Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Landsturm.
das Ende der Welt verfolgen wollten. Nach einigen Wochen wurde ihre
Haltung sicherer, und gegen den Herbst hin begann Napoleons Spott über
"dies Gewölk schlechter Infanterie" zu verstummen. Die kampfgewohnten
Bataillone der Landwehr waren allmählich fast ebenso kriegstüchtig ge-
worden wie das stehende Heer, wenngleich sie mit der Disciplin und der
stattlichen äußeren Haltung der Linientruppen nicht wetteifern konnten: --
eine in der Kriegsgeschichte beispiellose Thatsache, die nur möglich ward
durch den sittlichen Schwung eines nationalen Daseinskampfes. Schwerer,
natürlich, gelang die Ausbildung der Landwehrreiter; doch haben auch sie
unter kundigen Führern manches Vortreffliche geleistet. Marwitz ließ seine
märkischen Bauernjungen ihre kleinen Klepper nur auf der Trense reiten,
ohne Kandare und Sporen, störte sie nicht in ihren ländlichen Reiterkünsten,
verlangte nur, daß sie Pferd und Waffen mit Sicherheit zu brauchen lern-
ten, und brachte diese naturwüchsige Cavallerie nach kurzer Zeit so weit,
daß er von ihr im Felddienste Alles fordern konnte.

Nach der Einberufung der Landwehr vergingen wieder fünf Wochen
bis am 21. April das Gesetz über den Landsturm unterzeichnet wurde.
Die Cadres der Landwehrbataillone mußten erst formirt sein bevor man
zum Aufgebote der letzten Kräfte des Volks schreiten konnte. Scharnhorst
stand damals schon fern von Breslau im Feldlager. Schwerlich ist der
General ganz einverstanden gewesen mit Form und Inhalt dieses von
einem Civilbeamten Bartholdi verfaßten Gesetzes, das einem gesitteten
Volke Unmögliches zumuthete und, vollständig durchgeführt, der Krieg-
führung beider Theile das Gepräge fanatischer Barbarei hätte geben
müssen. Ausdrücklich war der furchtbare Grundsatz ausgesprochen, daß
dieser Krieg der Nothwehr jedes Mittel heilige. Sobald der Feind heran-
nahte, sollten auf das Geläute der Sturmglocken alle Männer vom fünf-
zehnten bis zum sechzigsten Jahre aufstehen, ausgerüstet mit Piken, Bei-
len, Sensen, Heugabeln, mit jeder Waffe, die nur stechen oder hauen
konnte; denn auf die Länge habe der Vertheidiger in jedem Terrain immer
das Uebergewicht. Der Landsturm wird verpflichtet zur Späherei und zum
kleinen Kriege: der Feind muß wissen, daß alle seine zerstreuten Abthei-
lungen sofort erschlagen werden. Der Feigling, der Sklavensinn zeigt,
ist als Sklave zu behandeln und mit Prügeln zu bestrafen. Auf Befehl
des Militärgouverneurs müssen ganze Bezirke verwüstet, Vieh und Ge-
räthe weggeschafft, die Brunnen verschüttet, das Getreide auf dem Halme
verbrannt werden. Wird eine Gegend überrascht, so sind alle Behörden
alsbald aufgelöst -- offenbar eine Erinnerung an die tragikomischen Er-
fahrungen von 1806. Wer genöthigt ward dem Feinde einen Eid zu
leisten ist an den erzwungenen Schwur nicht gebunden. Auch diesen un-
geheuren Anforderungen kam das treue Volk mit Freuden nach so weit
es möglich war. In jedem Kreise trat eine Schutzdeputation zusammen
zur Leitung des Landsturms. Die müden Alten und die unbärtigen

Der Landſturm.
