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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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Universität Berlin.
seinem Rechte und seiner Eigenart zu würdigen. Selbst dem kirchlichen
Leben, das seiner ästhetischen Bildung am fernsten lag, brachte er ein so
unbefangenes humanes Wohlwollen entgegen, daß der streng gläubige
Nicolovius einträchtig mit diesem Heiden zusammenwirken konnte; der
Gottesdienst war ihm heilig, weil er alle Glieder der Gesellschaft nur als
Menschen vereinige. Mit Ehrfurcht trat er an die Fragen des Schul-
wesens heran; er verwarf die Errichtung von Realschulen, denn die ganze
Zukunft der Nation schien ihm gefährdet, wenn auch nur ein Theil der
gebildeten Jugend ohne die methodische Zucht der classischen Studien auf-
wüchse. Er kannte die Reizbarkeit der Gelehrten und versöhnte sie nicht
blos durch urbane Milde und geduldige Nachsicht, sondern vornehmlich
durch seinen hochherzigen Freisinn; denn er wußte, daß die harte Macht des
Staates auf dem Gebiete der eigentlichen Cultur nur fördern und leiten,
doch wenig schaffen kann, daß die schöpferische Kraft des freien Gedankens
hier schlechterdings Alles ist. Das ganze Geheimniß seiner organisatori-
schen Größe liegt in den einfachen Worten, die er über die Einrichtung
der Berliner Universität schrieb: "man beruft eben tüchtige Männer
und läßt das Ganze allmählich sich ancandiren." Er kannte nur ein
Vaterland, das Land der deutschen Bildung, und hielt es für eine Ehren-
pflicht seines neuen Amts, das Bewußtsein dieser unzerstörbaren geistigen
Einheit in der mißhandelten Nation zu beleben. Darum stellte er die
alte Freizügigkeit wieder her, die vor Zeiten der Stolz unserer Universi-
täten gewesen und erst im achtzehnten Jahrhundert durch die Scheelsucht
des Particularismus verkümmert war, und erlaubte der preußischen Jugend
den Besuch aller deutschen Hochschulen. Allein durch ihre Leistungen, im
freien Wetteifer, sollten Preußens hohe Schulen ihre Anziehungskraft er-
proben.

Während der ersten Jahre des neuen Jahrhunderts hatte die Uni-
versität Halle einen vielverheißenden Aufschwung genommen. Sie war
nochmals, wie einst unter Friedrich I., in den Vordergrund des wissen-
schaftlichen Lebens der Nation getreten; der Realismus der alten Göt-
tinger fand sich hier zusammen mit der idealistischen Bildung von Jena
und Königsberg. Dies junge Leben ward plötzlich zerstört, als der Tilsiter
Friede das Magdeburger Land dem Königreich Westphalen zutheilte. Gleich-
zeitig verlor Preußen das aufblühende Erlangen und dazu die drei so-
eben erst neugewonnenen stiftischen Universitäten Erfurt, Münster, Pa-
derborn sowie das verfallene Duisburg. Gleich nach dem Frieden baten
die Hallenser Professoren den König, ihre Universität nach Berlin zu
verlegen; er aber erwiderte, daß er eine neue Hochschule in der Haupt-
stadt stiften wolle, und fügte die schönen Worte hinzu: der Staat muß
durch geistige Kräfte ersetzen was er an physischen verloren hat. Jene
alten so oft erwogenen Berliner Pläne wurden also wieder aufgenommen,
doch erst Humboldt brachte frischen Willen und großen Sinn in die stocken-

Treitschke, Deutsche Geschichte. I. 22

Univerſität Berlin.
ſeinem Rechte und ſeiner Eigenart zu würdigen. Selbſt dem kirchlichen
Leben, das ſeiner äſthetiſchen Bildung am fernſten lag, brachte er ein ſo
unbefangenes humanes Wohlwollen entgegen, daß der ſtreng gläubige
Nicolovius einträchtig mit dieſem Heiden zuſammenwirken konnte; der
Gottesdienſt war ihm heilig, weil er alle Glieder der Geſellſchaft nur als
Menſchen vereinige. Mit Ehrfurcht trat er an die Fragen des Schul-
weſens heran; er verwarf die Errichtung von Realſchulen, denn die ganze
Zukunft der Nation ſchien ihm gefährdet, wenn auch nur ein Theil der
gebildeten Jugend ohne die methodiſche Zucht der claſſiſchen Studien auf-
wüchſe. Er kannte die Reizbarkeit der Gelehrten und verſöhnte ſie nicht
blos durch urbane Milde und geduldige Nachſicht, ſondern vornehmlich
durch ſeinen hochherzigen Freiſinn; denn er wußte, daß die harte Macht des
Staates auf dem Gebiete der eigentlichen Cultur nur fördern und leiten,
doch wenig ſchaffen kann, daß die ſchöpferiſche Kraft des freien Gedankens
hier ſchlechterdings Alles iſt. Das ganze Geheimniß ſeiner organiſatori-
ſchen Größe liegt in den einfachen Worten, die er über die Einrichtung
der Berliner Univerſität ſchrieb: „man beruft eben tüchtige Männer
und läßt das Ganze allmählich ſich ancandiren.“ Er kannte nur ein
Vaterland, das Land der deutſchen Bildung, und hielt es für eine Ehren-
pflicht ſeines neuen Amts, das Bewußtſein dieſer unzerſtörbaren geiſtigen
Einheit in der mißhandelten Nation zu beleben. Darum ſtellte er die
alte Freizügigkeit wieder her, die vor Zeiten der Stolz unſerer Univerſi-
täten geweſen und erſt im achtzehnten Jahrhundert durch die Scheelſucht
des Particularismus verkümmert war, und erlaubte der preußiſchen Jugend
den Beſuch aller deutſchen Hochſchulen. Allein durch ihre Leiſtungen, im
freien Wetteifer, ſollten Preußens hohe Schulen ihre Anziehungskraft er-
proben.

