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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Der russische Krieg.

Und seltsam, der naive Volksglaube urtheilte diesmal richtiger als
die Berechnung der Cabinette. Die Staatsmänner übersahen in ihren
schwarzsichtigen Erwartungen das Eine, worauf Alles ankam: daß Czar
Alexander in diesem Kriege ausharren mußte. Die Nachrichten von dem
Zuge der Heiden gegen die heilige Moskau brachte das ganze russische
Volk in Aufruhr, und wenn unter dem Despotismus die sonst schlum-
mernde öffentliche Meinung einmal erwacht, dann wirkt sie mit unwider-
stehlicher Gewalt. Alexander durfte nicht nachgeben, bei Verlust seines
Thrones. Er wußte es; in diesen Tagen der Prüfung wurde der un-
stete Knabe zum Manne, soweit sein Charakter männlicher Tugenden
fähig war. Wie der Epheu am Eichbaum klammerte er sich fest an dem
eisernen Muthe des Freiherrn vom Stein. Der große Deutsche eilte mit
seinem getreuen Arndt nach Rußland und stand, eine Macht für sich
selber, dem Czaren zur Seite, erfüllte ihn mit einem Hauche seiner
eigenen Leidenschaft. Je näher die Gefahr sich heranwälzte, um so freu-
diger und zuversichtlicher hoben sich alle schneidigen und heldenhaften
Kräfte seiner Seele: bis nach Kasan, bis nach Sibirien hinein wollte er den
Kampf fortführen, denn dieser Krieg entschied über die Freiheit der Welt.

Eine tiefe Stille lagerte sich über Europa, als die letzten Kolonnen
der großen Armee jenseits der russischen Grenze verschwanden. In Nord-
deutschland schwebte auf tausend Lippen die bange Frage, ob das Geschick
nicht endlich den Himmelsstürmer ereilen werde. Wie ein fremder, greller
Mißton klang in das erwartungsvolle Schweigen ein höfisches Gedicht
Goethes auf Marie Luise; der Alte konnte sich in die verwandelte Zeit
nicht finden und feierte den Caesar, der soeben die Blüthe der europäischen
Männerkraft zur Schlachtbank führte, mit dem Verse: der Alles wollen
kann will auch den Frieden! Napoleon war fast ohne Aufenthalt durch
Warschau gezogen; denn "die grenzenlose Zukunft vor mir gestattet mir
nicht, in Polen auch nur eine Beiwacht zu halten". Er hatte sich bereits,
wie Hardenberg bei Maret erfuhr*), mit dem Plane beschäftigt seinen
Bruder Jerome zum König von Polen zu erheben und ließ es ge-
schehen, daß eine General-Confoederation in Warschau die Wiederher-
stellung des Polenreichs ausrief. Feste Zusagen gab er dem unglücklichen
Volke auch jetzt nicht, sondern wies seinen Botschafter in Warschau an
"die nationalen Bestrebungen zu ermuntern ohne die liberalen zu er-
wecken". Er stürmte vorwärts, aber schon bevor der Feind in Sicht kam
begann sich die Ordnung in dem Heere aufzulösen. Vornehmlich an
ihrer Zuchtlosigkeit ist diese glänzende Armee zu Grunde gegangen. Die
von obenher anbefohlene Ausplünderung der preußischen Lande hatte die
Truppen an den Raub gewöhnt. Der Soldat lebte in beständigem Kriege
mit den Feldgensdarmen, ein Gewölk von Marodeurs umschwärmte Flan-

*) Hardenbergs Tagebuch 30. Mai 1812.
Der ruſſiſche Krieg.

Und ſeltſam, der naive Volksglaube urtheilte diesmal richtiger als
die Berechnung der Cabinette. Die Staatsmänner überſahen in ihren
ſchwarzſichtigen Erwartungen das Eine, worauf Alles ankam: daß Czar
Alexander in dieſem Kriege ausharren mußte. Die Nachrichten von dem
Zuge der Heiden gegen die heilige Moskau brachte das ganze ruſſiſche
Volk in Aufruhr, und wenn unter dem Despotismus die ſonſt ſchlum-
mernde öffentliche Meinung einmal erwacht, dann wirkt ſie mit unwider-
ſtehlicher Gewalt. Alexander durfte nicht nachgeben, bei Verluſt ſeines
Thrones. Er wußte es; in dieſen Tagen der Prüfung wurde der un-
ſtete Knabe zum Manne, ſoweit ſein Charakter männlicher Tugenden
fähig war. Wie der Epheu am Eichbaum klammerte er ſich feſt an dem
eiſernen Muthe des Freiherrn vom Stein. Der große Deutſche eilte mit
ſeinem getreuen Arndt nach Rußland und ſtand, eine Macht für ſich
ſelber, dem Czaren zur Seite, erfüllte ihn mit einem Hauche ſeiner
eigenen Leidenſchaft. Je näher die Gefahr ſich heranwälzte, um ſo freu-
diger und zuverſichtlicher hoben ſich alle ſchneidigen und heldenhaften
Kräfte ſeiner Seele: bis nach Kaſan, bis nach Sibirien hinein wollte er den
Kampf fortführen, denn dieſer Krieg entſchied über die Freiheit der Welt.

