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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 4. Der Befreiungskrieg.
Rußland die Weichsel und Oder überschreiten, den Krieg mit ganzer
Kraft fortführen wolle. Der Czar strahlte von Zuversicht: der König
allein könne Europa retten oder für immer verderben. Er ging auf Alles
freudig ein, versprach sogleich 10 -- 15,000 Mann gegen die Oder zu
senden und schätzte die Truppen, die bald nachkommen sollten, auf
100,000 Mann. Erst am 20. Januar langte Natzmer auf weiten Um-
wegen wieder bei dem Staatskanzler an, da Eugen Beauharnais Verdacht
geschöpft und seinen Truppen befohlen hatte, den Adjutanten seines könig-
lichen Bundesgenossen gefangen zu nehmen.

Sofort nach der Rückkehr des Unterhändlers wurden die Vorbe-
reitungen getroffen für die Abreise des Königs nach Breslau und zu-
gleich befohlen, daß alle irgend kriegsfähigen Cadetten nach Schlesien
abgehen sollten. Der alte Commandeur der Pflanzschule des Offiziers-
corps wußte sich gar nicht mehr zu helfen in der wilden Zeit. Die
ganzen Weihnachtsferien über hatten seine Jungen gezecht und gejubelt
in einem ununterbrochenen Siegesfeste von wegen der Nachrichten aus
Rußland. Nun fuhren die Großen glückselig in mächtigen Korbwagen
die hartgefrorenen Straßen dahin, den schlesischen Bergen zu; die Kleinen
aber, die traurig im Hause blieben, legten ihr Taschengeld zusammen für
den heiligen Krieg, denn Niemand zweifelte, wem es galt. Am 21. Ja-
nuar feierte das königliche Haus die Confirmation des Kronprinzen. Wie
viele herrliche, ach so bitter getäuschte Hoffnungen hingen damals an dem
reichbegabten, geistsprühenden Jüngling! Kein Auge blieb thränenleer; Allen
war, als ob der Schatten der verklärten Königin unter ihren Kindern
erschiene, während das bedeutungsvolle Bekenntniß des Thronfolgers ver-
lesen wurde: "Fest und ruhig glaube ich an den, der zum Uebermuthe
spricht: hier sollen sich legen deine stolzen Wellen! Das Morgenroth
eines besseren Tages bricht an." Zwei Tage darauf reiste der König
plötzlich nach Breslau ab, und hier, endlich wieder auf freiem preußischen
Boden, nicht mehr den Handstreichen französischer Truppen ausgesetzt,
konnte er etwas offener auftreten.

Schlag auf Schlag folgten die Befehle zur Einleitung der kriege-
rischen Action. In seinen finanziellen Maßregeln war der Staatskanzler
freilich auch jetzt wieder unglücklich; ein Versuch den entwertheten Tresor-
scheinen durch den Zwangscurs aufzuhelfen mußte schon nach wenigen
Wochen zurückgenommen werden. Um so fester und sicherer schritten die
Rüstungen vorwärts. Der König bildete ein "Comite zur Verstärkung
der Armee", berief dazu Hardenberg, den Kriegsminister Hacke und Scharn-
horst, dessen Name schon allen Kundigen sagte, daß es nunmehr ganzer,
schwerer Ernst war. Mit Feuereifer ging der geistreiche Hippel, dem der
Staatskanzler die Militärsachen übertrug, auf die Entwürfe des Generals
ein. Der Waffenschmied der deutschen Freiheit sah nun endlich seine
Saaten aufgehen; seine Kräfte schienen verdoppelt, sein ganzes Wesen

I. 4. Der Befreiungskrieg.
Rußland die Weichſel und Oder überſchreiten, den Krieg mit ganzer
Kraft fortführen wolle. Der Czar ſtrahlte von Zuverſicht: der König
allein könne Europa retten oder für immer verderben. Er ging auf Alles
freudig ein, verſprach ſogleich 10 — 15,000 Mann gegen die Oder zu
ſenden und ſchätzte die Truppen, die bald nachkommen ſollten, auf
100,000 Mann. Erſt am 20. Januar langte Natzmer auf weiten Um-
wegen wieder bei dem Staatskanzler an, da Eugen Beauharnais Verdacht
geſchöpft und ſeinen Truppen befohlen hatte, den Adjutanten ſeines könig-
lichen Bundesgenoſſen gefangen zu nehmen.

Sofort nach der Rückkehr des Unterhändlers wurden die Vorbe-
reitungen getroffen für die Abreiſe des Königs nach Breslau und zu-
gleich befohlen, daß alle irgend kriegsfähigen Cadetten nach Schleſien
abgehen ſollten. Der alte Commandeur der Pflanzſchule des Offiziers-
corps wußte ſich gar nicht mehr zu helfen in der wilden Zeit. Die
ganzen Weihnachtsferien über hatten ſeine Jungen gezecht und gejubelt
in einem ununterbrochenen Siegesfeſte von wegen der Nachrichten aus
Rußland. Nun fuhren die Großen glückſelig in mächtigen Korbwagen
die hartgefrorenen Straßen dahin, den ſchleſiſchen Bergen zu; die Kleinen
aber, die traurig im Hauſe blieben, legten ihr Taſchengeld zuſammen für
den heiligen Krieg, denn Niemand zweifelte, wem es galt. Am 21. Ja-
nuar feierte das königliche Haus die Confirmation des Kronprinzen. Wie
viele herrliche, ach ſo bitter getäuſchte Hoffnungen hingen damals an dem
reichbegabten, geiſtſprühenden Jüngling! Kein Auge blieb thränenleer; Allen
war, als ob der Schatten der verklärten Königin unter ihren Kindern
erſchiene, während das bedeutungsvolle Bekenntniß des Thronfolgers ver-
leſen wurde: „Feſt und ruhig glaube ich an den, der zum Uebermuthe
ſpricht: hier ſollen ſich legen deine ſtolzen Wellen! Das Morgenroth
eines beſſeren Tages bricht an.“ Zwei Tage darauf reiſte der König
plötzlich nach Breslau ab, und hier, endlich wieder auf freiem preußiſchen
Boden, nicht mehr den Handſtreichen franzöſiſcher Truppen ausgeſetzt,
konnte er etwas offener auftreten.

