haften Treiben der neuen Residenzen der Bürgerstolz nicht gedeihen wollte, so wurde das Land, dessen hansische Helden einst die Königskronen Skan- dinaviens verschenkten, zum classischen Boden kleinstädtischer Armseligkeit. Deutschland bot das in aller Geschichte unerhörte Schauspiel eines alten Volkes ohne eine Großstadt. Nirgends ein Brennpunkt des nationalen Lebens, wie ihn die Nachbarvölker in London, Paris und Madrid, ja selbst in Kopenhagen, Stockholm und Amsterdam besaßen. Nirgends eine Stelle, wo die Parteikämpfe eines politischen Adels mit der Bildung und dem Reichthum eines selbstbewußten Bürgerthums befruchtet und be- fruchtend sich berührten. Alle Kräfte der Nation streben in unendlicher Zerplitterung auseinander, in tausend Rinnsalen versiegend gleich dem deutschen Strome: jeder Stand, jede Stadt, jede Landschaft eine Welt für sich selber.
Die ganze Schmach dieser Zersplitterung zeigte sich in der Wehr- losigkeit des Reichs. In den Zeiten seiner Größe hatte Deutschland seine gefährdete Ostgrenze mit dem eisernen Gürtel der kriegsbereiten Marken umschlossen. Jetzt, da beständig vom Westen her der Angriff drohte, lagen dicht vor Frankreichs begehrlichen Händen die schwächsten, die waffenlosen Glieder des Reichs. Die lange Pfaffengasse des Rheines entlang erstreckte sich von Münster und Osnabrück bis nach Constanz hinauf ein Gewirr winziger Staaten, unfähig zu jeder ernsthaften Kriegs- rüstung, durch das Gefühl der Ohnmacht zum Landesverrathe gezwungen. Fast alle rheinischen Höfe bezogen Pensionen aus Versailles; der erste Rheinbund von 1658 ward von begeisterten Reichspatrioten als ein rühmliches Unternehmen zum Schutze deutscher Freiheit gepriesen. Ein Gebiet von fast dreitausend sechshundert Geviertmeilen gehörte solchen Kleinstaaten, deren keiner mehr als 130 Geviertmeilen umfaßte; der Volkswitz verhöhnte die strümpfestrickenden Kölnischen Stadtsoldaten und das grimmige Kriegsvolk des Bischofs von Hildesheim, das auf seinen Hüten die Inschrift trug: Gieb Frieden, Herr, in unsern Tagen! Dies reichste Drittel Deutschlands diente in den Kriegen des Reiches nur als todte Last. Es bleibt ein glänzendes Zeugniß für die deutsche Tapfer- keit, daß die Nation nach solcher Selbstverstümmelung von den Heeren Frankreichs und Schwedens nicht gänzlich überwältigt wurde. Die Ge- sammtheit des Reichs galt kaum noch als eine Macht zweiten Ranges, während seine mächtigeren Glieder längst schon selbständig auf der freien Bühne der europäischen Politik sich bewegten.
Die Reichsverfassung erscheint wie ein wohldurchdachtes System, ersonnen um die gewaltigen Kräfte des waffenfrohesten der Völker künstlich niederzudrücken. In der That wurde der unnatürliche Zustand nur durch die Wachsamkeit des gesammten Welttheils aufrecht erhalten. Das heilige Reich blieb durch seine Schwäche, wie einst durch seine Stärke, der Mittelpunkt und die Grundlage des europäischen Staatensystems.
