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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Ungewißheit in Berlin.
werden die größten Opfer gebracht werden und Quellen werden sich öffnen,
die man längst versiegt glaubte!" Als immer noch keine bestimmte Ant-
wort erfolgte, entschloß er sich endlich auf eigene Faust zu handeln, ver-
abredete mit York und Wittgenstein (22. Febr.) das gemeinsame Vorrücken
gegen die Oder. Auch General Borstell, ein gestrenger Mann der alten
militärischen Schule und abgesagter Feind der Scharnhorstischen Refor-
men, begann am Ende einzusehen, daß der blinde Gehorsam in solcher
Lage nicht mehr ausreichte; auch er beschwor den König: "lassen Sie uns
los," schrieb nach England um Geld und Waffen und zeigte schließlich
(27. Febr.) dem Monarchen an, er breche jetzt mit seinen Pommern in
die Neumark auf um mit York und Bülow vereinigt gegen die Haupt-
stadt vorzugehen. In denselben Tagen kehrte Gneisenau zur See aus
England heim, hielt seinen fröhlichen Einzug in Kolberg, der Wiege seines
Ruhms, fest entschlossen die Truppen gradeswegs gegen den Feind zu
führen. Noch nie war die Mannszucht des Heeres auf schwerere Proben
gestellt worden; Alle empfanden es wie eine Erlösung, als endlich York
aus Breslau den Befehl erhielt sich an Wittgenstein anzuschließen und
bald darauf öffentlich von aller Schuld freigesprochen wurde. Am 2. März
überschritt Wittgenstein die Oder, am 10. folgten die Preußen. Das
Kriegsbündniß trat in Kraft.

Und welcher Wirrwarr unterdessen in der Hauptstadt! Da saß noch
immer Goltz mit seiner unglücklichen Regierungscommission, noch immer
ohne jede Kenntniß von den Plänen des Staatskanzlers, unablässig be-
müht durch strenge Verbote die Zusammenrottungen und Aufläufe in der
krampfhaft erregten Stadt niederzuhalten. Der ängstliche Mann wußte
sich kaum mehr zu helfen als der Aufruf an die freiwilligen Jäger er-
schien. Einzelne Vorwitzige fragten wohl: für und gegen wen? Die un-
geheure Mehrzahl durchschaute sofort was der König meinte, in dichten
Schaaren drängten sich die Freiwilligen herbei; der Magistrat nahm die
Sammlungen für die unbemittelten Krieger in seine Hand; Tausende
junger Männer gaben den letzten Linientruppen, die aus Berlin nach
Schlesien abzogen, unter kriegerischen Gesängen das Geleite. Am 20. Fe-
bruar sprengte ein kleiner Trupp Kosaken durch die östlichen Thore herein.
Mehrere Deutsche hatten sich angeschlossen; Einer davon, der junge Alexan-
der von Blomberg fiel hier als des deutschen Krieges erstes Opfer. Mit
Mühe wurden die Massen von einem unzeitigen Straßenkampf abgehalten.
Napoleon begann erst ernstlich besorgt zu werden als er von der Bildung
der Jägerdetachements hörte; sofort befahl er seinem Stiefsohne, der den
Oberbefehl im Nordosten führte, keine weiteren Aushebungen in Preußen
mehr zu dulden: die Stellung in den Marken sollte mit aller Kraft be-
hauptet, Berlin nöthigenfalls verbrannt werden. In der That war Eugen
Beauharnais noch stark genug um den Streitkräften Wittgensteins und
der drei vereinigten preußischen Generale die Spitze zu bieten. Aber den

Ungewißheit in Berlin.
werden die größten Opfer gebracht werden und Quellen werden ſich öffnen,
die man längſt verſiegt glaubte!“ Als immer noch keine beſtimmte Ant-
wort erfolgte, entſchloß er ſich endlich auf eigene Fauſt zu handeln, ver-
abredete mit York und Wittgenſtein (22. Febr.) das gemeinſame Vorrücken
gegen die Oder. Auch General Borſtell, ein geſtrenger Mann der alten
militäriſchen Schule und abgeſagter Feind der Scharnhorſtiſchen Refor-
men, begann am Ende einzuſehen, daß der blinde Gehorſam in ſolcher
Lage nicht mehr ausreichte; auch er beſchwor den König: „laſſen Sie uns
los,“ ſchrieb nach England um Geld und Waffen und zeigte ſchließlich
(27. Febr.) dem Monarchen an, er breche jetzt mit ſeinen Pommern in
die Neumark auf um mit York und Bülow vereinigt gegen die Haupt-
ſtadt vorzugehen. In denſelben Tagen kehrte Gneiſenau zur See aus
England heim, hielt ſeinen fröhlichen Einzug in Kolberg, der Wiege ſeines
Ruhms, feſt entſchloſſen die Truppen gradeswegs gegen den Feind zu
führen. Noch nie war die Mannszucht des Heeres auf ſchwerere Proben
geſtellt worden; Alle empfanden es wie eine Erlöſung, als endlich York
aus Breslau den Befehl erhielt ſich an Wittgenſtein anzuſchließen und
bald darauf öffentlich von aller Schuld freigeſprochen wurde. Am 2. März
überſchritt Wittgenſtein die Oder, am 10. folgten die Preußen. Das
Kriegsbündniß trat in Kraft.

