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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 4. Der Befreiungskrieg.
einen raschen Zug gen Norden den gehaßtesten und gefährlichsten der
Feinde in seiner Hauptstadt bedrohen. Das preußische Hauptquartier
war auf das Aergste gefaßt und traf bereits Anstalten, Berlin nöthigen-
falls im Straßenkampfe durch den Landsturm zu vertheidigen. Die Armee
jedoch blieb mit den Russen vereinigt; der König wollte die Stellung in
der Nähe der österreichischen Grenze behaupten, er hoffte durch einen
Sieg des vereinigten Heeres die zaudernde Hofburg zum Anschluß zu be-
wegen. In der That war ein Erfolg möglich, wenn Wittgenstein sogleich
mit seinem gesammelten Heere einen Angriff auf Napoleon unternahm,
bevor dieser seine Armee vereinigt hatte. Die russische Führung aber,
die in jenen Tagen wesentlich durch die dilettantischen Einfälle des Czaren
selber bestimmt wurde, beschloß, dem Rathe der preußischen Generale zu-
wider, bei Bautzen eine Defensivschlacht anzunehmen und gewährte also
dem Imperator, der die Gedanken der Gegner alsbald durchschaute, ge-
nügende Zeit um seine Streitkräfte zu versammeln und auch Neys Armee
zurückzurufen. Während die Hauptarmee unthätig bei Bautzen stand,
sollten die zwei schwachen Corps von York und Barclay de Tolly durch
ein Ausfallsgefecht die heranrückenden dreifach überlegenen Heersäulen
Neys und Lauristons zurückwerfen. Mit höchster Kühnheit versuchte
York sich des unmöglichen Auftrags zu entledigen; durch das blutige
Waldgefecht von Königswartha (19. Mai) hat er sich zuerst den Namen
des Schlachtengenerals, seinen altpreußischen Regimentern ein furchtbares
Ansehen bei Freund und Feind gesichert; wunderbar zäh und verwegen
hielt er aus in dem ungleichen Kampfe und brachte seine kleine Schaar
in guter Ordnung wieder zu dem Hauptheere zurück. Aber mit entsetz-
lichen Opfern hatten die Preußen die Thorheit des Czaren bezahlen müs-
sen; mehr als die Hälfte der Brigade Steinmetz lag auf dem Schlacht-
felde, und die Vereinigung Neys mit der französischen Hauptarmee war
doch nicht verhindert.

So konnte denn Napoleon am 20. Mai seine gesammten 170,000
Mann gegen die 80,000 Alliirten zur Schlacht vorführen. Die Ver-
bündeten erwarteten den Angriff in weitgedehnter Stellung auf dem steilen
rechten Ufer des tiefen Spreethals, mit der Front nach Westen; ihr linker
Flügel lehnte sich an jene waldigen Höhen des Lausitzer Gebirges, von
denen einst Laudon gegen das Hochkircher Lager herniedergestürmt war,
der rechte stand ungedeckt in der freien Ebene. Napoleon griff am ersten
Schlachttage den linken Flügel der Gegner an, überschritt den Fluß, be-
setzte Bautzen und verleitete also den Czaren zu dem Glauben, daß die
Franzosen die Entscheidung auf der Linken der Alliirten suchten, das ver-
bündete Heer vom Gebirge abschneiden wollten. Die Absicht des Impe-
rators ging aber vielmehr dahin, den bloßgestellten rechten Flügel der Ver-
bündeten zu werfen, dann ihr Centrum zu umklammern und die geschlagene
Armee zu dem gefahrvollen Rückzuge südwärts ins Gebirge hinein zu

I. 4. Der Befreiungskrieg.
einen raſchen Zug gen Norden den gehaßteſten und gefährlichſten der
Feinde in ſeiner Hauptſtadt bedrohen. Das preußiſche Hauptquartier
war auf das Aergſte gefaßt und traf bereits Anſtalten, Berlin nöthigen-
falls im Straßenkampfe durch den Landſturm zu vertheidigen. Die Armee
jedoch blieb mit den Ruſſen vereinigt; der König wollte die Stellung in
der Nähe der öſterreichiſchen Grenze behaupten, er hoffte durch einen
Sieg des vereinigten Heeres die zaudernde Hofburg zum Anſchluß zu be-
wegen. In der That war ein Erfolg möglich, wenn Wittgenſtein ſogleich
mit ſeinem geſammelten Heere einen Angriff auf Napoleon unternahm,
bevor dieſer ſeine Armee vereinigt hatte. Die ruſſiſche Führung aber,
die in jenen Tagen weſentlich durch die dilettantiſchen Einfälle des Czaren
ſelber beſtimmt wurde, beſchloß, dem Rathe der preußiſchen Generale zu-
wider, bei Bautzen eine Defenſivſchlacht anzunehmen und gewährte alſo
dem Imperator, der die Gedanken der Gegner alsbald durchſchaute, ge-
nügende Zeit um ſeine Streitkräfte zu verſammeln und auch Neys Armee
zurückzurufen. Während die Hauptarmee unthätig bei Bautzen ſtand,
ſollten die zwei ſchwachen Corps von York und Barclay de Tolly durch
ein Ausfallsgefecht die heranrückenden dreifach überlegenen Heerſäulen
Neys und Lauriſtons zurückwerfen. Mit höchſter Kühnheit verſuchte
York ſich des unmöglichen Auftrags zu entledigen; durch das blutige
Waldgefecht von Königswartha (19. Mai) hat er ſich zuerſt den Namen
des Schlachtengenerals, ſeinen altpreußiſchen Regimentern ein furchtbares
Anſehen bei Freund und Feind geſichert; wunderbar zäh und verwegen
hielt er aus in dem ungleichen Kampfe und brachte ſeine kleine Schaar
in guter Ordnung wieder zu dem Hauptheere zurück. Aber mit entſetz-
lichen Opfern hatten die Preußen die Thorheit des Czaren bezahlen müſ-
ſen; mehr als die Hälfte der Brigade Steinmetz lag auf dem Schlacht-
felde, und die Vereinigung Neys mit der franzöſiſchen Hauptarmee war
doch nicht verhindert.

