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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Blücher und die Nation.
liche Ausdruck einer unbändigen überschäumenden Lebenskraft war. Die
Patriotenpartei verließ sich auf ihn als auf ihre treueste Stütze. Stein
hatte sich ihm schon vor Jahren in herzlicher Freundschaft angeschlossen;
er schätzte das treffende, immer aus der Fülle lebendiger Erfahrung ge-
schöpfte Urtheil des Generals und ahnte in ihm denselben kühnen Schwung
der Seele, denselben Muth der Wahrheit, der in seiner eigenen Brust
lebte.

Ganz frei von Menschenfurcht, mit unumwundenem Freimuth sagte
Blücher Jedem seine Meinung ins Gesicht; und doch lag selbst in seinen
gröbsten Worten nichts von Steins verletzender Schärfe. Seine Zornreden
kamen so gutlaunig und treuherzig heraus, daß sich selten Jemand gekränkt
fühlte und selbst der König sich von ihm Alles bieten ließ. Denn bei
allem Ungestüm war er von Grund aus klug, nicht blos im Kriege so
verschlagen und aller Listen kundig, daß ihn Napoleon ärgerlich le vieux
renard
nannte, sondern auch ein gewiegter Menschenkenner, der Jeden
an der rechten Stelle zu packen wußte. Die Kunst des Befehlens ver-
stand er aus dem Grunde; von der Mannschaft durfte er das Unmög-
liche verlangen, wenn sein Vorwärts aus seinen Augen blitzte, und auch
von dem trotzigen Selbstgefühle seiner Generale erzwang er sich Gehor-
sam, da er stets nur an die Sache dachte, nach jedem Mißerfolge Alles
hochherzig auf seine Kappe nahm und bei Streitigkeiten der Untergebenen
immer gutmüthig vermittelte. Die unverwüstliche Kraft des Hoffens und
Vertrauens wurzelte bei ihm wie bei Stein in einer schlichten Frömmig-
keit. Obgleich er nach Husarenart den Herrgott zuweilen einen guten
Mann sein ließ und alles scheinheilige Wesen verabscheute, so blieb er doch
in tiefster Seele seines einfältigen Glaubens froh; in schweren Stunden
tröstete sich der Bibelfeste gern an einem tapferen Worte der Apostel.
Und wie weitab lag doch die Schlaglust dieses gütigen, menschenfreund-
lichen Mannes von der herzlosen Roheit des Landsknechtes! Für die
Kranken und Verwundeten zu sorgen war ihm heilige Christenpflicht. Der
junge Kronprinz vergaß es nie, wie ihn der alte Held einmal auf einem
Schlachtfelde tief ergriffen bei der Hand genommen und ihm all den
fürchterlichen Jammer ringsum gezeigt hatte: das sei der Fluch des Krieges,
und wehe dem Fürsten, der aus Eitelkeit und Uebermuth solches Elend
über seine Brüder bringe!

Blücher wußte längst, "daß er das Zutrauen der Nation und die
Liebe des Heeres für sich hatte," daß ihm die Führung der Armee ge-
bührte. Als nun die heiß ersehnte Stunde schlug und das Reich der
tausendmal verfluchten "Sicherheitscommissare und Faulthiere" zu Ende
ging, da fühlte er sich verjüngt trotz seiner siebzig Jahre und dachte froh
an die langlebige Heldenkraft des Derfflingers und des Dessauers und
die vielen anderen glorreichen Grauköpfe der preußischen Kriegsgeschichte.
Glückselig wiegte er sich auf den hohen Wogen dieser brausenden Volksbe-

29*

Blücher und die Nation.
liche Ausdruck einer unbändigen überſchäumenden Lebenskraft war. Die
Patriotenpartei verließ ſich auf ihn als auf ihre treueſte Stütze. Stein
hatte ſich ihm ſchon vor Jahren in herzlicher Freundſchaft angeſchloſſen;
er ſchätzte das treffende, immer aus der Fülle lebendiger Erfahrung ge-
ſchöpfte Urtheil des Generals und ahnte in ihm denſelben kühnen Schwung
der Seele, denſelben Muth der Wahrheit, der in ſeiner eigenen Bruſt
lebte.

Ganz frei von Menſchenfurcht, mit unumwundenem Freimuth ſagte
Blücher Jedem ſeine Meinung ins Geſicht; und doch lag ſelbſt in ſeinen
gröbſten Worten nichts von Steins verletzender Schärfe. Seine Zornreden
kamen ſo gutlaunig und treuherzig heraus, daß ſich ſelten Jemand gekränkt
fühlte und ſelbſt der König ſich von ihm Alles bieten ließ. Denn bei
allem Ungeſtüm war er von Grund aus klug, nicht blos im Kriege ſo
verſchlagen und aller Liſten kundig, daß ihn Napoleon ärgerlich le vieux
renard
nannte, ſondern auch ein gewiegter Menſchenkenner, der Jeden
an der rechten Stelle zu packen wußte. Die Kunſt des Befehlens ver-
ſtand er aus dem Grunde; von der Mannſchaft durfte er das Unmög-
liche verlangen, wenn ſein Vorwärts aus ſeinen Augen blitzte, und auch
von dem trotzigen Selbſtgefühle ſeiner Generale erzwang er ſich Gehor-
ſam, da er ſtets nur an die Sache dachte, nach jedem Mißerfolge Alles
hochherzig auf ſeine Kappe nahm und bei Streitigkeiten der Untergebenen
immer gutmüthig vermittelte. Die unverwüſtliche Kraft des Hoffens und
Vertrauens wurzelte bei ihm wie bei Stein in einer ſchlichten Frömmig-
keit. Obgleich er nach Huſarenart den Herrgott zuweilen einen guten
Mann ſein ließ und alles ſcheinheilige Weſen verabſcheute, ſo blieb er doch
in tiefſter Seele ſeines einfältigen Glaubens froh; in ſchweren Stunden
tröſtete ſich der Bibelfeſte gern an einem tapferen Worte der Apoſtel.
Und wie weitab lag doch die Schlagluſt dieſes gütigen, menſchenfreund-
lichen Mannes von der herzloſen Roheit des Landsknechtes! Für die
Kranken und Verwundeten zu ſorgen war ihm heilige Chriſtenpflicht. Der
junge Kronprinz vergaß es nie, wie ihn der alte Held einmal auf einem
Schlachtfelde tief ergriffen bei der Hand genommen und ihm all den
fürchterlichen Jammer ringsum gezeigt hatte: das ſei der Fluch des Krieges,
und wehe dem Fürſten, der aus Eitelkeit und Uebermuth ſolches Elend
über ſeine Brüder bringe!

