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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 3. Preußens Erhebung.
Preußen wenig mehr als vier Millionen Köpfe zählte und Niemand auch
nur nachgedacht hatte über die Frage, wie man den österreichischen Völker-
mang mit dem reinen Deutschland unter einen Hut bringen könne! Wie
schwer mußten diese stolzen Träume dereinst zusammenstoßen mit der
harten Wirklichkeit der particularistischen Staatsgewalten! Gelang selbst
die Befreiung von der Herrschaft des Auslandes, eine grausame Ent-
täuschung, eine lange Zeit erbitterter bürgerlicher Kämpfe stand diesem
hoffenden Geschlechte unausbleiblich bevor.

Nicht allein die Publicistik, sondern die gesammte Literatur wurde
jetzt von der nationalen Leidenschaft ergriffen. Dem jungen Nachwuchs
der Romantiker stellte Achim v. Arnim die Aufgabe: die frische Morgenluft
altdeutschen Wandels zu athmen, sich andächtig zu vertiefen in die Herr-
lichkeit der alten heimischen Sage und Geschichte, damit wir erkennen wie
wir geworden und mit neuem Selbstvertrauen in der Gegenwart kämpfen.
Im Bewußtsein eines hohen patriotischen Berufes und mit dem ganzen
überspannten Selbstgefühle, das der Literatur unseres neunzehnten Jahr-
hunderts eigenthümlich blieb, schritten die jungen Dichter und Gelehrten
an's Werk. Sie haben immer, ganz wie späterhin die Redner des Liberalis-
mus und die Schriftsteller des jungen Deutschlands, der festen Ueber-
zeugung gelebt, die neue Ordnung der deutschen Dinge sei eigentlich von
ihnen geschaffen, die Staatsmänner und Soldaten hätten nur ausgeführt
was sie selber so viel schöner und größer erdacht. Noch einmal kam der
deutschen Literatur eine Zeit der Jugend. Wie vormals das Geschlecht
von 1750 die Welt des Herzens entdeckt und mit naiver Verwunde-
rung in ihren Schätzen gewühlt hatte, so begrüßte die neue Romantik mit
trunkenem Entzücken jeden glücklichen Fund, der eine Kunde brachte von
der alten Größe des Vaterlandes. Sie bestaunte das deutsche Alterthum
mit großen verwunderten Kinderaugen; durch Alles was sie dachte und
träumte geht ein Zug historischer Pietät, ein bewußter Gegensatz zu der
Verstandesbildung und der Pflege der exacten Wissenschaften im napo-
leonischen Reiche. Aus der Gährung dieser romantischen Tage stieg die
große Zeit der historisch-philologischen Wissenschaften hervor, welche nun-
mehr, die Dichtung überflügelnd, auf lange hinaus in den Vordergrund
unseres geistigen Lebens traten.

Einige Jahre lang war Heidelberg der bevorzugte Sammelplatz der
jungen literarischen Welt. Wie schmerzlich hatte der ehrwürdige Karl
Friedrich von Baden, alle diese bösen Jahre über, die schmähliche Lage
der deutschen Kleinfürsten empfunden; nun konnte er doch auf seine alten
Tage noch einmal durch eine gute That dem Vaterlande seine Liebe be-
währen. Er stellte die unter bairischer Herrschaft ganz verfallene Heidel-
berger Hochschule wieder her, von vornherein mit der Absicht, daß sie
mehr sein solle als eine Landesuniversität, eröffnete am Neckar der jungen
Literatur eine Freistatt -- die einzige fast in dem verödeten rheinbündischen

I. 3. Preußens Erhebung.
Preußen wenig mehr als vier Millionen Köpfe zählte und Niemand auch
nur nachgedacht hatte über die Frage, wie man den öſterreichiſchen Völker-
mang mit dem reinen Deutſchland unter einen Hut bringen könne! Wie
ſchwer mußten dieſe ſtolzen Träume dereinſt zuſammenſtoßen mit der
harten Wirklichkeit der particulariſtiſchen Staatsgewalten! Gelang ſelbſt
die Befreiung von der Herrſchaft des Auslandes, eine grauſame Ent-
täuſchung, eine lange Zeit erbitterter bürgerlicher Kämpfe ſtand dieſem
hoffenden Geſchlechte unausbleiblich bevor.

Nicht allein die Publiciſtik, ſondern die geſammte Literatur wurde
jetzt von der nationalen Leidenſchaft ergriffen. Dem jungen Nachwuchs
der Romantiker ſtellte Achim v. Arnim die Aufgabe: die friſche Morgenluft
altdeutſchen Wandels zu athmen, ſich andächtig zu vertiefen in die Herr-
lichkeit der alten heimiſchen Sage und Geſchichte, damit wir erkennen wie
wir geworden und mit neuem Selbſtvertrauen in der Gegenwart kämpfen.
Im Bewußtſein eines hohen patriotiſchen Berufes und mit dem ganzen
überſpannten Selbſtgefühle, das der Literatur unſeres neunzehnten Jahr-
hunderts eigenthümlich blieb, ſchritten die jungen Dichter und Gelehrten
an’s Werk. Sie haben immer, ganz wie ſpäterhin die Redner des Liberalis-
mus und die Schriftſteller des jungen Deutſchlands, der feſten Ueber-
zeugung gelebt, die neue Ordnung der deutſchen Dinge ſei eigentlich von
ihnen geſchaffen, die Staatsmänner und Soldaten hätten nur ausgeführt
was ſie ſelber ſo viel ſchöner und größer erdacht. Noch einmal kam der
deutſchen Literatur eine Zeit der Jugend. Wie vormals das Geſchlecht
von 1750 die Welt des Herzens entdeckt und mit naiver Verwunde-
rung in ihren Schätzen gewühlt hatte, ſo begrüßte die neue Romantik mit
trunkenem Entzücken jeden glücklichen Fund, der eine Kunde brachte von
der alten Größe des Vaterlandes. Sie beſtaunte das deutſche Alterthum
mit großen verwunderten Kinderaugen; durch Alles was ſie dachte und
träumte geht ein Zug hiſtoriſcher Pietät, ein bewußter Gegenſatz zu der
Verſtandesbildung und der Pflege der exacten Wiſſenſchaften im napo-
leoniſchen Reiche. Aus der Gährung dieſer romantiſchen Tage ſtieg die
große Zeit der hiſtoriſch-philologiſchen Wiſſenſchaften hervor, welche nun-
mehr, die Dichtung überflügelnd, auf lange hinaus in den Vordergrund
unſeres geiſtigen Lebens traten.

