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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 3. Preußens Erhebung.
kanzler den verhängnißvollen ersten Schritt zur Einführung des Präfec-
tursystems. Die Oberpräsidenten hatte er schon abgeschafft, und nun
versprach er bereits das Staatsgebiet in "neue Regierungs- und Militär-
departements" einzutheilen. Er war jetzt so ganz durchdrungen von der
Herrlichkeit der schlagfertigen Präfectur, daß selbst sein ergebener F. v.
Raumer sich bewogen fand ihm die Vorzüge des alten preußischen Col-
legialsystems in einem beweglichen Briefe vorzuhalten.

Zum Glück fehlte dem geistreichen Manne die Willenskraft zur
Durchführung der undeutschen, verderblichen Neuerung, die er plante. Vor-
derhand sollte nur ein Theil der Bestimmungen des Gensdarmerie-Edicts
"provisorisch" in Kraft treten. Dieser Unfug der provisorischen Gesetzge-
bung war dem gestrengen alten Absolutismus ganz unbekannt gewesen
und riß erst jetzt ein, da der leitende Staatsmann zwischen Projecten
und Experimenten unstät hin und her griff. Provisorisch also sollten
die bisherigen Landräthe die Geschäfte der neuen Kreisdirectorien über-
nehmen, nur daß man zuvor gründlich unter ihnen aufräumte und eine
große Zahl der Altständischgesinnten entließ. Jedoch selbst in dieser pro-
visorischen Gestalt stieß die neue Ordnung auf einen ungeheuren, völlig
unbesiegbaren Widerstand. Der Landadel, in seinem Allerheiligsten bedroht,
lärmte lauter denn je, die Nationalrepräsentanten in Berlin verwahrten
sich gegen die Verletzung der alten Gerechtsame. Mehrere der wärmsten
persönlichen Anhänger des Staatskanzlers stimmten mit ein in die be-
rechtigten Vorwürfe, welche von Stein, Vincke und den anderen Vertre-
tern des Gedankens der Selbstverwaltung erhoben wurden; der geistreiche
Hippel gerieth mit seinem alten Freunde Scharnweber, der bei dem Ge-
setze mitgeholfen, ganz aus einander. Das Edict konnte nur in wenigen
Regierungsbezirken, nirgends vollständig und in der Kurmark gar nicht,
ausgeführt werden; bald nachher schwemmte die Sturmfluth des Krieges
von 1813 auch diese schwachen Anfänge großentheils wieder hinweg. Die
einzige gesunde Frucht des unglücklichen Gesetzes waren die Kreisversamm-
lungen. Erst in der stillen Arbeit dieser Versammlungen lernte das
Landvolk die neue Zeit kennen und lieben. Wo immer sie ins Leben
traten da war Jedermann des Lobes voll für das Verhalten der Bauern;
sie lieferten den Beweis, daß Steins Werk, die Befreiung des Bauern-
standes nicht zu früh erschienen war. Alle Berichte der Behörden erzählten
mit naivem Erstaunen, wie willig, brauchbar, besonnen dieser neue Stand
sich zeige.*)

Welch ein Gegensatz doch: die Gesetze Steins und die Experimente
Hardenbergs! Steins Thun und Denken gemahnt immer an den alten
Wappenspruch seiner geliebten Grafschaft Mark: vierecken Stein, wie er

*) Viele Belege hierfür giebt der Bericht des Ministers v. Beyme v. 21. April
1818 über seine Rundreise durch Pommern und Preußen.

I. 3. Preußens Erhebung.
kanzler den verhängnißvollen erſten Schritt zur Einführung des Präfec-
turſyſtems. Die Oberpräſidenten hatte er ſchon abgeſchafft, und nun
verſprach er bereits das Staatsgebiet in „neue Regierungs- und Militär-
departements“ einzutheilen. Er war jetzt ſo ganz durchdrungen von der
Herrlichkeit der ſchlagfertigen Präfectur, daß ſelbſt ſein ergebener F. v.
Raumer ſich bewogen fand ihm die Vorzüge des alten preußiſchen Col-
legialſyſtems in einem beweglichen Briefe vorzuhalten.

Zum Glück fehlte dem geiſtreichen Manne die Willenskraft zur
Durchführung der undeutſchen, verderblichen Neuerung, die er plante. Vor-
derhand ſollte nur ein Theil der Beſtimmungen des Gensdarmerie-Edicts
„proviſoriſch“ in Kraft treten. Dieſer Unfug der proviſoriſchen Geſetzge-
bung war dem geſtrengen alten Abſolutismus ganz unbekannt geweſen
und riß erſt jetzt ein, da der leitende Staatsmann zwiſchen Projecten
und Experimenten unſtät hin und her griff. Proviſoriſch alſo ſollten
die bisherigen Landräthe die Geſchäfte der neuen Kreisdirectorien über-
nehmen, nur daß man zuvor gründlich unter ihnen aufräumte und eine
große Zahl der Altſtändiſchgeſinnten entließ. Jedoch ſelbſt in dieſer pro-
viſoriſchen Geſtalt ſtieß die neue Ordnung auf einen ungeheuren, völlig
unbeſiegbaren Widerſtand. Der Landadel, in ſeinem Allerheiligſten bedroht,
lärmte lauter denn je, die Nationalrepräſentanten in Berlin verwahrten
ſich gegen die Verletzung der alten Gerechtſame. Mehrere der wärmſten
perſönlichen Anhänger des Staatskanzlers ſtimmten mit ein in die be-
rechtigten Vorwürfe, welche von Stein, Vincke und den anderen Vertre-
tern des Gedankens der Selbſtverwaltung erhoben wurden; der geiſtreiche
Hippel gerieth mit ſeinem alten Freunde Scharnweber, der bei dem Ge-
ſetze mitgeholfen, ganz aus einander. Das Edict konnte nur in wenigen
Regierungsbezirken, nirgends vollſtändig und in der Kurmark gar nicht,
ausgeführt werden; bald nachher ſchwemmte die Sturmfluth des Krieges
von 1813 auch dieſe ſchwachen Anfänge großentheils wieder hinweg. Die
einzige geſunde Frucht des unglücklichen Geſetzes waren die Kreisverſamm-
lungen. Erſt in der ſtillen Arbeit dieſer Verſammlungen lernte das
Landvolk die neue Zeit kennen und lieben. Wo immer ſie ins Leben
traten da war Jedermann des Lobes voll für das Verhalten der Bauern;
ſie lieferten den Beweis, daß Steins Werk, die Befreiung des Bauern-
ſtandes nicht zu früh erſchienen war. Alle Berichte der Behörden erzählten
mit naivem Erſtaunen, wie willig, brauchbar, beſonnen dieſer neue Stand
ſich zeige.*)

