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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 4. Der Befreiungskrieg.
Deutschland wieder unter Europas Völkern erscheinen können!" -- Hoch-
tönende, wohlgemeinte Worte, nur schade, daß sie jedes klaren Sinnes
entbehrten. Sie sollten nachher in einem Menschenalter der Verbitterung
und Verstimmung eine ganz ungeahnte Bedeutung gewinnen. Auf sie
vornehmlich beriefen sich späterhin die enttäuschten Patrioten, um zu be-
weisen, daß die Nation von ihren Fürsten betrogen sei -- während doch
leider der ureigene Geist des deutschen Volkes selber von den unerläß-
lichen Vorbedingungen der deutschen Einheit damals noch eben so wenig
ahnte, wie seine Fürsten.

Die Drohungen der Verbündeten entsprangen der richtigen Erkennt-
niß, daß die Satrapen Napoleons nur noch für die Sprache der Gewalt
empfänglich waren. Aber sollten die starken Worte wirken, so mußte die
That der Drohung auf dem Fuße folgen. Und sie folgte nicht. Seine
natürliche Gutmüthigkeit und die stille Rücksicht auf Oesterreich verhin-
derten den König, durch die Entthronung seines sächsischen Nachbars recht-
zeitig den deutschen Fürsten ein warnendes Beispiel zu geben. Als die
Aufforderung an Friedrich August von Sachsen herantrat, daß er um
Deutschlands willen den Treubruch wiederholen sollte, den er im Herbst
1806 um seines Hauses willen begangen hatte, da war die Lage des
schwachen Fürsten allerdings schwierig: er mußte früher als die anderen
Rheinbundskönige einen Entschluß fassen, in einem Augenblicke, da der
Ausgang des Krieges noch unsicher war, und er konnte nicht hoffen, das
durch die Russen eroberte Warschau wiederzugewinnen. Es lag jedoch
in seiner Hand, durch rechtzeitigen Anschluß sich einen Ersatz für seinen
polnischen Besitz zu sichern; der Czar hatte sich dazu längst bereit er-
klärt. Die Entschädigung für eine so unsichere Krone konnte freilich nicht
bedeutend sein: Warschau war, wie Jedermann wußte, nur vorläufig in
Friedrich Augusts Hände gegeben bis auf weitere Verfügung des Impe-
rators; niemals hatte der wettinische Herzog sich unterstanden, den vor-
nehmen polnischen Königswählern und ihrem wilden Deutschenhasse ent-
gegenzutreten, niemals gewagt, seinen polnischen Truppen irgend einen
Befehl zu geben. Friedrich August wollte trotzdem von dieser polnischen
Krone, die schon so viel Unheil über Sachsen gebracht, nicht lassen und
hielt zudem die Niederlage seines "Großen Alliirten" für undenkbar. Er
that beim Heranrücken der Verbündeten, was er schon in der Kriegsgefahr
des Jahres 1809 gethan: er floh mit seinem Grünen Gewölbe aus dem
Lande. Auf die dringende Frage des Königs von Preußen, ob er "ein
Widersacher der edelsten Sache" bleiben wolle, gab er eine nichtssagende
Antwort und verwies auf seine bestehenden Verbindlichkeiten.

Sein Minister Graf Senfft -- eine jener aufgeblasenen Mittel-
mäßigkeiten, woran die diplomatische Geschichte der Mittelstaaten so reich
ist -- entwarf den kindischen Plan einer mitteleuropäischen Allianz, welche
Frankreich und Rußland zugleich demüthigen und Preußen auf der Stufe

I. 4. Der Befreiungskrieg.
Deutſchland wieder unter Europas Völkern erſcheinen können!“ — Hoch-
tönende, wohlgemeinte Worte, nur ſchade, daß ſie jedes klaren Sinnes
entbehrten. Sie ſollten nachher in einem Menſchenalter der Verbitterung
und Verſtimmung eine ganz ungeahnte Bedeutung gewinnen. Auf ſie
vornehmlich beriefen ſich ſpäterhin die enttäuſchten Patrioten, um zu be-
weiſen, daß die Nation von ihren Fürſten betrogen ſei — während doch
leider der ureigene Geiſt des deutſchen Volkes ſelber von den unerläß-
lichen Vorbedingungen der deutſchen Einheit damals noch eben ſo wenig
ahnte, wie ſeine Fürſten.