Wehrloſigkeit des Reichs.
haften Treiben der neuen Reſidenzen der Bürgerſtolz nicht gedeihen wollte, ſo wurde das Land, deſſen hanſiſche Helden einſt die Königskronen Skan- dinaviens verſchenkten, zum claſſiſchen Boden kleinſtädtiſcher Armſeligkeit. Deutſchland bot das in aller Geſchichte unerhörte Schauſpiel eines alten Volkes ohne eine Großſtadt. Nirgends ein Brennpunkt des nationalen Lebens, wie ihn die Nachbarvölker in London, Paris und Madrid, ja ſelbſt in Kopenhagen, Stockholm und Amſterdam beſaßen. Nirgends eine Stelle, wo die Parteikämpfe eines politiſchen Adels mit der Bildung und dem Reichthum eines ſelbſtbewußten Bürgerthums befruchtet und be- fruchtend ſich berührten. Alle Kräfte der Nation ſtreben in unendlicher Zerplitterung auseinander, in tauſend Rinnſalen verſiegend gleich dem deutſchen Strome: jeder Stand, jede Stadt, jede Landſchaft eine Welt für ſich ſelber.
Die ganze Schmach dieſer Zerſplitterung zeigte ſich in der Wehr- loſigkeit des Reichs. In den Zeiten ſeiner Größe hatte Deutſchland ſeine gefährdete Oſtgrenze mit dem eiſernen Gürtel der kriegsbereiten Marken umſchloſſen. Jetzt, da beſtändig vom Weſten her der Angriff drohte, lagen dicht vor Frankreichs begehrlichen Händen die ſchwächſten, die waffenloſen Glieder des Reichs. Die lange Pfaffengaſſe des Rheines entlang erſtreckte ſich von Münſter und Osnabrück bis nach Conſtanz hinauf ein Gewirr winziger Staaten, unfähig zu jeder ernſthaften Kriegs- rüſtung, durch das Gefühl der Ohnmacht zum Landesverrathe gezwungen. Faſt alle rheiniſchen Höfe bezogen Penſionen aus Verſailles; der erſte Rheinbund von 1658 ward von begeiſterten Reichspatrioten als ein rühmliches Unternehmen zum Schutze deutſcher Freiheit geprieſen. Ein Gebiet von faſt dreitauſend ſechshundert Geviertmeilen gehörte ſolchen Kleinſtaaten, deren keiner mehr als 130 Geviertmeilen umfaßte; der Volkswitz verhöhnte die ſtrümpfeſtrickenden Kölniſchen Stadtſoldaten und das grimmige Kriegsvolk des Biſchofs von Hildesheim, das auf ſeinen Hüten die Inſchrift trug: Gieb Frieden, Herr, in unſern Tagen! Dies reichſte Drittel Deutſchlands diente in den Kriegen des Reiches nur als todte Laſt. Es bleibt ein glänzendes Zeugniß für die deutſche Tapfer- keit, daß die Nation nach ſolcher Selbſtverſtümmelung von den Heeren Frankreichs und Schwedens nicht gänzlich überwältigt wurde. Die Ge- ſammtheit des Reichs galt kaum noch als eine Macht zweiten Ranges, während ſeine mächtigeren Glieder längſt ſchon ſelbſtändig auf der freien Bühne der europäiſchen Politik ſich bewegten.
