Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

I. 4. Der Befreiungskrieg.
Warschau, so hatte die Frage, wie weit das preußische Gebiet sich ostwärts
erstrecken sollte, nur noch geringe Bedeutung; denn westlich von Warschau
bot weder die Prosna noch die Warthalinie eine gesicherte natürliche Grenze.
Eine Ostgrenze, welche den preußischen Staat zugleich militärisch gesichert
und vor einer allzu starken Beimischung fremdartigen Volksthums be-
wahrt hätte, ließ sich schlechterdings nicht finden. Man mußte den Muth
haben, sich diese unbequeme Wahrheit einzugestehen, und man durfte die
militärischen Bedenken dann den Erwägungen der nationalen Politik opfern,
wenn die mittleren Weichsellande in Rußlands Hände kamen. Der russische
Staat war für Preußen unzweifelhaft ein weniger lästiger Nachbar als
weiland die polnische Republik, er war nicht wie diese durch uralten Haß
dem preußischen Volke verfeindet, nicht wie diese durch das Gebot der
Selbsterhaltung gezwungen nach der Eroberung von Altpreußen zu trachten.
Das weite Reich, das schon so viele andere Häfen besaß, konnte zur Roth
ohne den Besitz der Weichselmündungen bestehen, wie Deutschland ohne
das Rheindelta, Oesterreich ohne die Donaumündung bestehen kann. Kamen
Warschau und Masovien unter Rußlands Herrschaft, so wurden voraus-
sichtlich die Handelsinteressen von Altpreußen wie von Russisch-Polen schwer
geschädigt; dennoch konnte die neue Ländervertheilung dauern, ein leidliches
nachbarliches Verhältniß zwischen Preußen und Rußland war nicht un-
möglich. Alle Mißstände an der Ostgrenze wurden reichlich aufgewogen,
wenn Preußen auf deutschem Boden eine wohlgesicherte Abrundung erlangte.

In der That sah Hardenberg ein, daß irgend ein Zugeständniß an
die russischen Wünsche unvermeidlich war, und beauftragte seinen Unter-
händler nöthigenfalls das vormalige Neu-Ostpreußen dem Czaren preis-
zugeben. Oberst Knesebeck aber dachte anders, ging eigenmächtig über seine
Instructionen hinaus. Der gelehrte, vielerfahrene Offizier hatte einst die
Ideale der Revolution mit Frohlocken begrüßt und war auch in späteren
Jahren keineswegs so hart reactionär gesinnt wie man ihm nachsagte; von
den Grundgedanken der alten diplomatisch-militärischen Schule ist er gleich-
wohl niemals losgekommen. Er sah nach der Weise des achtzehnten Jahr-
hunderts in jeder Nachbarmacht schlechtweg den natürlichen Feind des
Nachbars. Wie er im Felde die Landkarte unablässig durchforschte, von
dem Besitze beherrschender Plateaus und Bergrücken entscheidende kriege-
rische Erfolge erwartete, so hatte er sich auch bei der Lampe ein Bild der
europäischen Waage, eine neue allen Forderungen des Gleichgewichts ent-
sprechende Karte von Europa niedergezeichnet und hielt daran mit doctri-
närem Selbstgefühle fest. Ein Jahr darauf stellte er*) für die neue Ge-
bietsvertheilung drei leitende Gesichtspunkte auf: "daß der West sein Ueber-
gewicht verliere, daß das Centrum wieder Gewicht bekomme, und daß der
Ost nicht in die Fehler des West verfalle." Darum muß der preußische

*) Knesebecks Denkschrift an Hardenberg, Freiburg 7. Januar 1814.

I. 4. Der Befreiungskrieg.
Warſchau, ſo hatte die Frage, wie weit das preußiſche Gebiet ſich oſtwärts
erſtrecken ſollte, nur noch geringe Bedeutung; denn weſtlich von Warſchau
bot weder die Prosna noch die Warthalinie eine geſicherte natürliche Grenze.
