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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 4. Der Befreiungskrieg.
einem unbekannten Lande, da er überall nur Treue, Hingebung, Tapfer-
keit, nirgends mehr eine Spur der alten Schlaffheit fand, und sein ehr-
liches Gemüth bat dem norddeutschen Volke die ungerechten Vorwürfe
vergangener Tage ab. Er versicherte bestimmt, der Zweck der russischen
Heere sei nicht Eroberung, sondern Wiederherstellung der Selbständigkeit
Deutschlands und Preußens, doch forderte er seine Landsleute auf, "in
Hinsicht der Größe des Zweckes und der Reinheit der Gesinnungen" über
Formbedenken hinwegzusehen. Das Land wurde sofort als thatsächlich
mit Rußland verbündet behandelt, die Oeffnung der Häfen und die Auf-
hebung der Continentalsperre angeordnet, eine Anleihe bei der Kaufmann-
schaft der Hafenstädte aufgenommen, die baare Bezahlung aller Lieferungen
mit russischem Papiergelde befohlen.

Zugleich verhandelte Stein mit York, Schoen und den Provinzialbehör-
den über die Anstalten zur Volksbewaffnung; Clausewitz, der mit seinen
Russen im Lande stand, erhielt Befehl, den Entwurf eines Landwehrgesetzes
auszuarbeiten. Ein Landtag wurde ausgeschrieben -- oder vielmehr nur eine
formlose "Versammlung" der ständischen Deputirten, da der gewissenhafte
Präsident Auerswald Bedenken trug, in die Rechte der Krone einzugreifen.
Schoen lehnte behutsam den Vorsitz ab. Am 5. Februar begannen jene an-
spruchslosen und doch so folgenschweren Verhandlungen des Königsberger
Landtags, mit denen die Colonie des deutschen Mittelalters dem großen
Vaterlande die Schuld des Dankes hochherzig heimzahlte. Kurz und gut,
nach alter Preußenweise ohne Redeprunk und Lärm, ward das Nothwendige
beschlossen. Graf Alexander Dohna war der Führer des Adels: der würdige
Mann mochte jetzt an sich selber und seiner Provinz lernen, wie schwer er
einst geirrt, da er als Minister seinen Landsleuten die Fähigkeit zum consti-
tutionellen Leben absprach. An der Spitze der Bürgerlichen stand der Königs-
berger Bürgermeister Heidemann. York selbst erschien und legte einem
Ausschusse der Stände das Landwehrgesetz vor, das der Lieblingsschüler
Scharnhorsts, selbstverständlich ganz nach den Ideen des Meisters, im
Wesentlichen übereinstimmend mit den Plänen von 1811, entworfen hatte;
und so geschah das Seltsame, daß die Ostpreußen eigenmächtig die näm-
lichen Gedanken vorausnahmen, welche Scharnhorst um dieselbe Zeit in
Breslau für den König niederschrieb. Nicht in Allem freilich konnten
diese wohlmeinenden Vertreter der bürgerlichen Interessen an die kühnen
Entwürfe des militärischen Organisators hinanreichen. Auf den Wunsch
der Städte gestattete der Landtag die Stellvertretung, während gleichzeitig
in Breslau die Aufhebung aller Befreiungen von der Wehrpflicht aus-
gesprochen wurde. Auch sollte die ostpreußische Landwehr nur eine Pro-
vinzialarmee sein, ausschließlich zur unmittelbaren Vertheidigung der Lande
diesseits der Weichsel verpflichtet; die Bataillonsführer mußten in der Pro-
vinz angesessen sein, eine ständische Generalcommission übernahm die Lei-
tung der gesammten Rüstungen.

I. 4. Der Befreiungskrieg.
einem unbekannten Lande, da er überall nur Treue, Hingebung, Tapfer-
keit, nirgends mehr eine Spur der alten Schlaffheit fand, und ſein ehr-
liches Gemüth bat dem norddeutſchen Volke die ungerechten Vorwürfe
vergangener Tage ab. Er verſicherte beſtimmt, der Zweck der ruſſiſchen
Heere ſei nicht Eroberung, ſondern Wiederherſtellung der Selbſtändigkeit
Deutſchlands und Preußens, doch forderte er ſeine Landsleute auf, „in
Hinſicht der Größe des Zweckes und der Reinheit der Geſinnungen“ über
Formbedenken hinwegzuſehen. Das Land wurde ſofort als thatſächlich
mit Rußland verbündet behandelt, die Oeffnung der Häfen und die Auf-
hebung der Continentalſperre angeordnet, eine Anleihe bei der Kaufmann-
ſchaft der Hafenſtädte aufgenommen, die baare Bezahlung aller Lieferungen
mit ruſſiſchem Papiergelde befohlen.