Einige Jahre lang war Heidelberg der bevorzugte Sammelplatz der
jungen literariſchen Welt. Wie ſchmerzlich hatte der ehrwürdige Karl
Friedrich von Baden, alle dieſe böſen Jahre über, die ſchmähliche Lage
der deutſchen Kleinfürſten empfunden; nun konnte er doch auf ſeine alten
Tage noch einmal durch eine gute That dem Vaterlande ſeine Liebe be-
währen. Er ſtellte die unter bairiſcher Herrſchaft ganz verfallene Heidel-
berger Hochſchule wieder her, von vornherein mit der Abſicht, daß ſie
mehr ſein ſolle als eine Landesuniverſität, eröffnete am Neckar der jungen
Literatur eine Freiſtatt — die einzige faſt in dem verödeten rheinbündiſchen

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[308/0324] I. 3. Preußens Erhebung. Preußen wenig mehr als vier Millionen Köpfe zählte und Niemand auch nur nachgedacht hatte über die Frage, wie man den öſterreichiſchen Völker- mang mit dem reinen Deutſchland unter einen Hut bringen könne! Wie ſchwer mußten dieſe ſtolzen Träume dereinſt zuſammenſtoßen mit der harten Wirklichkeit der particulariſtiſchen Staatsgewalten! Gelang ſelbſt die Befreiung von der Herrſchaft des Auslandes, eine grauſame Ent- täuſchung, eine lange Zeit erbitterter bürgerlicher Kämpfe ſtand dieſem hoffenden Geſchlechte unausbleiblich bevor. Nicht allein die Publiciſtik, ſondern die geſammte Literatur wurde jetzt von der nationalen Leidenſchaft ergriffen. Dem jungen Nachwuchs der Romantiker ſtellte Achim v. Arnim die Aufgabe: die friſche Morgenluft altdeutſchen Wandels zu athmen, ſich andächtig zu vertiefen in die Herr- lichkeit der alten heimiſchen Sage und Geſchichte, damit wir erkennen wie wir geworden und mit neuem Selbſtvertrauen in der Gegenwart kämpfen. Im Bewußtſein eines hohen patriotiſchen Berufes und mit dem ganzen überſpannten Selbſtgefühle, das der Literatur unſeres neunzehnten Jahr- hunderts eigenthümlich blieb, ſchritten die jungen Dichter und Gelehrten an’s Werk. Sie haben immer, ganz wie ſpäterhin die Redner des Liberalis- mus und die Schriftſteller des jungen Deutſchlands, der feſten Ueber- zeugung gelebt, die neue Ordnung der deutſchen Dinge ſei eigentlich von ihnen geſchaffen, die Staatsmänner und Soldaten hätten nur ausgeführt was ſie ſelber ſo viel ſchöner und größer erdacht. Noch einmal kam der deutſchen Literatur eine Zeit der Jugend. Wie vormals das Geſchlecht von 1750 die Welt des Herzens entdeckt und mit naiver Verwunde- rung in ihren Schätzen gewühlt hatte, ſo begrüßte die neue Romantik mit trunkenem Entzücken jeden glücklichen Fund, der eine Kunde brachte von der alten Größe des Vaterlandes. Sie beſtaunte das deutſche Alterthum mit großen verwunderten Kinderaugen; durch Alles was ſie dachte und träumte geht ein Zug hiſtoriſcher Pietät, ein bewußter Gegenſatz zu der Verſtandesbildung und der Pflege der exacten Wiſſenſchaften im napo- leoniſchen Reiche. Aus der Gährung dieſer romantiſchen Tage ſtieg die große Zeit der hiſtoriſch-philologiſchen Wiſſenſchaften hervor, welche nun- mehr, die Dichtung überflügelnd, auf lange hinaus in den Vordergrund unſeres geiſtigen Lebens traten. Einige Jahre lang war Heidelberg der bevorzugte Sammelplatz der jungen literariſchen Welt. Wie ſchmerzlich hatte der ehrwürdige Karl Friedrich von Baden, alle dieſe böſen Jahre über, die ſchmähliche Lage der deutſchen Kleinfürſten empfunden; nun konnte er doch auf ſeine alten Tage noch einmal durch eine gute That dem Vaterlande ſeine Liebe be- währen. Er ſtellte die unter bairiſcher Herrſchaft ganz verfallene Heidel- berger Hochſchule wieder her, von vornherein mit der Abſicht, daß ſie mehr ſein ſolle als eine Landesuniverſität, eröffnete am Neckar der jungen Literatur eine Freiſtatt — die einzige faſt in dem verödeten rheinbündiſchen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/324>, abgerufen am 25.11.2024.