Und welcher Wirrwarr unterdeſſen in der Hauptſtadt! Da ſaß noch
immer Goltz mit ſeiner unglücklichen Regierungscommiſſion, noch immer
ohne jede Kenntniß von den Plänen des Staatskanzlers, unabläſſig be-
müht durch ſtrenge Verbote die Zuſammenrottungen und Aufläufe in der
krampfhaft erregten Stadt niederzuhalten. Der ängſtliche Mann wußte
ſich kaum mehr zu helfen als der Aufruf an die freiwilligen Jäger er-
ſchien. Einzelne Vorwitzige fragten wohl: für und gegen wen? Die un-
geheure Mehrzahl durchſchaute ſofort was der König meinte, in dichten
Schaaren drängten ſich die Freiwilligen herbei; der Magiſtrat nahm die
Sammlungen für die unbemittelten Krieger in ſeine Hand; Tauſende
junger Männer gaben den letzten Linientruppen, die aus Berlin nach
Schleſien abzogen, unter kriegeriſchen Geſängen das Geleite. Am 20. Fe-
bruar ſprengte ein kleiner Trupp Koſaken durch die öſtlichen Thore herein.
Mehrere Deutſche hatten ſich angeſchloſſen; Einer davon, der junge Alexan-
der von Blomberg fiel hier als des deutſchen Krieges erſtes Opfer. Mit
Mühe wurden die Maſſen von einem unzeitigen Straßenkampf abgehalten.
Napoleon begann erſt ernſtlich beſorgt zu werden als er von der Bildung
der Jägerdetachements hörte; ſofort befahl er ſeinem Stiefſohne, der den
Oberbefehl im Nordoſten führte, keine weiteren Aushebungen in Preußen
mehr zu dulden: die Stellung in den Marken ſollte mit aller Kraft be-
hauptet, Berlin nöthigenfalls verbrannt werden. In der That war Eugen
Beauharnais noch ſtark genug um den Streitkräften Wittgenſteins und
der drei vereinigten preußiſchen Generale die Spitze zu bieten. Aber den

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[427/0443] Ungewißheit in Berlin. werden die größten Opfer gebracht werden und Quellen werden ſich öffnen, die man längſt verſiegt glaubte!“ Als immer noch keine beſtimmte Ant- wort erfolgte, entſchloß er ſich endlich auf eigene Fauſt zu handeln, ver- abredete mit York und Wittgenſtein (22. Febr.) das gemeinſame Vorrücken gegen die Oder. Auch General Borſtell, ein geſtrenger Mann der alten militäriſchen Schule und abgeſagter Feind der Scharnhorſtiſchen Refor- men, begann am Ende einzuſehen, daß der blinde Gehorſam in ſolcher Lage nicht mehr ausreichte; auch er beſchwor den König: „laſſen Sie uns los,“ ſchrieb nach England um Geld und Waffen und zeigte ſchließlich (27. Febr.) dem Monarchen an, er breche jetzt mit ſeinen Pommern in die Neumark auf um mit York und Bülow vereinigt gegen die Haupt- ſtadt vorzugehen. In denſelben Tagen kehrte Gneiſenau zur See aus England heim, hielt ſeinen fröhlichen Einzug in Kolberg, der Wiege ſeines Ruhms, feſt entſchloſſen die Truppen gradeswegs gegen den Feind zu führen. Noch nie war die Mannszucht des Heeres auf ſchwerere Proben geſtellt worden; Alle empfanden es wie eine Erlöſung, als endlich York aus Breslau den Befehl erhielt ſich an Wittgenſtein anzuſchließen und bald darauf öffentlich von aller Schuld freigeſprochen wurde. Am 2. März überſchritt Wittgenſtein die Oder, am 10. folgten die Preußen. Das Kriegsbündniß trat in Kraft. Und welcher Wirrwarr unterdeſſen in der Hauptſtadt! Da ſaß noch immer Goltz mit ſeiner unglücklichen Regierungscommiſſion, noch immer ohne jede Kenntniß von den Plänen des Staatskanzlers, unabläſſig be- müht durch ſtrenge Verbote die Zuſammenrottungen und Aufläufe in der krampfhaft erregten Stadt niederzuhalten. Der ängſtliche Mann wußte ſich kaum mehr zu helfen als der Aufruf an die freiwilligen Jäger er- ſchien. Einzelne Vorwitzige fragten wohl: für und gegen wen? Die un- geheure Mehrzahl durchſchaute ſofort was der König meinte, in dichten Schaaren drängten ſich die Freiwilligen herbei; der Magiſtrat nahm die Sammlungen für die unbemittelten Krieger in ſeine Hand; Tauſende junger Männer gaben den letzten Linientruppen, die aus Berlin nach Schleſien abzogen, unter kriegeriſchen Geſängen das Geleite. Am 20. Fe- bruar ſprengte ein kleiner Trupp Koſaken durch die öſtlichen Thore herein. Mehrere Deutſche hatten ſich angeſchloſſen; Einer davon, der junge Alexan- der von Blomberg fiel hier als des deutſchen Krieges erſtes Opfer. Mit Mühe wurden die Maſſen von einem unzeitigen Straßenkampf abgehalten. Napoleon begann erſt ernſtlich beſorgt zu werden als er von der Bildung der Jägerdetachements hörte; ſofort befahl er ſeinem Stiefſohne, der den Oberbefehl im Nordoſten führte, keine weiteren Aushebungen in Preußen mehr zu dulden: die Stellung in den Marken ſollte mit aller Kraft be- hauptet, Berlin nöthigenfalls verbrannt werden. In der That war Eugen Beauharnais noch ſtark genug um den Streitkräften Wittgenſteins und der drei vereinigten preußiſchen Generale die Spitze zu bieten. Aber den

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/443>, abgerufen am 22.11.2024.