So konnte denn Napoleon am 20. Mai ſeine geſammten 170,000
Mann gegen die 80,000 Alliirten zur Schlacht vorführen. Die Ver-
bündeten erwarteten den Angriff in weitgedehnter Stellung auf dem ſteilen
rechten Ufer des tiefen Spreethals, mit der Front nach Weſten; ihr linker
Flügel lehnte ſich an jene waldigen Höhen des Lauſitzer Gebirges, von
denen einſt Laudon gegen das Hochkircher Lager herniedergeſtürmt war,
der rechte ſtand ungedeckt in der freien Ebene. Napoleon griff am erſten
Schlachttage den linken Flügel der Gegner an, überſchritt den Fluß, be-
ſetzte Bautzen und verleitete alſo den Czaren zu dem Glauben, daß die
Franzoſen die Entſcheidung auf der Linken der Alliirten ſuchten, das ver-
bündete Heer vom Gebirge abſchneiden wollten. Die Abſicht des Impe-
rators ging aber vielmehr dahin, den bloßgeſtellten rechten Flügel der Ver-
bündeten zu werfen, dann ihr Centrum zu umklammern und die geſchlagene
Armee zu dem gefahrvollen Rückzuge ſüdwärts ins Gebirge hinein zu

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[458/0474] I. 4. Der Befreiungskrieg. einen raſchen Zug gen Norden den gehaßteſten und gefährlichſten der Feinde in ſeiner Hauptſtadt bedrohen. Das preußiſche Hauptquartier war auf das Aergſte gefaßt und traf bereits Anſtalten, Berlin nöthigen- falls im Straßenkampfe durch den Landſturm zu vertheidigen. Die Armee jedoch blieb mit den Ruſſen vereinigt; der König wollte die Stellung in der Nähe der öſterreichiſchen Grenze behaupten, er hoffte durch einen Sieg des vereinigten Heeres die zaudernde Hofburg zum Anſchluß zu be- wegen. In der That war ein Erfolg möglich, wenn Wittgenſtein ſogleich mit ſeinem geſammelten Heere einen Angriff auf Napoleon unternahm, bevor dieſer ſeine Armee vereinigt hatte. Die ruſſiſche Führung aber, die in jenen Tagen weſentlich durch die dilettantiſchen Einfälle des Czaren ſelber beſtimmt wurde, beſchloß, dem Rathe der preußiſchen Generale zu- wider, bei Bautzen eine Defenſivſchlacht anzunehmen und gewährte alſo dem Imperator, der die Gedanken der Gegner alsbald durchſchaute, ge- nügende Zeit um ſeine Streitkräfte zu verſammeln und auch Neys Armee zurückzurufen. Während die Hauptarmee unthätig bei Bautzen ſtand, ſollten die zwei ſchwachen Corps von York und Barclay de Tolly durch ein Ausfallsgefecht die heranrückenden dreifach überlegenen Heerſäulen Neys und Lauriſtons zurückwerfen. Mit höchſter Kühnheit verſuchte York ſich des unmöglichen Auftrags zu entledigen; durch das blutige Waldgefecht von Königswartha (19. Mai) hat er ſich zuerſt den Namen des Schlachtengenerals, ſeinen altpreußiſchen Regimentern ein furchtbares Anſehen bei Freund und Feind geſichert; wunderbar zäh und verwegen hielt er aus in dem ungleichen Kampfe und brachte ſeine kleine Schaar in guter Ordnung wieder zu dem Hauptheere zurück. Aber mit entſetz- lichen Opfern hatten die Preußen die Thorheit des Czaren bezahlen müſ- ſen; mehr als die Hälfte der Brigade Steinmetz lag auf dem Schlacht- felde, und die Vereinigung Neys mit der franzöſiſchen Hauptarmee war doch nicht verhindert. So konnte denn Napoleon am 20. Mai ſeine geſammten 170,000 Mann gegen die 80,000 Alliirten zur Schlacht vorführen. Die Ver- bündeten erwarteten den Angriff in weitgedehnter Stellung auf dem ſteilen rechten Ufer des tiefen Spreethals, mit der Front nach Weſten; ihr linker Flügel lehnte ſich an jene waldigen Höhen des Lauſitzer Gebirges, von denen einſt Laudon gegen das Hochkircher Lager herniedergeſtürmt war, der rechte ſtand ungedeckt in der freien Ebene. Napoleon griff am erſten Schlachttage den linken Flügel der Gegner an, überſchritt den Fluß, be- ſetzte Bautzen und verleitete alſo den Czaren zu dem Glauben, daß die Franzoſen die Entſcheidung auf der Linken der Alliirten ſuchten, das ver- bündete Heer vom Gebirge abſchneiden wollten. Die Abſicht des Impe- rators ging aber vielmehr dahin, den bloßgeſtellten rechten Flügel der Ver- bündeten zu werfen, dann ihr Centrum zu umklammern und die geſchlagene Armee zu dem gefahrvollen Rückzuge ſüdwärts ins Gebirge hinein zu

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 458. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/474>, abgerufen am 25.11.2024.