Eine tiefe Stille lagerte ſich über Europa, als die letzten Kolonnen
der großen Armee jenſeits der ruſſiſchen Grenze verſchwanden. In Nord-
deutſchland ſchwebte auf tauſend Lippen die bange Frage, ob das Geſchick
nicht endlich den Himmelsſtürmer ereilen werde. Wie ein fremder, greller
Mißton klang in das erwartungsvolle Schweigen ein höfiſches Gedicht
Goethes auf Marie Luiſe; der Alte konnte ſich in die verwandelte Zeit
nicht finden und feierte den Caeſar, der ſoeben die Blüthe der europäiſchen
Männerkraft zur Schlachtbank führte, mit dem Verſe: der Alles wollen
kann will auch den Frieden! Napoleon war faſt ohne Aufenthalt durch
Warſchau gezogen; denn „die grenzenloſe Zukunft vor mir geſtattet mir
nicht, in Polen auch nur eine Beiwacht zu halten“. Er hatte ſich bereits,
wie Hardenberg bei Maret erfuhr*), mit dem Plane beſchäftigt ſeinen
Bruder Jerome zum König von Polen zu erheben und ließ es ge-
ſchehen, daß eine General-Confoederation in Warſchau die Wiederher-
ſtellung des Polenreichs ausrief. Feſte Zuſagen gab er dem unglücklichen
Volke auch jetzt nicht, ſondern wies ſeinen Botſchafter in Warſchau an
„die nationalen Beſtrebungen zu ermuntern ohne die liberalen zu er-
wecken“. Er ſtürmte vorwärts, aber ſchon bevor der Feind in Sicht kam
begann ſich die Ordnung in dem Heere aufzulöſen. Vornehmlich an
ihrer Zuchtloſigkeit iſt dieſe glänzende Armee zu Grunde gegangen. Die
von obenher anbefohlene Ausplünderung der preußiſchen Lande hatte die
Truppen an den Raub gewöhnt. Der Soldat lebte in beſtändigem Kriege
mit den Feldgensdarmen, ein Gewölk von Marodeurs umſchwärmte Flan-

*) Hardenbergs Tagebuch 30. Mai 1812.
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[395/0411] Der ruſſiſche Krieg. Und ſeltſam, der naive Volksglaube urtheilte diesmal richtiger als die Berechnung der Cabinette. Die Staatsmänner überſahen in ihren ſchwarzſichtigen Erwartungen das Eine, worauf Alles ankam: daß Czar Alexander in dieſem Kriege ausharren mußte. Die Nachrichten von dem Zuge der Heiden gegen die heilige Moskau brachte das ganze ruſſiſche Volk in Aufruhr, und wenn unter dem Despotismus die ſonſt ſchlum- mernde öffentliche Meinung einmal erwacht, dann wirkt ſie mit unwider- ſtehlicher Gewalt. Alexander durfte nicht nachgeben, bei Verluſt ſeines Thrones. Er wußte es; in dieſen Tagen der Prüfung wurde der un- ſtete Knabe zum Manne, ſoweit ſein Charakter männlicher Tugenden fähig war. Wie der Epheu am Eichbaum klammerte er ſich feſt an dem eiſernen Muthe des Freiherrn vom Stein. Der große Deutſche eilte mit ſeinem getreuen Arndt nach Rußland und ſtand, eine Macht für ſich ſelber, dem Czaren zur Seite, erfüllte ihn mit einem Hauche ſeiner eigenen Leidenſchaft. Je näher die Gefahr ſich heranwälzte, um ſo freu- diger und zuverſichtlicher hoben ſich alle ſchneidigen und heldenhaften Kräfte ſeiner Seele: bis nach Kaſan, bis nach Sibirien hinein wollte er den Kampf fortführen, denn dieſer Krieg entſchied über die Freiheit der Welt. Eine tiefe Stille lagerte ſich über Europa, als die letzten Kolonnen der großen Armee jenſeits der ruſſiſchen Grenze verſchwanden. In Nord- deutſchland ſchwebte auf tauſend Lippen die bange Frage, ob das Geſchick nicht endlich den Himmelsſtürmer ereilen werde. Wie ein fremder, greller Mißton klang in das erwartungsvolle Schweigen ein höfiſches Gedicht Goethes auf Marie Luiſe; der Alte konnte ſich in die verwandelte Zeit nicht finden und feierte den Caeſar, der ſoeben die Blüthe der europäiſchen Männerkraft zur Schlachtbank führte, mit dem Verſe: der Alles wollen kann will auch den Frieden! Napoleon war faſt ohne Aufenthalt durch Warſchau gezogen; denn „die grenzenloſe Zukunft vor mir geſtattet mir nicht, in Polen auch nur eine Beiwacht zu halten“. Er hatte ſich bereits, wie Hardenberg bei Maret erfuhr *), mit dem Plane beſchäftigt ſeinen Bruder Jerome zum König von Polen zu erheben und ließ es ge- ſchehen, daß eine General-Confoederation in Warſchau die Wiederher- ſtellung des Polenreichs ausrief. Feſte Zuſagen gab er dem unglücklichen Volke auch jetzt nicht, ſondern wies ſeinen Botſchafter in Warſchau an „die nationalen Beſtrebungen zu ermuntern ohne die liberalen zu er- wecken“. Er ſtürmte vorwärts, aber ſchon bevor der Feind in Sicht kam begann ſich die Ordnung in dem Heere aufzulöſen. Vornehmlich an ihrer Zuchtloſigkeit iſt dieſe glänzende Armee zu Grunde gegangen. Die von obenher anbefohlene Ausplünderung der preußiſchen Lande hatte die Truppen an den Raub gewöhnt. Der Soldat lebte in beſtändigem Kriege mit den Feldgensdarmen, ein Gewölk von Marodeurs umſchwärmte Flan- *) Hardenbergs Tagebuch 30. Mai 1812.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 395. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/411>, abgerufen am 25.11.2024.