Eine Oſtgrenze, welche den preußiſchen Staat zugleich militäriſch geſichert
und vor einer allzu ſtarken Beimiſchung fremdartigen Volksthums be-
wahrt hätte, ließ ſich ſchlechterdings nicht finden. Man mußte den Muth
haben, ſich dieſe unbequeme Wahrheit einzugeſtehen, und man durfte die
militäriſchen Bedenken dann den Erwägungen der nationalen Politik opfern,
wenn die mittleren Weichſellande in Rußlands Hände kamen. Der ruſſiſche
Staat war für Preußen unzweifelhaft ein weniger läſtiger Nachbar als
weiland die polniſche Republik, er war nicht wie dieſe durch uralten Haß
dem preußiſchen Volke verfeindet, nicht wie dieſe durch das Gebot der
Selbſterhaltung gezwungen nach der Eroberung von Altpreußen zu trachten.
Das weite Reich, das ſchon ſo viele andere Häfen beſaß, konnte zur Roth
ohne den Beſitz der Weichſelmündungen beſtehen, wie Deutſchland ohne
das Rheindelta, Oeſterreich ohne die Donaumündung beſtehen kann. Kamen
Warſchau und Maſovien unter Rußlands Herrſchaft, ſo wurden voraus-
ſichtlich die Handelsintereſſen von Altpreußen wie von Ruſſiſch-Polen ſchwer
geſchädigt; dennoch konnte die neue Ländervertheilung dauern, ein leidliches
nachbarliches Verhältniß zwiſchen Preußen und Rußland war nicht un-
möglich. Alle Mißſtände an der Oſtgrenze wurden reichlich aufgewogen,
wenn Preußen auf deutſchem Boden eine wohlgeſicherte Abrundung erlangte.

In der That ſah Hardenberg ein, daß irgend ein Zugeſtändniß an
die ruſſiſchen Wünſche unvermeidlich war, und beauftragte ſeinen Unter-
händler nöthigenfalls das vormalige Neu-Oſtpreußen dem Czaren preis-
zugeben. Oberſt Kneſebeck aber dachte anders, ging eigenmächtig über ſeine
Inſtructionen hinaus. Der gelehrte, vielerfahrene Offizier hatte einſt die
Ideale der Revolution mit Frohlocken begrüßt und war auch in ſpäteren
Jahren keineswegs ſo hart reactionär geſinnt wie man ihm nachſagte; von
den Grundgedanken der alten diplomatiſch-militäriſchen Schule iſt er gleich-
wohl niemals losgekommen. Er ſah nach der Weiſe des achtzehnten Jahr-
hunderts in jeder Nachbarmacht ſchlechtweg den natürlichen Feind des
Nachbars. Wie er im Felde die Landkarte unabläſſig durchforſchte, von
dem Beſitze beherrſchender Plateaus und Bergrücken entſcheidende kriege-
riſche Erfolge erwartete, ſo hatte er ſich auch bei der Lampe ein Bild der
europäiſchen Waage, eine neue allen Forderungen des Gleichgewichts ent-
ſprechende Karte von Europa niedergezeichnet und hielt daran mit doctri-
närem Selbſtgefühle feſt. Ein Jahr darauf ſtellte er*) für die neue Ge-
bietsvertheilung drei leitende Geſichtspunkte auf: „daß der Weſt ſein Ueber-
gewicht verliere, daß das Centrum wieder Gewicht bekomme, und daß der
Oſt nicht in die Fehler des Weſt verfalle.“ Darum muß der preußiſche

*) Kneſebecks Denkſchrift an Hardenberg, Freiburg 7. Januar 1814.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0438" n="422"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> 4. Der Befreiungskrieg.</fw><lb/>
War&#x017F;chau, &#x017F;o hatte die Frage, wie weit das preußi&#x017F;che Gebiet &#x017F;ich o&#x017F;twärts<lb/>
er&#x017F;trecken &#x017F;ollte, nur noch geringe Bedeutung; denn we&#x017F;tlich von War&#x017F;chau<lb/>
bot weder die Prosna noch die Warthalinie eine ge&#x017F;icherte natürliche Grenze.<lb/>
Eine O&#x017F;tgrenze, welche den preußi&#x017F;chen Staat zugleich militäri&#x017F;ch ge&#x017F;ichert<lb/>
und vor einer allzu &#x017F;tarken Beimi&#x017F;chung fremdartigen Volksthums be-<lb/>