Zugleich verhandelte Stein mit York, Schoen und den Provinzialbehör-
den über die Anſtalten zur Volksbewaffnung; Clauſewitz, der mit ſeinen
Ruſſen im Lande ſtand, erhielt Befehl, den Entwurf eines Landwehrgeſetzes
auszuarbeiten. Ein Landtag wurde ausgeſchrieben — oder vielmehr nur eine
formloſe „Verſammlung“ der ſtändiſchen Deputirten, da der gewiſſenhafte
Präſident Auerswald Bedenken trug, in die Rechte der Krone einzugreifen.
Schoen lehnte behutſam den Vorſitz ab. Am 5. Februar begannen jene an-
ſpruchsloſen und doch ſo folgenſchweren Verhandlungen des Königsberger
Landtags, mit denen die Colonie des deutſchen Mittelalters dem großen
Vaterlande die Schuld des Dankes hochherzig heimzahlte. Kurz und gut,
nach alter Preußenweiſe ohne Redeprunk und Lärm, ward das Nothwendige
beſchloſſen. Graf Alexander Dohna war der Führer des Adels: der würdige
Mann mochte jetzt an ſich ſelber und ſeiner Provinz lernen, wie ſchwer er
einſt geirrt, da er als Miniſter ſeinen Landsleuten die Fähigkeit zum conſti-
tutionellen Leben abſprach. An der Spitze der Bürgerlichen ſtand der Königs-
berger Bürgermeiſter Heidemann. York ſelbſt erſchien und legte einem
Ausſchuſſe der Stände das Landwehrgeſetz vor, das der Lieblingsſchüler
Scharnhorſts, ſelbſtverſtändlich ganz nach den Ideen des Meiſters, im
Weſentlichen übereinſtimmend mit den Plänen von 1811, entworfen hatte;
und ſo geſchah das Seltſame, daß die Oſtpreußen eigenmächtig die näm-
lichen Gedanken vorausnahmen, welche Scharnhorſt um dieſelbe Zeit in
Breslau für den König niederſchrieb. Nicht in Allem freilich konnten
dieſe wohlmeinenden Vertreter der bürgerlichen Intereſſen an die kühnen
Entwürfe des militäriſchen Organiſators hinanreichen. Auf den Wunſch
der Städte geſtattete der Landtag die Stellvertretung, während gleichzeitig
in Breslau die Aufhebung aller Befreiungen von der Wehrpflicht aus-
geſprochen wurde. Auch ſollte die oſtpreußiſche Landwehr nur eine Pro-
vinzialarmee ſein, ausſchließlich zur unmittelbaren Vertheidigung der Lande
dieſſeits der Weichſel verpflichtet; die Bataillonsführer mußten in der Pro-
vinz angeſeſſen ſein, eine ſtändiſche Generalcommiſſion übernahm die Lei-
tung der geſammten Rüſtungen.

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[418/0434] I. 4. Der Befreiungskrieg. einem unbekannten Lande, da er überall nur Treue, Hingebung, Tapfer- keit, nirgends mehr eine Spur der alten Schlaffheit fand, und ſein ehr- liches Gemüth bat dem norddeutſchen Volke die ungerechten Vorwürfe vergangener Tage ab. Er verſicherte beſtimmt, der Zweck der ruſſiſchen Heere ſei nicht Eroberung, ſondern Wiederherſtellung der Selbſtändigkeit Deutſchlands und Preußens, doch forderte er ſeine Landsleute auf, „in Hinſicht der Größe des Zweckes und der Reinheit der Geſinnungen“ über Formbedenken hinwegzuſehen. Das Land wurde ſofort als thatſächlich mit Rußland verbündet behandelt, die Oeffnung der Häfen und die Auf- hebung der Continentalſperre angeordnet, eine Anleihe bei der Kaufmann- ſchaft der Hafenſtädte aufgenommen, die baare Bezahlung aller Lieferungen mit ruſſiſchem Papiergelde befohlen. Zugleich verhandelte Stein mit York, Schoen und den Provinzialbehör- den über die Anſtalten zur Volksbewaffnung; Clauſewitz, der mit ſeinen Ruſſen im Lande ſtand, erhielt Befehl, den Entwurf eines Landwehrgeſetzes auszuarbeiten. Ein Landtag wurde ausgeſchrieben — oder vielmehr nur eine formloſe „Verſammlung“ der ſtändiſchen Deputirten, da der gewiſſenhafte Präſident Auerswald Bedenken trug, in die Rechte der Krone einzugreifen. Schoen lehnte behutſam den Vorſitz ab. Am 5. Februar begannen jene an- ſpruchsloſen und doch ſo folgenſchweren Verhandlungen des Königsberger Landtags, mit denen die Colonie des deutſchen Mittelalters dem großen Vaterlande die Schuld des Dankes hochherzig heimzahlte. Kurz und gut, nach alter Preußenweiſe ohne Redeprunk und Lärm, ward das Nothwendige beſchloſſen. Graf Alexander Dohna war der Führer des Adels: der würdige Mann mochte jetzt an ſich ſelber und ſeiner Provinz lernen, wie ſchwer er einſt geirrt, da er als Miniſter ſeinen Landsleuten die Fähigkeit zum conſti- tutionellen Leben abſprach. An der Spitze der Bürgerlichen ſtand der Königs- berger Bürgermeiſter Heidemann. York ſelbſt erſchien und legte einem Ausſchuſſe der Stände das Landwehrgeſetz vor, das der Lieblingsſchüler Scharnhorſts, ſelbſtverſtändlich ganz nach den Ideen des Meiſters, im Weſentlichen übereinſtimmend mit den Plänen von 1811, entworfen hatte; und ſo geſchah das Seltſame, daß die Oſtpreußen eigenmächtig die näm- lichen Gedanken vorausnahmen, welche Scharnhorſt um dieſelbe Zeit in Breslau für den König niederſchrieb. Nicht in Allem freilich konnten dieſe wohlmeinenden Vertreter der bürgerlichen Intereſſen an die kühnen Entwürfe des militäriſchen Organiſators hinanreichen. Auf den Wunſch der Städte geſtattete der Landtag die Stellvertretung, während gleichzeitig in Breslau die Aufhebung aller Befreiungen von der Wehrpflicht aus- geſprochen wurde. Auch ſollte die oſtpreußiſche Landwehr nur eine Pro- vinzialarmee ſein, ausſchließlich zur unmittelbaren Vertheidigung der Lande dieſſeits der Weichſel verpflichtet; die Bataillonsführer mußten in der Pro- vinz angeſeſſen ſein, eine ſtändiſche Generalcommiſſion übernahm die Lei- tung der geſammten Rüſtungen.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 418. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/434>, abgerufen am 25.11.2024.