Schlag auf Schlag folgten die Befehle zur Einleitung der kriege-
riſchen Action. In ſeinen finanziellen Maßregeln war der Staatskanzler
freilich auch jetzt wieder unglücklich; ein Verſuch den entwertheten Treſor-
ſcheinen durch den Zwangscurs aufzuhelfen mußte ſchon nach wenigen
Wochen zurückgenommen werden. Um ſo feſter und ſicherer ſchritten die
Rüſtungen vorwärts. Der König bildete ein „Comité zur Verſtärkung
der Armee“, berief dazu Hardenberg, den Kriegsminiſter Hacke und Scharn-
horſt, deſſen Name ſchon allen Kundigen ſagte, daß es nunmehr ganzer,
ſchwerer Ernſt war. Mit Feuereifer ging der geiſtreiche Hippel, dem der
Staatskanzler die Militärſachen übertrug, auf die Entwürfe des Generals
ein. Der Waffenſchmied der deutſchen Freiheit ſah nun endlich ſeine
Saaten aufgehen; ſeine Kräfte ſchienen verdoppelt, ſein ganzes Weſen

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[414/0430] I. 4. Der Befreiungskrieg. Rußland die Weichſel und Oder überſchreiten, den Krieg mit ganzer Kraft fortführen wolle. Der Czar ſtrahlte von Zuverſicht: der König allein könne Europa retten oder für immer verderben. Er ging auf Alles freudig ein, verſprach ſogleich 10 — 15,000 Mann gegen die Oder zu ſenden und ſchätzte die Truppen, die bald nachkommen ſollten, auf 100,000 Mann. Erſt am 20. Januar langte Natzmer auf weiten Um- wegen wieder bei dem Staatskanzler an, da Eugen Beauharnais Verdacht geſchöpft und ſeinen Truppen befohlen hatte, den Adjutanten ſeines könig- lichen Bundesgenoſſen gefangen zu nehmen. Sofort nach der Rückkehr des Unterhändlers wurden die Vorbe- reitungen getroffen für die Abreiſe des Königs nach Breslau und zu- gleich befohlen, daß alle irgend kriegsfähigen Cadetten nach Schleſien abgehen ſollten. Der alte Commandeur der Pflanzſchule des Offiziers- corps wußte ſich gar nicht mehr zu helfen in der wilden Zeit. Die ganzen Weihnachtsferien über hatten ſeine Jungen gezecht und gejubelt in einem ununterbrochenen Siegesfeſte von wegen der Nachrichten aus Rußland. Nun fuhren die Großen glückſelig in mächtigen Korbwagen die hartgefrorenen Straßen dahin, den ſchleſiſchen Bergen zu; die Kleinen aber, die traurig im Hauſe blieben, legten ihr Taſchengeld zuſammen für den heiligen Krieg, denn Niemand zweifelte, wem es galt. Am 21. Ja- nuar feierte das königliche Haus die Confirmation des Kronprinzen. Wie viele herrliche, ach ſo bitter getäuſchte Hoffnungen hingen damals an dem reichbegabten, geiſtſprühenden Jüngling! Kein Auge blieb thränenleer; Allen war, als ob der Schatten der verklärten Königin unter ihren Kindern erſchiene, während das bedeutungsvolle Bekenntniß des Thronfolgers ver- leſen wurde: „Feſt und ruhig glaube ich an den, der zum Uebermuthe ſpricht: hier ſollen ſich legen deine ſtolzen Wellen! Das Morgenroth eines beſſeren Tages bricht an.“ Zwei Tage darauf reiſte der König plötzlich nach Breslau ab, und hier, endlich wieder auf freiem preußiſchen Boden, nicht mehr den Handſtreichen franzöſiſcher Truppen ausgeſetzt, konnte er etwas offener auftreten. Schlag auf Schlag folgten die Befehle zur Einleitung der kriege- riſchen Action. In ſeinen finanziellen Maßregeln war der Staatskanzler freilich auch jetzt wieder unglücklich; ein Verſuch den entwertheten Treſor- ſcheinen durch den Zwangscurs aufzuhelfen mußte ſchon nach wenigen Wochen zurückgenommen werden. Um ſo feſter und ſicherer ſchritten die Rüſtungen vorwärts. Der König bildete ein „Comité zur Verſtärkung der Armee“, berief dazu Hardenberg, den Kriegsminiſter Hacke und Scharn- horſt, deſſen Name ſchon allen Kundigen ſagte, daß es nunmehr ganzer, ſchwerer Ernſt war. Mit Feuereifer ging der geiſtreiche Hippel, dem der Staatskanzler die Militärſachen übertrug, auf die Entwürfe des Generals ein. Der Waffenſchmied der deutſchen Freiheit ſah nun endlich ſeine Saaten aufgehen; ſeine Kräfte ſchienen verdoppelt, ſein ganzes Weſen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 414. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/430>, abgerufen am 25.11.2024.