wahrt hätte, ließ &#x017F;ich &#x017F;chlechterdings nicht finden. Man mußte den Muth<lb/>
haben, &#x017F;ich die&#x017F;e unbequeme Wahrheit einzuge&#x017F;tehen, und man durfte die<lb/>
militäri&#x017F;chen Bedenken dann den Erwägungen der nationalen Politik opfern,<lb/>
wenn die mittleren Weich&#x017F;ellande in Rußlands Hände kamen. Der ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;che<lb/>
Staat war für Preußen unzweifelhaft ein weniger lä&#x017F;tiger Nachbar als<lb/>
weiland die polni&#x017F;che Republik, er war nicht wie die&#x017F;e durch uralten Haß<lb/>
dem preußi&#x017F;chen Volke verfeindet, nicht wie die&#x017F;e durch das Gebot der<lb/>
Selb&#x017F;terhaltung gezwungen nach der Eroberung von Altpreußen zu trachten.<lb/>
Das weite Reich, das &#x017F;chon &#x017F;o viele andere Häfen be&#x017F;aß, konnte zur Roth<lb/>
ohne den Be&#x017F;itz der Weich&#x017F;elmündungen be&#x017F;tehen, wie Deut&#x017F;chland ohne<lb/>
das Rheindelta, Oe&#x017F;terreich ohne die Donaumündung be&#x017F;tehen kann. Kamen<lb/>
War&#x017F;chau und Ma&#x017F;ovien unter Rußlands Herr&#x017F;chaft, &#x017F;o wurden voraus-<lb/>
&#x017F;ichtlich die Handelsintere&#x017F;&#x017F;en von Altpreußen wie von Ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;ch-Polen &#x017F;chwer<lb/>
ge&#x017F;chädigt; dennoch konnte die neue Ländervertheilung dauern, ein leidliches<lb/>
nachbarliches Verhältniß zwi&#x017F;chen Preußen und Rußland war nicht un-<lb/>
möglich. Alle Miß&#x017F;tände an der O&#x017F;tgrenze wurden reichlich aufgewogen,<lb/>
wenn Preußen auf deut&#x017F;chem Boden eine wohlge&#x017F;icherte Abrundung erlangte.</p><lb/>
            <p>In der That &#x017F;ah Hardenberg ein, daß irgend ein Zuge&#x017F;tändniß an<lb/>
die ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Wün&#x017F;che unvermeidlich war, und beauftragte &#x017F;einen Unter-<lb/>
händler nöthigenfalls das vormalige Neu-O&#x017F;tpreußen dem Czaren preis-<lb/>
zugeben. Ober&#x017F;t Kne&#x017F;ebeck aber dachte anders, ging eigenmächtig über &#x017F;eine<lb/>
In&#x017F;tructionen hinaus. Der gelehrte, vielerfahrene Offizier hatte ein&#x017F;t die<lb/>
Ideale der Revolution mit Frohlocken begrüßt und war auch in &#x017F;päteren<lb/>
Jahren keineswegs &#x017F;o hart reactionär ge&#x017F;innt wie man ihm nach&#x017F;agte; von<lb/>
den Grundgedanken der alten diplomati&#x017F;ch-militäri&#x017F;chen Schule i&#x017F;t er gleich-<lb/>
wohl niemals losgekommen. Er &#x017F;ah nach der Wei&#x017F;e des achtzehnten Jahr-<lb/>
hunderts in jeder Nachbarmacht &#x017F;chlechtweg den natürlichen Feind des<lb/>
Nachbars. Wie er im Felde die Landkarte unablä&#x017F;&#x017F;ig durchfor&#x017F;chte, von<lb/>
dem Be&#x017F;itze beherr&#x017F;chender Plateaus und Bergrücken ent&#x017F;cheidende kriege-<lb/>
ri&#x017F;che Erfolge erwartete, &#x017F;o hatte er &#x017F;ich auch bei der Lampe ein Bild der<lb/>
europäi&#x017F;chen Waage, eine neue allen Forderungen des Gleichgewichts ent-<lb/>
&#x017F;prechende Karte von Europa niedergezeichnet und hielt daran mit doctri-<lb/>
närem Selb&#x017F;tgefühle fe&#x017F;t. Ein Jahr darauf &#x017F;tellte er<note place="foot" n="*)">Kne&#x017F;ebecks Denk&#x017F;chrift an Hardenberg, Freiburg 7. Januar 1814.</note> für die neue Ge-<lb/>
bietsvertheilung drei leitende Ge&#x017F;ichtspunkte auf: &#x201E;daß der We&#x017F;t &#x017F;ein Ueber-<lb/>
