schlacht Glück gewünscht und die Hoffnung ausgesprochen, dies
erste Treffen werde viele Leidenschaften abgekühlt, viele Chimären zerstört
haben. Furchtbar war ihm der Gedanke, daß er die unmilitärischen Ge-
wohnheiten seines schläfrigen Schreiberlebens aufgeben und, wie die beiden
verbündeten Monarchen, ins Feldlager gehen sollte. Regungen der Zärt-
lichkeit für seine Tochter in Paris beirrten freilich den Hartherzigen nicht,

Bündniß mit England.
gefühl des Königs. Er wollte zur Noth Hildesheim, das nur vier Jahre
lang preußiſch geweſen, den Welfen überlaſſen, doch weder die getreuen
Ravensberger, noch das feſte Minden, das der Kriegskunſt jener Zeit als
der Schlüſſel der Weſerlinie galt. Auch als die welfiſchen Unterhändler
ſtatt deſſen die Abtretung von Oſtfriesland vorſchlugen, blieb der König
ſtandhaft; es kam zu einem heftigen Auftritt zwiſchen ihm und dem Staats-
kanzler. Die Welfen mußten ſich zuletzt begnügen mit dem Verſprechen,
daß Preußen ihrem Stammlande eine Abrundung von 250—300,000
Seelen, einſchließlich Hildesheim, verſchaffen werde. Die Ausſichten der
preußiſchen Diplomatie wurden von Tag zu Tag trüber; ſie hatte neue
drückende Verpflichtungen übernommen und zum Entgelt wieder nur die
allgemeine Zuſage erlangt, daß Preußen „zum Mindeſten“ ebenſo mächtig
werden ſolle wie vor dem Kriege von 1806. Einen Tag darauf ſchloß
Rußland ſein Kriegsbündniß mit England. Der Czar blieb für die Frie-
denswünſche ſeiner Generale wie für Napoleons Anerbietungen ganz un-
zugänglich: der Ruhm des Weltbefreiers und die polniſche Königskrone
ſtanden ſo glänzend vor ſeiner Seele, daß er der Ermahnungen Steins
jetzt kaum bedurfte, und der Kanzler Rumänzoff, der alte Gegner der
Coalition, entmuthigt um Entlaſſung bat. Die preußiſchen Patrioten
fanden ſich nach kurzer Verſtimmung raſch wieder zuſammen in der frohen
Gemeinſchaft der unſichtbaren Kirche, wie Niebuhr zu ſagen pflegte; ſie
bemerkten bald, wie ſehr die Waffenruhe der Ausbildung der Landwehr
zu gute kam. In Schleſien entfaltete Gneiſenau im Verein mit dem
wackeren Präſidenten Merkel eine gewaltige Thätigkeit, ſo daß bei Ablauf
des Stillſtands 68 Bataillone Landwehr formirt waren. Blücher ſchrieb
ihm zufrieden: „Landwehren Sie man druff, aber wenn die Fehde wieder
beginnt, dann geſellen Sie Sich wieder zu mich!“

Wie dieſe Rüſtungen, ſo bewieſen auch die Friedensvorſchläge des
Czaren und des Königs, daß die Verbündeten nicht geſonnen waren auf
halbem Wege ſtehen zu bleiben. Sie verlangten: Wiederherſtellung der
alten Macht von Preußen und Oeſterreich, Auflöſung des Rheinbundes
und des Herzogthums Warſchau, Rückgabe der Nordſeeküſte, endlich die
Unabhängigkeit von Holland, Spanien und Italien. Es waren im We-
ſentlichen die Pläne von Bartenſtein; nur ein ungeheurer Krieg konnte
ſie verwirklichen. Ganz anders ſah Kaiſer Franz die Lage an. Ihm
graute vor dieſem Kriege, vor dem Enthuſiasmus der norddeutſchen Ju-
gend; aus tiefſter Seele hatte er ſeinem Schwiegerſohne zu der Groß-
görſchener Schlacht Glück gewünſcht und die Hoffnung ausgeſprochen, dies
erſte Treffen werde viele Leidenſchaften abgekühlt, viele Chimären zerſtört
haben. Furchtbar war ihm der Gedanke, daß er die unmilitäriſchen Ge-
wohnheiten ſeines ſchläfrigen Schreiberlebens aufgeben und, wie die beiden
verbündeten Monarchen, ins Feldlager gehen ſollte. Regungen der Zärt-
lichkeit für ſeine Tochter in Paris beirrten freilich den Hartherzigen nicht,