Die Reichsverfaſſung erſcheint wie ein wohldurchdachtes Syſtem, erſonnen um die gewaltigen Kräfte des waffenfroheſten der Völker künſtlich niederzudrücken. In der That wurde der unnatürliche Zuſtand nur durch die Wachſamkeit des geſammten Welttheils aufrecht erhalten. Das heilige Reich blieb durch ſeine Schwäche, wie einſt durch ſeine Stärke, der Mittelpunkt und die Grundlage des europäiſchen Staatenſyſtems.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0037"n="21"/><fwplace="top"type="header">Wehrloſigkeit des Reichs.</fw><lb/>
haften Treiben der neuen Reſidenzen der Bürgerſtolz nicht gedeihen wollte,<lb/>ſo wurde das Land, deſſen hanſiſche Helden einſt die Königskronen Skan-<lb/>
dinaviens verſchenkten, zum claſſiſchen Boden kleinſtädtiſcher Armſeligkeit.<lb/>
Deutſchland bot das in aller Geſchichte unerhörte Schauſpiel eines alten<lb/>
Volkes ohne eine Großſtadt. Nirgends ein Brennpunkt des nationalen<lb/>
Lebens, wie ihn die Nachbarvölker in London, Paris und Madrid, ja<lb/>ſelbſt in Kopenhagen, Stockholm und Amſterdam beſaßen. Nirgends eine<lb/>
Stelle, wo die Parteikämpfe eines politiſchen Adels mit der Bildung und<lb/>
dem Reichthum eines ſelbſtbewußten Bürgerthums befruchtet und be-<lb/>
fruchtend ſich berührten. Alle Kräfte der Nation ſtreben in unendlicher<lb/>
Zerplitterung auseinander, in tauſend Rinnſalen verſiegend gleich dem<lb/>
deutſchen Strome: jeder Stand, jede Stadt, jede Landſchaft eine Welt<lb/>
für ſich ſelber.</p><lb/><p>Die ganze Schmach dieſer Zerſplitterung zeigte ſich in der Wehr-<lb/>
loſigkeit des Reichs. In den Zeiten ſeiner Größe hatte Deutſchland ſeine<lb/>
gefährdete Oſtgrenze mit dem eiſernen Gürtel der kriegsbereiten Marken<lb/>
umſchloſſen. Jetzt, da beſtändig vom Weſten her der Angriff drohte,<lb/>
lagen dicht vor Frankreichs begehrlichen Händen die ſchwächſten, die<lb/>
waffenloſen Glieder des Reichs. Die lange Pfaffengaſſe des Rheines<lb/>
entlang erſtreckte ſich von Münſter und Osnabrück bis nach Conſtanz<lb/>
hinauf ein Gewirr winziger Staaten, unfähig zu jeder ernſthaften Kriegs-<lb/>
rüſtung, durch das Gefühl der Ohnmacht zum Landesverrathe gezwungen.<lb/>
Faſt alle rheiniſchen Höfe bezogen Penſionen aus Verſailles; der erſte<lb/>
Rheinbund von 1658 ward von begeiſterten Reichspatrioten als ein<lb/>
rühmliches Unternehmen zum Schutze deutſcher Freiheit geprieſen. Ein<lb/>
Gebiet von faſt dreitauſend ſechshundert Geviertmeilen gehörte ſolchen<lb/>
Kleinſtaaten, deren keiner mehr als 130 Geviertmeilen umfaßte; der<lb/>
Volkswitz verhöhnte die ſtrümpfeſtrickenden Kölniſchen Stadtſoldaten und<lb/>
das grimmige Kriegsvolk des Biſchofs von Hildesheim, das auf ſeinen<lb/>
Hüten die Inſchrift trug: Gieb Frieden, Herr, in unſern Tagen! Dies<lb/>
reichſte Drittel Deutſchlands diente in den Kriegen des Reiches nur als<lb/>
todte Laſt. Es bleibt ein glänzendes Zeugniß für die deutſche Tapfer-<lb/>
keit, daß die Nation nach ſolcher Selbſtverſtümmelung von den Heeren<lb/>
Frankreichs und Schwedens nicht gänzlich überwältigt wurde. Die Ge-<lb/>ſammtheit des Reichs galt kaum noch als eine Macht zweiten Ranges,<lb/>
während ſeine mächtigeren Glieder längſt ſchon ſelbſtändig auf der freien<lb/>
Bühne der europäiſchen Politik ſich bewegten.</p><lb/><p>Die Reichsverfaſſung erſcheint wie ein wohldurchdachtes Syſtem,<lb/>
erſonnen um die gewaltigen Kräfte des waffenfroheſten der Völker künſtlich<lb/>
niederzudrücken. In der That wurde der unnatürliche Zuſtand nur<lb/>
durch die Wachſamkeit des geſammten Welttheils aufrecht erhalten. Das<lb/>
heilige Reich blieb durch ſeine Schwäche, wie einſt durch ſeine Stärke,<lb/>
der Mittelpunkt und die Grundlage des europäiſchen Staatenſyſtems.<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[21/0037]
Wehrloſigkeit des Reichs.
haften Treiben der neuen Reſidenzen der Bürgerſtolz nicht gedeihen wollte,
ſo wurde das Land, deſſen hanſiſche Helden einſt die Königskronen Skan-
dinaviens verſchenkten, zum claſſiſchen Boden kleinſtädtiſcher Armſeligkeit.
