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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 3. Preußens Erhebung.
genügte ihm nicht, er wollte versinnlichen, daß die Weltgeschichte das
Weltgericht ist. Hier aber war noch mehr; hier wurde, zum ersten male
seit Dante, der Versuch gewagt die ganze geistige Habe des Zeitalters
poetisch zu gestalten. Die Conception war dem Dichter, er selbst gestand
es, von vornherein klar; doch wie er nun die geliebten Gestalten viele
Jahre hindurch mit sich im Herzen trug, in allen guten Stunden immer
wieder zu ihnen heimkehrte, da wuchsen sie mit ihm und er mit ihnen.
Das alte Puppenspiel mit seiner Derbheit und seinem Tiefsinn, seinen
saftigen Späßen und seinen unheimlichen Schrecken erweiterte sich zu
einem großen Weltgemälde, das freilich die Formen der dramatischen
Kunst zersprengte, zu einem Bilde des prometheischen Dranges der Mensch-
heit. Der Dichter legte den ganzen philosophischen Inhalt seines Zeit-
alters darin nieder. Der moderne Poet konnte nicht wie jener Sohn des
dreizehnten Jahrhunderts von der Höhe einer zweifellos fertigen Welt-
anschauung herunter seinen Richterspruch fällen über die Welt. Er hatte
dessen kein Hehl, daß er ein Strebender sei, daß er mit diesem Gedichte
eigentlich nie zu Ende kommen könne, und eben darum wirkte seine
Dichtung so gewaltig auf die gährende Zeit, weil sie Jeden unwillkür-
lich zum Weiterdichten und Weitersinnen einlud. Der Grundgedanke der
Goethischen Weltanschauung stand gleichwohl fest: die Menschheit blieb
ihm die Mitte der Schöpfung, und nur um ihretwillen bestand die Welt.
Die Erlösung des Menschen durch die That, durch die liebende Hingabe
des Ich an das Ganze, der Triumph des Göttlichen über den Geist der
Verneinung, der stets das Böse will und stets das Gute schafft -- das
war der freudige Glaube dieses größten aller Optimisten, das war das
Thema der Dichtung seines Lebens.

Wenn je ein Gedicht erlebt war, so war es dieses. Alles kehrte
hier wieder was je die proteische Natur des Dichters ergriffen und be-
wegt: die lockere Munterkeit der Leipziger, das Liebesglück der Straß-
burger Tage, Merck und Herder, Spinoza und Winkelmann, die Erd-
freundschaft des Gelehrten und die Erfahrungen des Staatsmannes,
die Schönheitstrunkenheit der römischen Elegien und die reife Lebens-
weisheit des Greisenalters. Die Deutschen aber fesselte der Faust noch
durch einen anheimelnden Zauber, den bis zum heutigen Tage kein
Ausländer ganz verstanden hat. Das Gedicht erschien wie ein sym-
bolisches Bild der vaterländischen Geschichte. Wer sich darein vertiefte
übersah den ganzen weiten Weg, den die Germanen durchmessen hatten
seit den dunklen Tagen, da sie noch mit den Göttern des Waldes und
des Feldes in traulicher Gemeinschaft lebten, bis zu dem lebensfrohen
Volksgetümmel, das aus unseren alten Städten, "aus dem Druck von
Giebeln und Dächern, aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht" in's Freie
drängte. Hier war des deutschen Lebens Ueberschwang: der wilde Teufels-
spuk unseres Volksaberglaubens und die zarte Innigkeit deutscher Frauen-

I. 3. Preußens Erhebung.
genügte ihm nicht, er wollte verſinnlichen, daß die Weltgeſchichte das
Weltgericht iſt. Hier aber war noch mehr; hier wurde, zum erſten male
ſeit Dante, der Verſuch gewagt die ganze geiſtige Habe des Zeitalters
poetiſch zu geſtalten. Die Conception war dem Dichter, er ſelbſt geſtand
es, von vornherein klar; doch wie er nun die geliebten Geſtalten viele
Jahre hindurch mit ſich im Herzen trug, in allen guten Stunden immer
wieder zu ihnen heimkehrte, da wuchſen ſie mit ihm und er mit ihnen.
Das alte Puppenſpiel mit ſeiner Derbheit und ſeinem Tiefſinn, ſeinen
ſaftigen Späßen und ſeinen unheimlichen Schrecken erweiterte ſich zu
einem großen Weltgemälde, das freilich die Formen der dramatiſchen
Kunſt zerſprengte, zu einem Bilde des prometheiſchen Dranges der Menſch-
heit. Der Dichter legte den ganzen philoſophiſchen Inhalt ſeines Zeit-
alters darin nieder. Der moderne Poet konnte nicht wie jener Sohn des
dreizehnten Jahrhunderts von der Höhe einer zweifellos fertigen Welt-
anſchauung herunter ſeinen Richterſpruch fällen über die Welt. Er hatte
deſſen kein Hehl, daß er ein Strebender ſei, daß er mit dieſem Gedichte
eigentlich nie zu Ende kommen könne, und eben darum wirkte ſeine
Dichtung ſo gewaltig auf die gährende Zeit, weil ſie Jeden unwillkür-
lich zum Weiterdichten und Weiterſinnen einlud. Der Grundgedanke der
Goethiſchen Weltanſchauung ſtand gleichwohl feſt: die Menſchheit blieb
ihm die Mitte der Schöpfung, und nur um ihretwillen beſtand die Welt.
Die Erlöſung des Menſchen durch die That, durch die liebende Hingabe
des Ich an das Ganze, der Triumph des Göttlichen über den Geiſt der
Verneinung, der ſtets das Böſe will und ſtets das Gute ſchafft — das
war der freudige Glaube dieſes größten aller Optimiſten, das war das
Thema der Dichtung ſeines Lebens.