das Ende der Welt verfolgen wollten. Nach einigen Wochen wurde ihre
Haltung ſicherer, und gegen den Herbſt hin begann Napoleons Spott über
„dies Gewölk ſchlechter Infanterie“ zu verſtummen. Die kampfgewohnten
Bataillone der Landwehr waren allmählich faſt ebenſo kriegstüchtig ge-
worden wie das ſtehende Heer, wenngleich ſie mit der Disciplin und der
ſtattlichen äußeren Haltung der Linientruppen nicht wetteifern konnten: —
eine in der Kriegsgeſchichte beiſpielloſe Thatſache, die nur möglich ward
durch den ſittlichen Schwung eines nationalen Daſeinskampfes. Schwerer,
natürlich, gelang die Ausbildung der Landwehrreiter; doch haben auch ſie
unter kundigen Führern manches Vortreffliche geleiſtet. Marwitz ließ ſeine
märkiſchen Bauernjungen ihre kleinen Klepper nur auf der Trenſe reiten,
ohne Kandare und Sporen, ſtörte ſie nicht in ihren ländlichen Reiterkünſten,
verlangte nur, daß ſie Pferd und Waffen mit Sicherheit zu brauchen lern-
ten, und brachte dieſe naturwüchſige Cavallerie nach kurzer Zeit ſo weit,
daß er von ihr im Felddienſte Alles fordern konnte.

Nach der Einberufung der Landwehr vergingen wieder fünf Wochen
bis am 21. April das Geſetz über den Landſturm unterzeichnet wurde.
Die Cadres der Landwehrbataillone mußten erſt formirt ſein bevor man
zum Aufgebote der letzten Kräfte des Volks ſchreiten konnte. Scharnhorſt
ſtand damals ſchon fern von Breslau im Feldlager. Schwerlich iſt der
General ganz einverſtanden geweſen mit Form und Inhalt dieſes von
einem Civilbeamten Bartholdi verfaßten Geſetzes, das einem geſitteten
Volke Unmögliches zumuthete und, vollſtändig durchgeführt, der Krieg-
führung beider Theile das Gepräge fanatiſcher Barbarei hätte geben
müſſen. Ausdrücklich war der furchtbare Grundſatz ausgeſprochen, daß
dieſer Krieg der Nothwehr jedes Mittel heilige. Sobald der Feind heran-
nahte, ſollten auf das Geläute der Sturmglocken alle Männer vom fünf-
zehnten bis zum ſechzigſten Jahre aufſtehen, ausgerüſtet mit Piken, Bei-
len, Senſen, Heugabeln, mit jeder Waffe, die nur ſtechen oder hauen
konnte; denn auf die Länge habe der Vertheidiger in jedem Terrain immer
das Uebergewicht. Der Landſturm wird verpflichtet zur Späherei und zum
kleinen Kriege: der Feind muß wiſſen, daß alle ſeine zerſtreuten Abthei-
lungen ſofort erſchlagen werden. Der Feigling, der Sklavenſinn zeigt,
iſt als Sklave zu behandeln und mit Prügeln zu beſtrafen. Auf Befehl
des Militärgouverneurs müſſen ganze Bezirke verwüſtet, Vieh und Ge-
räthe weggeſchafft, die Brunnen verſchüttet, das Getreide auf dem Halme
verbrannt werden. Wird eine Gegend überraſcht, ſo ſind alle Behörden
alsbald aufgelöſt — offenbar eine Erinnerung an die tragikomiſchen Er-
fahrungen von 1806. Wer genöthigt ward dem Feinde einen Eid zu
leiſten iſt an den erzwungenen Schwur nicht gebunden. Auch dieſen un-
geheuren Anforderungen kam das treue Volk mit Freuden nach ſo weit
es möglich war. In jedem Kreiſe trat eine Schutzdeputation zuſammen
zur Leitung des Landſturms. Die müden Alten und die unbärtigen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0455" n="439"/><fw place="top" type="header">Der Land&#x017F;turm.</fw><lb/>
das Ende der Welt verfolgen wollten. Nach einigen Wochen wurde ihre<lb/>
Haltung &#x017F;icherer, und gegen den Herb&#x017F;t hin begann Napoleons Spott über<lb/>
&#x201E;dies Gewölk &#x017F;chlechter Infanterie&#x201C; zu ver&#x017F;tummen. Die kampfgewohnten<lb/>