Während der erſten Jahre des neuen Jahrhunderts hatte die Uni-
verſität Halle einen vielverheißenden Aufſchwung genommen. Sie war
nochmals, wie einſt unter Friedrich I., in den Vordergrund des wiſſen-
ſchaftlichen Lebens der Nation getreten; der Realismus der alten Göt-
tinger fand ſich hier zuſammen mit der idealiſtiſchen Bildung von Jena
und Königsberg. Dies junge Leben ward plötzlich zerſtört, als der Tilſiter
Friede das Magdeburger Land dem Königreich Weſtphalen zutheilte. Gleich-
zeitig verlor Preußen das aufblühende Erlangen und dazu die drei ſo-
eben erſt neugewonnenen ſtiftiſchen Univerſitäten Erfurt, Münſter, Pa-
derborn ſowie das verfallene Duisburg. Gleich nach dem Frieden baten
die Hallenſer Profeſſoren den König, ihre Univerſität nach Berlin zu
verlegen; er aber erwiderte, daß er eine neue Hochſchule in der Haupt-
ſtadt ſtiften wolle, und fügte die ſchönen Worte hinzu: der Staat muß
durch geiſtige Kräfte erſetzen was er an phyſiſchen verloren hat. Jene
alten ſo oft erwogenen Berliner Pläne wurden alſo wieder aufgenommen,
doch erſt Humboldt brachte friſchen Willen und großen Sinn in die ſtocken-

Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 22
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[337/0353] Univerſität Berlin. ſeinem Rechte und ſeiner Eigenart zu würdigen. Selbſt dem kirchlichen Leben, das ſeiner äſthetiſchen Bildung am fernſten lag, brachte er ein ſo unbefangenes humanes Wohlwollen entgegen, daß der ſtreng gläubige Nicolovius einträchtig mit dieſem Heiden zuſammenwirken konnte; der Gottesdienſt war ihm heilig, weil er alle Glieder der Geſellſchaft nur als Menſchen vereinige. Mit Ehrfurcht trat er an die Fragen des Schul- weſens heran; er verwarf die Errichtung von Realſchulen, denn die ganze Zukunft der Nation ſchien ihm gefährdet, wenn auch nur ein Theil der gebildeten Jugend ohne die methodiſche Zucht der claſſiſchen Studien auf- wüchſe. Er kannte die Reizbarkeit der Gelehrten und verſöhnte ſie nicht blos durch urbane Milde und geduldige Nachſicht, ſondern vornehmlich durch ſeinen hochherzigen Freiſinn; denn er wußte, daß die harte Macht des Staates auf dem Gebiete der eigentlichen Cultur nur fördern und leiten, doch wenig ſchaffen kann, daß die ſchöpferiſche Kraft des freien Gedankens hier ſchlechterdings Alles iſt. Das ganze Geheimniß ſeiner organiſatori- ſchen Größe liegt in den einfachen Worten, die er über die Einrichtung der Berliner Univerſität ſchrieb: „man beruft eben tüchtige Männer und läßt das Ganze allmählich ſich ancandiren.“ Er kannte nur ein Vaterland, das Land der deutſchen Bildung, und hielt es für eine Ehren- pflicht ſeines neuen Amts, das Bewußtſein dieſer unzerſtörbaren geiſtigen Einheit in der mißhandelten Nation zu beleben. Darum ſtellte er die alte Freizügigkeit wieder her, die vor Zeiten der Stolz unſerer Univerſi- täten geweſen und erſt im achtzehnten Jahrhundert durch die Scheelſucht des Particularismus verkümmert war, und erlaubte der preußiſchen Jugend den Beſuch aller deutſchen Hochſchulen. Allein durch ihre Leiſtungen, im freien Wetteifer, ſollten Preußens hohe Schulen ihre Anziehungskraft er- proben. Während der erſten Jahre des neuen Jahrhunderts hatte die Uni- verſität Halle einen vielverheißenden Aufſchwung genommen. Sie war nochmals, wie einſt unter Friedrich I., in den Vordergrund des wiſſen- ſchaftlichen Lebens der Nation getreten; der Realismus der alten Göt- tinger fand ſich hier zuſammen mit der idealiſtiſchen Bildung von Jena und Königsberg. Dies junge Leben ward plötzlich zerſtört, als der Tilſiter Friede das Magdeburger Land dem Königreich Weſtphalen zutheilte. Gleich- zeitig verlor Preußen das aufblühende Erlangen und dazu die drei ſo- eben erſt neugewonnenen ſtiftiſchen Univerſitäten Erfurt, Münſter, Pa- derborn ſowie das verfallene Duisburg. Gleich nach dem Frieden baten die Hallenſer Profeſſoren den König, ihre Univerſität nach Berlin zu verlegen; er aber erwiderte, daß er eine neue Hochſchule in der Haupt- ſtadt ſtiften wolle, und fügte die ſchönen Worte hinzu: der Staat muß durch geiſtige Kräfte erſetzen was er an phyſiſchen verloren hat. Jene alten ſo oft erwogenen Berliner Pläne wurden alſo wieder aufgenommen, doch erſt Humboldt brachte friſchen Willen und großen Sinn in die ſtocken- Treitſchke, Deutſche Geſchichte. I. 22

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 337. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/353>, abgerufen am 22.11.2024.