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[463/0479] Bündniß mit England. gefühl des Königs. Er wollte zur Noth Hildesheim, das nur vier Jahre lang preußiſch geweſen, den Welfen überlaſſen, doch weder die getreuen Ravensberger, noch das feſte Minden, das der Kriegskunſt jener Zeit als der Schlüſſel der Weſerlinie galt. Auch als die welfiſchen Unterhändler ſtatt deſſen die Abtretung von Oſtfriesland vorſchlugen, blieb der König ſtandhaft; es kam zu einem heftigen Auftritt zwiſchen ihm und dem Staats- kanzler. Die Welfen mußten ſich zuletzt begnügen mit dem Verſprechen, daß Preußen ihrem Stammlande eine Abrundung von 250—300,000 Seelen, einſchließlich Hildesheim, verſchaffen werde. Die Ausſichten der preußiſchen Diplomatie wurden von Tag zu Tag trüber; ſie hatte neue drückende Verpflichtungen übernommen und zum Entgelt wieder nur die allgemeine Zuſage erlangt, daß Preußen „zum Mindeſten“ ebenſo mächtig werden ſolle wie vor dem Kriege von 1806. Einen Tag darauf ſchloß Rußland ſein Kriegsbündniß mit England. Der Czar blieb für die Frie- denswünſche ſeiner Generale wie für Napoleons Anerbietungen ganz un- zugänglich: der Ruhm des Weltbefreiers und die polniſche Königskrone ſtanden ſo glänzend vor ſeiner Seele, daß er der Ermahnungen Steins jetzt kaum bedurfte, und der Kanzler Rumänzoff, der alte Gegner der Coalition, entmuthigt um Entlaſſung bat. Die preußiſchen Patrioten fanden ſich nach kurzer Verſtimmung raſch wieder zuſammen in der frohen Gemeinſchaft der unſichtbaren Kirche, wie Niebuhr zu ſagen pflegte; ſie bemerkten bald, wie ſehr die Waffenruhe der Ausbildung der Landwehr zu gute kam. In Schleſien entfaltete Gneiſenau im Verein mit dem wackeren Präſidenten Merkel eine gewaltige Thätigkeit, ſo daß bei Ablauf des Stillſtands 68 Bataillone Landwehr formirt waren. Blücher ſchrieb ihm zufrieden: „Landwehren Sie man druff, aber wenn die Fehde wieder beginnt, dann geſellen Sie Sich wieder zu mich!“ Wie dieſe Rüſtungen, ſo bewieſen auch die Friedensvorſchläge des Czaren und des Königs, daß die Verbündeten nicht geſonnen waren auf halbem Wege ſtehen zu bleiben. Sie verlangten: Wiederherſtellung der alten Macht von Preußen und Oeſterreich, Auflöſung des Rheinbundes und des Herzogthums Warſchau, Rückgabe der Nordſeeküſte, endlich die Unabhängigkeit von Holland, Spanien und Italien. Es waren im We- ſentlichen die Pläne von Bartenſtein; nur ein ungeheurer Krieg konnte ſie verwirklichen. Ganz anders ſah Kaiſer Franz die Lage an. Ihm graute vor dieſem Kriege, vor dem Enthuſiasmus der norddeutſchen Ju- gend; aus tiefſter Seele hatte er ſeinem Schwiegerſohne zu der Groß- görſchener Schlacht Glück gewünſcht und die Hoffnung ausgeſprochen, dies erſte Treffen werde viele Leidenſchaften abgekühlt, viele Chimären zerſtört haben. Furchtbar war ihm der Gedanke, daß er die unmilitäriſchen Ge- wohnheiten ſeines ſchläfrigen Schreiberlebens aufgeben und, wie die beiden verbündeten Monarchen, ins Feldlager gehen ſollte. Regungen der Zärt- lichkeit für ſeine Tochter in Paris beirrten freilich den Hartherzigen nicht,

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 463. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/479>, abgerufen am 25.11.2024.