gewicht verliere, daß das Centrum wieder Gewicht bekomme, und daß der<lb/>
O&#x017F;t nicht in die Fehler des We&#x017F;t verfalle.&#x201C; Darum muß der preußi&#x017F;che<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[422/0438] I. 4. Der Befreiungskrieg. Warſchau, ſo hatte die Frage, wie weit das preußiſche Gebiet ſich oſtwärts erſtrecken ſollte, nur noch geringe Bedeutung; denn weſtlich von Warſchau bot weder die Prosna noch die Warthalinie eine geſicherte natürliche Grenze. Eine Oſtgrenze, welche den preußiſchen Staat zugleich militäriſch geſichert und vor einer allzu ſtarken Beimiſchung fremdartigen Volksthums be- wahrt hätte, ließ ſich ſchlechterdings nicht finden. Man mußte den Muth haben, ſich dieſe unbequeme Wahrheit einzugeſtehen, und man durfte die militäriſchen Bedenken dann den Erwägungen der nationalen Politik opfern, wenn die mittleren Weichſellande in Rußlands Hände kamen. Der ruſſiſche Staat war für Preußen unzweifelhaft ein weniger läſtiger Nachbar als weiland die polniſche Republik, er war nicht wie dieſe durch uralten Haß dem preußiſchen Volke verfeindet, nicht wie dieſe durch das Gebot der Selbſterhaltung gezwungen nach der Eroberung von Altpreußen zu trachten. Das weite Reich, das ſchon ſo viele andere Häfen beſaß, konnte zur Roth ohne den Beſitz der Weichſelmündungen beſtehen, wie Deutſchland ohne das Rheindelta, Oeſterreich ohne die Donaumündung beſtehen kann. Kamen Warſchau und Maſovien unter Rußlands Herrſchaft, ſo wurden voraus- ſichtlich die Handelsintereſſen von Altpreußen wie von Ruſſiſch-Polen ſchwer geſchädigt; dennoch konnte die neue Ländervertheilung dauern, ein leidliches nachbarliches Verhältniß zwiſchen Preußen und Rußland war nicht un- möglich. Alle Mißſtände an der Oſtgrenze wurden reichlich aufgewogen, wenn Preußen auf deutſchem Boden eine wohlgeſicherte Abrundung erlangte. In der That ſah Hardenberg ein, daß irgend ein Zugeſtändniß an die ruſſiſchen Wünſche unvermeidlich war, und beauftragte ſeinen Unter- händler nöthigenfalls das vormalige Neu-Oſtpreußen dem Czaren preis- zugeben. Oberſt Kneſebeck aber dachte anders, ging eigenmächtig über ſeine Inſtructionen hinaus. Der gelehrte, vielerfahrene Offizier hatte einſt die Ideale der Revolution mit Frohlocken begrüßt und war auch in ſpäteren Jahren keineswegs ſo hart reactionär geſinnt wie man ihm nachſagte; von den Grundgedanken der alten diplomatiſch-militäriſchen Schule iſt er gleich- wohl niemals losgekommen. Er ſah nach der Weiſe des achtzehnten Jahr- hunderts in jeder Nachbarmacht ſchlechtweg den natürlichen Feind des Nachbars. Wie er im Felde die Landkarte unabläſſig durchforſchte, von dem Beſitze beherrſchender Plateaus und Bergrücken entſcheidende kriege- riſche Erfolge erwartete, ſo hatte er ſich auch bei der Lampe ein Bild der europäiſchen Waage, eine neue allen Forderungen des Gleichgewichts ent- ſprechende Karte von Europa niedergezeichnet und hielt daran mit doctri- närem Selbſtgefühle feſt. Ein Jahr darauf ſtellte er *) für die neue Ge- bietsvertheilung drei leitende Geſichtspunkte auf: „daß der Weſt ſein Ueber- gewicht verliere, daß das Centrum wieder Gewicht bekomme, und daß der Oſt nicht in die Fehler des Weſt verfalle.“ Darum muß der preußiſche *) Kneſebecks Denkſchrift an Hardenberg, Freiburg 7. Januar 1814.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/438
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 422. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/438>, abgerufen am 22.11.2024.