Die Drohungen der Verbündeten entſprangen der richtigen Erkennt-
niß, daß die Satrapen Napoleons nur noch für die Sprache der Gewalt
empfänglich waren. Aber ſollten die ſtarken Worte wirken, ſo mußte die
That der Drohung auf dem Fuße folgen. Und ſie folgte nicht. Seine
natürliche Gutmüthigkeit und die ſtille Rückſicht auf Oeſterreich verhin-
derten den König, durch die Entthronung ſeines ſächſiſchen Nachbars recht-
zeitig den deutſchen Fürſten ein warnendes Beiſpiel zu geben. Als die
Aufforderung an Friedrich Auguſt von Sachſen herantrat, daß er um
Deutſchlands willen den Treubruch wiederholen ſollte, den er im Herbſt
1806 um ſeines Hauſes willen begangen hatte, da war die Lage des
ſchwachen Fürſten allerdings ſchwierig: er mußte früher als die anderen
Rheinbundskönige einen Entſchluß faſſen, in einem Augenblicke, da der
Ausgang des Krieges noch unſicher war, und er konnte nicht hoffen, das
durch die Ruſſen eroberte Warſchau wiederzugewinnen. Es lag jedoch
in ſeiner Hand, durch rechtzeitigen Anſchluß ſich einen Erſatz für ſeinen
polniſchen Beſitz zu ſichern; der Czar hatte ſich dazu längſt bereit er-
klärt. Die Entſchädigung für eine ſo unſichere Krone konnte freilich nicht
bedeutend ſein: Warſchau war, wie Jedermann wußte, nur vorläufig in
Friedrich Auguſts Hände gegeben bis auf weitere Verfügung des Impe-
rators; niemals hatte der wettiniſche Herzog ſich unterſtanden, den vor-
nehmen polniſchen Königswählern und ihrem wilden Deutſchenhaſſe ent-
gegenzutreten, niemals gewagt, ſeinen polniſchen Truppen irgend einen
Befehl zu geben. Friedrich Auguſt wollte trotzdem von dieſer polniſchen
Krone, die ſchon ſo viel Unheil über Sachſen gebracht, nicht laſſen und
hielt zudem die Niederlage ſeines „Großen Alliirten“ für undenkbar. Er
that beim Heranrücken der Verbündeten, was er ſchon in der Kriegsgefahr
des Jahres 1809 gethan: er floh mit ſeinem Grünen Gewölbe aus dem
Lande. Auf die dringende Frage des Königs von Preußen, ob er „ein
Widerſacher der edelſten Sache“ bleiben wolle, gab er eine nichtsſagende
Antwort und verwies auf ſeine beſtehenden Verbindlichkeiten.

Sein Miniſter Graf Senfft — eine jener aufgeblaſenen Mittel-
mäßigkeiten, woran die diplomatiſche Geſchichte der Mittelſtaaten ſo reich
iſt — entwarf den kindiſchen Plan einer mitteleuropäiſchen Allianz, welche
Frankreich und Rußland zugleich demüthigen und Preußen auf der Stufe

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[446/0462] I. 4. Der Befreiungskrieg. Deutſchland wieder unter Europas Völkern erſcheinen können!“ — Hoch- tönende, wohlgemeinte Worte, nur ſchade, daß ſie jedes klaren Sinnes entbehrten. Sie ſollten nachher in einem Menſchenalter der Verbitterung und Verſtimmung eine ganz ungeahnte Bedeutung gewinnen. Auf ſie vornehmlich beriefen ſich ſpäterhin die enttäuſchten Patrioten, um zu be- weiſen, daß die Nation von ihren Fürſten betrogen ſei — während doch leider der ureigene Geiſt des deutſchen Volkes ſelber von den unerläß- lichen Vorbedingungen der deutſchen Einheit damals noch eben ſo wenig ahnte, wie ſeine Fürſten. Die Drohungen der Verbündeten entſprangen der richtigen Erkennt- niß, daß die Satrapen Napoleons nur noch für die Sprache der Gewalt empfänglich waren. Aber ſollten die ſtarken Worte wirken, ſo mußte die That der Drohung auf dem Fuße folgen. Und ſie folgte nicht. Seine natürliche Gutmüthigkeit und die ſtille Rückſicht auf Oeſterreich verhin- derten den König, durch die Entthronung ſeines ſächſiſchen Nachbars recht- zeitig den deutſchen Fürſten ein warnendes Beiſpiel zu geben. Als die Aufforderung an Friedrich Auguſt von Sachſen herantrat, daß er um Deutſchlands willen den Treubruch wiederholen ſollte, den er im Herbſt 1806 um ſeines Hauſes willen begangen hatte, da war die Lage des ſchwachen Fürſten allerdings ſchwierig: er mußte früher als die anderen Rheinbundskönige einen Entſchluß faſſen, in einem Augenblicke, da der Ausgang des Krieges noch unſicher war, und er konnte nicht hoffen, das durch die Ruſſen eroberte Warſchau wiederzugewinnen. Es lag jedoch in ſeiner Hand, durch rechtzeitigen Anſchluß ſich einen Erſatz für ſeinen polniſchen Beſitz zu ſichern; der Czar hatte ſich dazu längſt bereit er- klärt. Die Entſchädigung für eine ſo unſichere Krone konnte freilich nicht bedeutend ſein: Warſchau war, wie Jedermann wußte, nur vorläufig in Friedrich Auguſts Hände gegeben bis auf weitere Verfügung des Impe- rators; niemals hatte der wettiniſche Herzog ſich unterſtanden, den vor- nehmen polniſchen Königswählern und ihrem wilden Deutſchenhaſſe ent- gegenzutreten, niemals gewagt, ſeinen polniſchen Truppen irgend einen Befehl zu geben. Friedrich Auguſt wollte trotzdem von dieſer polniſchen Krone, die ſchon ſo viel Unheil über Sachſen gebracht, nicht laſſen und hielt zudem die Niederlage ſeines „Großen Alliirten“ für undenkbar. Er that beim Heranrücken der Verbündeten, was er ſchon in der Kriegsgefahr des Jahres 1809 gethan: er floh mit ſeinem Grünen Gewölbe aus dem Lande. Auf die dringende Frage des Königs von Preußen, ob er „ein Widerſacher der edelſten Sache“ bleiben wolle, gab er eine nichtsſagende Antwort und verwies auf ſeine beſtehenden Verbindlichkeiten. Sein Miniſter Graf Senfft — eine jener aufgeblaſenen Mittel- mäßigkeiten, woran die diplomatiſche Geſchichte der Mittelſtaaten ſo reich iſt — entwarf den kindiſchen Plan einer mitteleuropäiſchen Allianz, welche Frankreich und Rußland zugleich demüthigen und Preußen auf der Stufe

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/462>, abgerufen am 25.11.2024.