Blücher wußte längſt, „daß er das Zutrauen der Nation und die
Liebe des Heeres für ſich hatte,“ daß ihm die Führung der Armee ge-
bührte. Als nun die heiß erſehnte Stunde ſchlug und das Reich der
tauſendmal verfluchten „Sicherheitscommiſſare und Faulthiere“ zu Ende
ging, da fühlte er ſich verjüngt trotz ſeiner ſiebzig Jahre und dachte froh
an die langlebige Heldenkraft des Derfflingers und des Deſſauers und
die vielen anderen glorreichen Grauköpfe der preußiſchen Kriegsgeſchichte.
Glückſelig wiegte er ſich auf den hohen Wogen dieſer brauſenden Volksbe-

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[451/0467] Blücher und die Nation. liche Ausdruck einer unbändigen überſchäumenden Lebenskraft war. Die Patriotenpartei verließ ſich auf ihn als auf ihre treueſte Stütze. Stein hatte ſich ihm ſchon vor Jahren in herzlicher Freundſchaft angeſchloſſen; er ſchätzte das treffende, immer aus der Fülle lebendiger Erfahrung ge- ſchöpfte Urtheil des Generals und ahnte in ihm denſelben kühnen Schwung der Seele, denſelben Muth der Wahrheit, der in ſeiner eigenen Bruſt lebte. Ganz frei von Menſchenfurcht, mit unumwundenem Freimuth ſagte Blücher Jedem ſeine Meinung ins Geſicht; und doch lag ſelbſt in ſeinen gröbſten Worten nichts von Steins verletzender Schärfe. Seine Zornreden kamen ſo gutlaunig und treuherzig heraus, daß ſich ſelten Jemand gekränkt fühlte und ſelbſt der König ſich von ihm Alles bieten ließ. Denn bei allem Ungeſtüm war er von Grund aus klug, nicht blos im Kriege ſo verſchlagen und aller Liſten kundig, daß ihn Napoleon ärgerlich le vieux renard nannte, ſondern auch ein gewiegter Menſchenkenner, der Jeden an der rechten Stelle zu packen wußte. Die Kunſt des Befehlens ver- ſtand er aus dem Grunde; von der Mannſchaft durfte er das Unmög- liche verlangen, wenn ſein Vorwärts aus ſeinen Augen blitzte, und auch von dem trotzigen Selbſtgefühle ſeiner Generale erzwang er ſich Gehor- ſam, da er ſtets nur an die Sache dachte, nach jedem Mißerfolge Alles hochherzig auf ſeine Kappe nahm und bei Streitigkeiten der Untergebenen immer gutmüthig vermittelte. Die unverwüſtliche Kraft des Hoffens und Vertrauens wurzelte bei ihm wie bei Stein in einer ſchlichten Frömmig- keit. Obgleich er nach Huſarenart den Herrgott zuweilen einen guten Mann ſein ließ und alles ſcheinheilige Weſen verabſcheute, ſo blieb er doch in tiefſter Seele ſeines einfältigen Glaubens froh; in ſchweren Stunden tröſtete ſich der Bibelfeſte gern an einem tapferen Worte der Apoſtel. Und wie weitab lag doch die Schlagluſt dieſes gütigen, menſchenfreund- lichen Mannes von der herzloſen Roheit des Landsknechtes! Für die Kranken und Verwundeten zu ſorgen war ihm heilige Chriſtenpflicht. Der junge Kronprinz vergaß es nie, wie ihn der alte Held einmal auf einem Schlachtfelde tief ergriffen bei der Hand genommen und ihm all den fürchterlichen Jammer ringsum gezeigt hatte: das ſei der Fluch des Krieges, und wehe dem Fürſten, der aus Eitelkeit und Uebermuth ſolches Elend über ſeine Brüder bringe! Blücher wußte längſt, „daß er das Zutrauen der Nation und die Liebe des Heeres für ſich hatte,“ daß ihm die Führung der Armee ge- bührte. Als nun die heiß erſehnte Stunde ſchlug und das Reich der tauſendmal verfluchten „Sicherheitscommiſſare und Faulthiere“ zu Ende ging, da fühlte er ſich verjüngt trotz ſeiner ſiebzig Jahre und dachte froh an die langlebige Heldenkraft des Derfflingers und des Deſſauers und die vielen anderen glorreichen Grauköpfe der preußiſchen Kriegsgeſchichte. Glückſelig wiegte er ſich auf den hohen Wogen dieſer brauſenden Volksbe- 29*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 451. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/467>, abgerufen am 23.11.2024.