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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Oesterreichs Haltung.
man auch wünschte, daß Preußen wieder einigermaßen zu Kräften käme,
eine selbständige, der Hofburg ebenbürtige Macht durfte sich im Norden
nicht bilden -- jetzt am Allerwenigsten, da jeder neue Tag von der stürmi-
schen Erregung des norddeutschen Volkes Kunde brachte, da der preußische
Staat haltlos den dämonischen Mächten der Revolution verfallen, sein
König nur "an der Seite", nicht an der Spitze der Nation zu stehen
schien. Darüber war Kaiser Franz mit seinem Schwiegersohne durchaus
einverstanden, daß nur Aufruhrstifter ein sogenanntes Deutschland wollen
könnten. Willig glaubte er alle Märchen der napoleonischen Polizei über
das revolutionäre Treiben der preußischen Geheimbünde; noch im März
bat sein Gesandter den König von Preußen, natürlich vergeblich, um Auf-
lösung der geheimen Vereine. Von der deutschen Gesinnung seines eige-
nen Volkes hatte er freilich wenig zu fürchten; der edle Rausch des Jahres
1809 kehrte niemals wieder, das Teutonenthum der norddeutschen Dichter
und Volksredner erregte bei den ermüdeten Wienern nur Spott und
Hohn. Indeß selbst die vereinzelten Spuren patriotischen Sinnes waren
dem Despoten unheimlich. Er vergaß es nicht, daß auch einige öster-
reichische Offiziere in russischen Dienst getreten waren. Der gefährliche
preußische Verschwörer Justus Gruner war längst auf die Festung ge-
schafft worden, und als im Frühjahr Hans von Gagern mit einigen
Patrioten in Vorarlberg und Tyrol eine Volkserhebung vorzubereiten ver-
suchte, griff der Kaiser sofort mit Verhaftungen und Ausweisungen ein.

Ein anderer leitender Gedanke der Hofburg war die Furcht vor
Rußland. In späteren Jahren gestand Metternich dem preußischen Staats-
kanzler: seit dem Augenblicke, da die napoleonische Macht ins Wanken
gekommen, habe ihn vorwiegend die eine Sorge beschäftigt: "die Unmög-
lichkeit, zu verhindern, daß eine ungeheuere Machtvergrößerung Rußlands
das nothwendige Ergebniß der Zertrümmerung des französischen Kolosses
würde."*) Und wie vortheilhaft war es doch andererseits, einen so mäch-
tigen Schwiegersohn zu besitzen -- einen so wohlgesinnten Mann, der die
Revolution überwunden hatte und mit gleichem Abscheu wie Metternich
von dem Jacobiner Stein redete! Auch persönliche Rücksichten spielten
mit. Metternich war durch die französische Allianz ans Ruder gelangt;
trat ein plötzlicher Wechsel des Systems ein, so mußte fast unver-
meidlich sein Gegner Stadion die Leitung der Geschäfte übernehmen.
Zudem wichen die Absichten der Hofburg für Deutschlands Zukunft sehr
weit ab von den Gedanken des preußischen Staatskanzlers. Harden-
berg nahm seine dualistischen Pläne in vollem Ernst, wünschte für Oester-
reich eine feste Stellung am Oberrhein, für Preußen am Mittel- und
Niederrhein, damit also eine gemeinsame Vertheidigung des künftigen
Deutschen Bundes möglich würde. Und gewiß, war der Deutsche Bund

*) Metternich an Hardenberg 9. Januar 1818.

Oeſterreichs Haltung.
man auch wünſchte, daß Preußen wieder einigermaßen zu Kräften käme,
eine ſelbſtändige, der Hofburg ebenbürtige Macht durfte ſich im Norden
nicht bilden — jetzt am Allerwenigſten, da jeder neue Tag von der ſtürmi-
ſchen Erregung des norddeutſchen Volkes Kunde brachte, da der preußiſche
Staat haltlos den dämoniſchen Mächten der Revolution verfallen, ſein
König nur „an der Seite“, nicht an der Spitze der Nation zu ſtehen
ſchien. Darüber war Kaiſer Franz mit ſeinem Schwiegerſohne durchaus
einverſtanden, daß nur Aufruhrſtifter ein ſogenanntes Deutſchland wollen
könnten. Willig glaubte er alle Märchen der napoleoniſchen Polizei über
das revolutionäre Treiben der preußiſchen Geheimbünde; noch im März
bat ſein Geſandter den König von Preußen, natürlich vergeblich, um Auf-
löſung der geheimen Vereine. Von der deutſchen Geſinnung ſeines eige-
nen Volkes hatte er freilich wenig zu fürchten; der edle Rauſch des Jahres
1809 kehrte niemals wieder, das Teutonenthum der norddeutſchen Dichter
und Volksredner erregte bei den ermüdeten Wienern nur Spott und
Hohn. Indeß ſelbſt die vereinzelten Spuren patriotiſchen Sinnes waren
dem Despoten unheimlich. Er vergaß es nicht, daß auch einige öſter-
reichiſche Offiziere in ruſſiſchen Dienſt getreten waren. Der gefährliche
preußiſche Verſchwörer Juſtus Gruner war längſt auf die Feſtung ge-
ſchafft worden, und als im Frühjahr Hans von Gagern mit einigen
Patrioten in Vorarlberg und Tyrol eine Volkserhebung vorzubereiten ver-
ſuchte, griff der Kaiſer ſofort mit Verhaftungen und Ausweiſungen ein.