Wenn je ein Gedicht erlebt war, ſo war es dieſes. Alles kehrte
hier wieder was je die proteiſche Natur des Dichters ergriffen und be-
wegt: die lockere Munterkeit der Leipziger, das Liebesglück der Straß-
burger Tage, Merck und Herder, Spinoza und Winkelmann, die Erd-
freundſchaft des Gelehrten und die Erfahrungen des Staatsmannes,
die Schönheitstrunkenheit der römiſchen Elegien und die reife Lebens-
weisheit des Greiſenalters. Die Deutſchen aber feſſelte der Fauſt noch
durch einen anheimelnden Zauber, den bis zum heutigen Tage kein
Ausländer ganz verſtanden hat. Das Gedicht erſchien wie ein ſym-
boliſches Bild der vaterländiſchen Geſchichte. Wer ſich darein vertiefte
überſah den ganzen weiten Weg, den die Germanen durchmeſſen hatten
ſeit den dunklen Tagen, da ſie noch mit den Göttern des Waldes und
des Feldes in traulicher Gemeinſchaft lebten, bis zu dem lebensfrohen
Volksgetümmel, das aus unſeren alten Städten, „aus dem Druck von
Giebeln und Dächern, aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht“ in’s Freie
drängte. Hier war des deutſchen Lebens Ueberſchwang: der wilde Teufels-
ſpuk unſeres Volksaberglaubens und die zarte Innigkeit deutſcher Frauen-

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[318/0334] I. 3. Preußens Erhebung. genügte ihm nicht, er wollte verſinnlichen, daß die Weltgeſchichte das Weltgericht iſt. Hier aber war noch mehr; hier wurde, zum erſten male ſeit Dante, der Verſuch gewagt die ganze geiſtige Habe des Zeitalters poetiſch zu geſtalten. Die Conception war dem Dichter, er ſelbſt geſtand es, von vornherein klar; doch wie er nun die geliebten Geſtalten viele Jahre hindurch mit ſich im Herzen trug, in allen guten Stunden immer wieder zu ihnen heimkehrte, da wuchſen ſie mit ihm und er mit ihnen. Das alte Puppenſpiel mit ſeiner Derbheit und ſeinem Tiefſinn, ſeinen ſaftigen Späßen und ſeinen unheimlichen Schrecken erweiterte ſich zu einem großen Weltgemälde, das freilich die Formen der dramatiſchen Kunſt zerſprengte, zu einem Bilde des prometheiſchen Dranges der Menſch- heit. Der Dichter legte den ganzen philoſophiſchen Inhalt ſeines Zeit- alters darin nieder. Der moderne Poet konnte nicht wie jener Sohn des dreizehnten Jahrhunderts von der Höhe einer zweifellos fertigen Welt- anſchauung herunter ſeinen Richterſpruch fällen über die Welt. Er hatte deſſen kein Hehl, daß er ein Strebender ſei, daß er mit dieſem Gedichte eigentlich nie zu Ende kommen könne, und eben darum wirkte ſeine Dichtung ſo gewaltig auf die gährende Zeit, weil ſie Jeden unwillkür- lich zum Weiterdichten und Weiterſinnen einlud. Der Grundgedanke der Goethiſchen Weltanſchauung ſtand gleichwohl feſt: die Menſchheit blieb ihm die Mitte der Schöpfung, und nur um ihretwillen beſtand die Welt. Die Erlöſung des Menſchen durch die That, durch die liebende Hingabe des Ich an das Ganze, der Triumph des Göttlichen über den Geiſt der Verneinung, der ſtets das Böſe will und ſtets das Gute ſchafft — das war der freudige Glaube dieſes größten aller Optimiſten, das war das Thema der Dichtung ſeines Lebens. Wenn je ein Gedicht erlebt war, ſo war es dieſes. Alles kehrte hier wieder was je die proteiſche Natur des Dichters ergriffen und be- wegt: die lockere Munterkeit der Leipziger, das Liebesglück der Straß- burger Tage, Merck und Herder, Spinoza und Winkelmann, die Erd- freundſchaft des Gelehrten und die Erfahrungen des Staatsmannes, die Schönheitstrunkenheit der römiſchen Elegien und die reife Lebens- weisheit des Greiſenalters. Die Deutſchen aber feſſelte der Fauſt noch durch einen anheimelnden Zauber, den bis zum heutigen Tage kein Ausländer ganz verſtanden hat. Das Gedicht erſchien wie ein ſym- boliſches Bild der vaterländiſchen Geſchichte. Wer ſich darein vertiefte überſah den ganzen weiten Weg, den die Germanen durchmeſſen hatten ſeit den dunklen Tagen, da ſie noch mit den Göttern des Waldes und des Feldes in traulicher Gemeinſchaft lebten, bis zu dem lebensfrohen Volksgetümmel, das aus unſeren alten Städten, „aus dem Druck von Giebeln und Dächern, aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht“ in’s Freie drängte. Hier war des deutſchen Lebens Ueberſchwang: der wilde Teufels- ſpuk unſeres Volksaberglaubens und die zarte Innigkeit deutſcher Frauen-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/334>, abgerufen am 22.11.2024.