Bataillone der Landwehr waren allmählich fa&#x017F;t eben&#x017F;o kriegstüchtig ge-<lb/>
worden wie das &#x017F;tehende Heer, wenngleich &#x017F;ie mit der Disciplin und der<lb/>
&#x017F;tattlichen äußeren Haltung der Linientruppen nicht wetteifern konnten: &#x2014;<lb/>
eine in der Kriegsge&#x017F;chichte bei&#x017F;piello&#x017F;e That&#x017F;ache, die nur möglich ward<lb/>
durch den &#x017F;ittlichen Schwung eines nationalen Da&#x017F;einskampfes. Schwerer,<lb/>
natürlich, gelang die Ausbildung der Landwehrreiter; doch haben auch &#x017F;ie<lb/>
unter kundigen Führern manches Vortreffliche gelei&#x017F;tet. Marwitz ließ &#x017F;eine<lb/>
märki&#x017F;chen Bauernjungen ihre kleinen Klepper nur auf der Tren&#x017F;e reiten,<lb/>
ohne Kandare und Sporen, &#x017F;törte &#x017F;ie nicht in ihren ländlichen Reiterkün&#x017F;ten,<lb/>
verlangte nur, daß &#x017F;ie Pferd und Waffen mit Sicherheit zu brauchen lern-<lb/>
ten, und brachte die&#x017F;e naturwüch&#x017F;ige Cavallerie nach kurzer Zeit &#x017F;o weit,<lb/>
daß er von ihr im Felddien&#x017F;te Alles fordern konnte.</p><lb/>
            <p>Nach der Einberufung der Landwehr vergingen wieder fünf Wochen<lb/>
bis am 21. April das Ge&#x017F;etz über den Land&#x017F;turm unterzeichnet wurde.<lb/>
Die Cadres der Landwehrbataillone mußten er&#x017F;t formirt &#x017F;ein bevor man<lb/>
zum Aufgebote der letzten Kräfte des Volks &#x017F;chreiten konnte. Scharnhor&#x017F;t<lb/>
&#x017F;tand damals &#x017F;chon fern von Breslau im Feldlager. Schwerlich i&#x017F;t der<lb/>
General ganz einver&#x017F;tanden gewe&#x017F;en mit Form und Inhalt die&#x017F;es von<lb/>
einem Civilbeamten Bartholdi verfaßten Ge&#x017F;etzes, das einem ge&#x017F;itteten<lb/>
Volke Unmögliches zumuthete und, voll&#x017F;tändig durchgeführt, der Krieg-<lb/>
führung beider Theile das Gepräge fanati&#x017F;cher Barbarei hätte geben<lb/>&#x017F;&#x017F;en. Ausdrücklich war der furchtbare Grund&#x017F;atz ausge&#x017F;prochen, daß<lb/>
die&#x017F;er Krieg der Nothwehr jedes Mittel heilige. Sobald der Feind heran-<lb/>
nahte, &#x017F;ollten auf das Geläute der Sturmglocken alle Männer vom fünf-<lb/>
zehnten bis zum &#x017F;echzig&#x017F;ten Jahre auf&#x017F;tehen, ausgerü&#x017F;tet mit Piken, Bei-<lb/>
len, Sen&#x017F;en, Heugabeln, mit jeder Waffe, die nur &#x017F;techen oder hauen<lb/>
konnte; denn auf die Länge habe der Vertheidiger in jedem Terrain immer<lb/>
das Uebergewicht. Der Land&#x017F;turm wird verpflichtet zur Späherei und zum<lb/>
kleinen Kriege: der Feind muß wi&#x017F;&#x017F;en, daß alle &#x017F;eine zer&#x017F;treuten Abthei-<lb/>
lungen &#x017F;ofort er&#x017F;chlagen werden. Der Feigling, der Sklaven&#x017F;inn zeigt,<lb/>
i&#x017F;t als Sklave zu behandeln und mit Prügeln zu be&#x017F;trafen. Auf Befehl<lb/>
des Militärgouverneurs mü&#x017F;&#x017F;en ganze Bezirke verwü&#x017F;tet, Vieh und Ge-<lb/>
räthe wegge&#x017F;chafft, die Brunnen ver&#x017F;chüttet, das Getreide auf dem Halme<lb/>
verbrannt werden. Wird eine Gegend überra&#x017F;cht, &#x017F;o &#x017F;ind alle Behörden<lb/>
alsbald aufgelö&#x017F;t &#x2014; offenbar eine Erinnerung an die tragikomi&#x017F;chen Er-<lb/>
fahrungen von 1806. Wer genöthigt ward dem Feinde einen Eid zu<lb/>
lei&#x017F;ten i&#x017F;t an den erzwungenen Schwur nicht gebunden. Auch die&#x017F;en un-<lb/>
geheuren Anforderungen kam das treue Volk mit Freuden nach &#x017F;o weit<lb/>