Deutſchland bot das in aller Geſchichte unerhörte Schauſpiel eines alten
Volkes ohne eine Großſtadt. Nirgends ein Brennpunkt des nationalen
Lebens, wie ihn die Nachbarvölker in London, Paris und Madrid, ja
ſelbſt in Kopenhagen, Stockholm und Amſterdam beſaßen. Nirgends eine
Stelle, wo die Parteikämpfe eines politiſchen Adels mit der Bildung und
dem Reichthum eines ſelbſtbewußten Bürgerthums befruchtet und be-
fruchtend ſich berührten. Alle Kräfte der Nation ſtreben in unendlicher
Zerplitterung auseinander, in tauſend Rinnſalen verſiegend gleich dem
deutſchen Strome: jeder Stand, jede Stadt, jede Landſchaft eine Welt
für ſich ſelber.
Die ganze Schmach dieſer Zerſplitterung zeigte ſich in der Wehr-
loſigkeit des Reichs. In den Zeiten ſeiner Größe hatte Deutſchland ſeine
gefährdete Oſtgrenze mit dem eiſernen Gürtel der kriegsbereiten Marken
umſchloſſen. Jetzt, da beſtändig vom Weſten her der Angriff drohte,
lagen dicht vor Frankreichs begehrlichen Händen die ſchwächſten, die
waffenloſen Glieder des Reichs. Die lange Pfaffengaſſe des Rheines
entlang erſtreckte ſich von Münſter und Osnabrück bis nach Conſtanz
hinauf ein Gewirr winziger Staaten, unfähig zu jeder ernſthaften Kriegs-
rüſtung, durch das Gefühl der Ohnmacht zum Landesverrathe gezwungen.
Faſt alle rheiniſchen Höfe bezogen Penſionen aus Verſailles; der erſte
Rheinbund von 1658 ward von begeiſterten Reichspatrioten als ein
rühmliches Unternehmen zum Schutze deutſcher Freiheit geprieſen. Ein
Gebiet von faſt dreitauſend ſechshundert Geviertmeilen gehörte ſolchen
Kleinſtaaten, deren keiner mehr als 130 Geviertmeilen umfaßte; der
Volkswitz verhöhnte die ſtrümpfeſtrickenden Kölniſchen Stadtſoldaten und
das grimmige Kriegsvolk des Biſchofs von Hildesheim, das auf ſeinen
Hüten die Inſchrift trug: Gieb Frieden, Herr, in unſern Tagen! Dies
reichſte Drittel Deutſchlands diente in den Kriegen des Reiches nur als
todte Laſt. Es bleibt ein glänzendes Zeugniß für die deutſche Tapfer-
keit, daß die Nation nach ſolcher Selbſtverſtümmelung von den Heeren
Frankreichs und Schwedens nicht gänzlich überwältigt wurde. Die Ge-
ſammtheit des Reichs galt kaum noch als eine Macht zweiten Ranges,
während ſeine mächtigeren Glieder längſt ſchon ſelbſtändig auf der freien
Bühne der europäiſchen Politik ſich bewegten.
Die Reichsverfaſſung erſcheint wie ein wohldurchdachtes Syſtem,
erſonnen um die gewaltigen Kräfte des waffenfroheſten der Völker künſtlich
niederzudrücken. In der That wurde der unnatürliche Zuſtand nur
durch die Wachſamkeit des geſammten Welttheils aufrecht erhalten. Das
heilige Reich blieb durch ſeine Schwäche, wie einſt durch ſeine Stärke,
der Mittelpunkt und die Grundlage des europäiſchen Staatenſyſtems.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/37>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.