Ein anderer leitender Gedanke der Hofburg war die Furcht vor
Rußland. In ſpäteren Jahren geſtand Metternich dem preußiſchen Staats-
kanzler: ſeit dem Augenblicke, da die napoleoniſche Macht ins Wanken
gekommen, habe ihn vorwiegend die eine Sorge beſchäftigt: „die Unmög-
lichkeit, zu verhindern, daß eine ungeheuere Machtvergrößerung Rußlands
das nothwendige Ergebniß der Zertrümmerung des franzöſiſchen Koloſſes
würde.“*) Und wie vortheilhaft war es doch andererſeits, einen ſo mäch-
tigen Schwiegerſohn zu beſitzen — einen ſo wohlgeſinnten Mann, der die
Revolution überwunden hatte und mit gleichem Abſcheu wie Metternich
von dem Jacobiner Stein redete! Auch perſönliche Rückſichten ſpielten
mit. Metternich war durch die franzöſiſche Allianz ans Ruder gelangt;
trat ein plötzlicher Wechſel des Syſtems ein, ſo mußte faſt unver-
meidlich ſein Gegner Stadion die Leitung der Geſchäfte übernehmen.
Zudem wichen die Abſichten der Hofburg für Deutſchlands Zukunft ſehr
weit ab von den Gedanken des preußiſchen Staatskanzlers. Harden-
berg nahm ſeine dualiſtiſchen Pläne in vollem Ernſt, wünſchte für Oeſter-
reich eine feſte Stellung am Oberrhein, für Preußen am Mittel- und
Niederrhein, damit alſo eine gemeinſame Vertheidigung des künftigen
Deutſchen Bundes möglich würde. Und gewiß, war der Deutſche Bund

*) Metternich an Hardenberg 9. Januar 1818.
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[411/0427] Oeſterreichs Haltung. man auch wünſchte, daß Preußen wieder einigermaßen zu Kräften käme, eine ſelbſtändige, der Hofburg ebenbürtige Macht durfte ſich im Norden nicht bilden — jetzt am Allerwenigſten, da jeder neue Tag von der ſtürmi- ſchen Erregung des norddeutſchen Volkes Kunde brachte, da der preußiſche Staat haltlos den dämoniſchen Mächten der Revolution verfallen, ſein König nur „an der Seite“, nicht an der Spitze der Nation zu ſtehen ſchien. Darüber war Kaiſer Franz mit ſeinem Schwiegerſohne durchaus einverſtanden, daß nur Aufruhrſtifter ein ſogenanntes Deutſchland wollen könnten. Willig glaubte er alle Märchen der napoleoniſchen Polizei über das revolutionäre Treiben der preußiſchen Geheimbünde; noch im März bat ſein Geſandter den König von Preußen, natürlich vergeblich, um Auf- löſung der geheimen Vereine. Von der deutſchen Geſinnung ſeines eige- nen Volkes hatte er freilich wenig zu fürchten; der edle Rauſch des Jahres 1809 kehrte niemals wieder, das Teutonenthum der norddeutſchen Dichter und Volksredner erregte bei den ermüdeten Wienern nur Spott und Hohn. Indeß ſelbſt die vereinzelten Spuren patriotiſchen Sinnes waren dem Despoten unheimlich. Er vergaß es nicht, daß auch einige öſter- reichiſche Offiziere in ruſſiſchen Dienſt getreten waren. Der gefährliche preußiſche Verſchwörer Juſtus Gruner war längſt auf die Feſtung ge- ſchafft worden, und als im Frühjahr Hans von Gagern mit einigen Patrioten in Vorarlberg und Tyrol eine Volkserhebung vorzubereiten ver- ſuchte, griff der Kaiſer ſofort mit Verhaftungen und Ausweiſungen ein. Ein anderer leitender Gedanke der Hofburg war die Furcht vor Rußland. In ſpäteren Jahren geſtand Metternich dem preußiſchen Staats- kanzler: ſeit dem Augenblicke, da die napoleoniſche Macht ins Wanken gekommen, habe ihn vorwiegend die eine Sorge beſchäftigt: „die Unmög- lichkeit, zu verhindern, daß eine ungeheuere Machtvergrößerung Rußlands das nothwendige Ergebniß der Zertrümmerung des franzöſiſchen Koloſſes würde.“ *) Und wie vortheilhaft war es doch andererſeits, einen ſo mäch- tigen Schwiegerſohn zu beſitzen — einen ſo wohlgeſinnten Mann, der die Revolution überwunden hatte und mit gleichem Abſcheu wie Metternich von dem Jacobiner Stein redete! Auch perſönliche Rückſichten ſpielten mit. Metternich war durch die franzöſiſche Allianz ans Ruder gelangt; trat ein plötzlicher Wechſel des Syſtems ein, ſo mußte faſt unver- meidlich ſein Gegner Stadion die Leitung der Geſchäfte übernehmen. Zudem wichen die Abſichten der Hofburg für Deutſchlands Zukunft ſehr weit ab von den Gedanken des preußiſchen Staatskanzlers. Harden- berg nahm ſeine dualiſtiſchen Pläne in vollem Ernſt, wünſchte für Oeſter- reich eine feſte Stellung am Oberrhein, für Preußen am Mittel- und Niederrhein, damit alſo eine gemeinſame Vertheidigung des künftigen Deutſchen Bundes möglich würde. Und gewiß, war der Deutſche Bund *) Metternich an Hardenberg 9. Januar 1818.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 411. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/427>, abgerufen am 25.11.2024.