es möglich war. In jedem Krei&#x017F;e trat eine Schutzdeputation zu&#x017F;ammen<lb/>
zur Leitung des Land&#x017F;turms. Die müden Alten und die unbärtigen<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[439/0455] Der Landſturm. das Ende der Welt verfolgen wollten. Nach einigen Wochen wurde ihre Haltung ſicherer, und gegen den Herbſt hin begann Napoleons Spott über „dies Gewölk ſchlechter Infanterie“ zu verſtummen. Die kampfgewohnten Bataillone der Landwehr waren allmählich faſt ebenſo kriegstüchtig ge- worden wie das ſtehende Heer, wenngleich ſie mit der Disciplin und der ſtattlichen äußeren Haltung der Linientruppen nicht wetteifern konnten: — eine in der Kriegsgeſchichte beiſpielloſe Thatſache, die nur möglich ward durch den ſittlichen Schwung eines nationalen Daſeinskampfes. Schwerer, natürlich, gelang die Ausbildung der Landwehrreiter; doch haben auch ſie unter kundigen Führern manches Vortreffliche geleiſtet. Marwitz ließ ſeine märkiſchen Bauernjungen ihre kleinen Klepper nur auf der Trenſe reiten, ohne Kandare und Sporen, ſtörte ſie nicht in ihren ländlichen Reiterkünſten, verlangte nur, daß ſie Pferd und Waffen mit Sicherheit zu brauchen lern- ten, und brachte dieſe naturwüchſige Cavallerie nach kurzer Zeit ſo weit, daß er von ihr im Felddienſte Alles fordern konnte. Nach der Einberufung der Landwehr vergingen wieder fünf Wochen bis am 21. April das Geſetz über den Landſturm unterzeichnet wurde. Die Cadres der Landwehrbataillone mußten erſt formirt ſein bevor man zum Aufgebote der letzten Kräfte des Volks ſchreiten konnte. Scharnhorſt ſtand damals ſchon fern von Breslau im Feldlager. Schwerlich iſt der General ganz einverſtanden geweſen mit Form und Inhalt dieſes von einem Civilbeamten Bartholdi verfaßten Geſetzes, das einem geſitteten Volke Unmögliches zumuthete und, vollſtändig durchgeführt, der Krieg- führung beider Theile das Gepräge fanatiſcher Barbarei hätte geben müſſen. Ausdrücklich war der furchtbare Grundſatz ausgeſprochen, daß dieſer Krieg der Nothwehr jedes Mittel heilige. Sobald der Feind heran- nahte, ſollten auf das Geläute der Sturmglocken alle Männer vom fünf- zehnten bis zum ſechzigſten Jahre aufſtehen, ausgerüſtet mit Piken, Bei- len, Senſen, Heugabeln, mit jeder Waffe, die nur ſtechen oder hauen konnte; denn auf die Länge habe der Vertheidiger in jedem Terrain immer das Uebergewicht. Der Landſturm wird verpflichtet zur Späherei und zum kleinen Kriege: der Feind muß wiſſen, daß alle ſeine zerſtreuten Abthei- lungen ſofort erſchlagen werden. Der Feigling, der Sklavenſinn zeigt, iſt als Sklave zu behandeln und mit Prügeln zu beſtrafen. Auf Befehl des Militärgouverneurs müſſen ganze Bezirke verwüſtet, Vieh und Ge- räthe weggeſchafft, die Brunnen verſchüttet, das Getreide auf dem Halme verbrannt werden. Wird eine Gegend überraſcht, ſo ſind alle Behörden alsbald aufgelöſt — offenbar eine Erinnerung an die tragikomiſchen Er- fahrungen von 1806. Wer genöthigt ward dem Feinde einen Eid zu leiſten iſt an den erzwungenen Schwur nicht gebunden. Auch dieſen un- geheuren Anforderungen kam das treue Volk mit Freuden nach ſo weit es möglich war. In jedem Kreiſe trat eine Schutzdeputation zuſammen zur Leitung des Landſturms. Die müden Alten und die unbärtigen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/455
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 439. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/455>, abgerufen am 22.11.2024.