Welch ein Gegenſatz doch: die Geſetze Steins und die Experimente
Hardenbergs! Steins Thun und Denken gemahnt immer an den alten
Wappenſpruch ſeiner geliebten Grafſchaft Mark: vierecken Stein, wie er

*) Viele Belege hierfür giebt der Bericht des Miniſters v. Beyme v. 21. April
1818 über ſeine Rundreiſe durch Pommern und Preußen.
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[380/0396] I. 3. Preußens Erhebung. kanzler den verhängnißvollen erſten Schritt zur Einführung des Präfec- turſyſtems. Die Oberpräſidenten hatte er ſchon abgeſchafft, und nun verſprach er bereits das Staatsgebiet in „neue Regierungs- und Militär- departements“ einzutheilen. Er war jetzt ſo ganz durchdrungen von der Herrlichkeit der ſchlagfertigen Präfectur, daß ſelbſt ſein ergebener F. v. Raumer ſich bewogen fand ihm die Vorzüge des alten preußiſchen Col- legialſyſtems in einem beweglichen Briefe vorzuhalten. Zum Glück fehlte dem geiſtreichen Manne die Willenskraft zur Durchführung der undeutſchen, verderblichen Neuerung, die er plante. Vor- derhand ſollte nur ein Theil der Beſtimmungen des Gensdarmerie-Edicts „proviſoriſch“ in Kraft treten. Dieſer Unfug der proviſoriſchen Geſetzge- bung war dem geſtrengen alten Abſolutismus ganz unbekannt geweſen und riß erſt jetzt ein, da der leitende Staatsmann zwiſchen Projecten und Experimenten unſtät hin und her griff. Proviſoriſch alſo ſollten die bisherigen Landräthe die Geſchäfte der neuen Kreisdirectorien über- nehmen, nur daß man zuvor gründlich unter ihnen aufräumte und eine große Zahl der Altſtändiſchgeſinnten entließ. Jedoch ſelbſt in dieſer pro- viſoriſchen Geſtalt ſtieß die neue Ordnung auf einen ungeheuren, völlig unbeſiegbaren Widerſtand. Der Landadel, in ſeinem Allerheiligſten bedroht, lärmte lauter denn je, die Nationalrepräſentanten in Berlin verwahrten ſich gegen die Verletzung der alten Gerechtſame. Mehrere der wärmſten perſönlichen Anhänger des Staatskanzlers ſtimmten mit ein in die be- rechtigten Vorwürfe, welche von Stein, Vincke und den anderen Vertre- tern des Gedankens der Selbſtverwaltung erhoben wurden; der geiſtreiche Hippel gerieth mit ſeinem alten Freunde Scharnweber, der bei dem Ge- ſetze mitgeholfen, ganz aus einander. Das Edict konnte nur in wenigen Regierungsbezirken, nirgends vollſtändig und in der Kurmark gar nicht, ausgeführt werden; bald nachher ſchwemmte die Sturmfluth des Krieges von 1813 auch dieſe ſchwachen Anfänge großentheils wieder hinweg. Die einzige geſunde Frucht des unglücklichen Geſetzes waren die Kreisverſamm- lungen. Erſt in der ſtillen Arbeit dieſer Verſammlungen lernte das Landvolk die neue Zeit kennen und lieben. Wo immer ſie ins Leben traten da war Jedermann des Lobes voll für das Verhalten der Bauern; ſie lieferten den Beweis, daß Steins Werk, die Befreiung des Bauern- ſtandes nicht zu früh erſchienen war. Alle Berichte der Behörden erzählten mit naivem Erſtaunen, wie willig, brauchbar, beſonnen dieſer neue Stand ſich zeige. *) Welch ein Gegenſatz doch: die Geſetze Steins und die Experimente Hardenbergs! Steins Thun und Denken gemahnt immer an den alten Wappenſpruch ſeiner geliebten Grafſchaft Mark: vierecken Stein, wie er *) Viele Belege hierfür giebt der Bericht des Miniſters v. Beyme v. 21. April 1818 über ſeine Rundreiſe durch Pommern und Preußen.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 380. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/396>, abgerufen am 22.11.2024.