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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879.

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I. 3. Preußens Erhebung.
die fremden Tyrannen gestürzt, ihre freiwilligen Sklaven gezüchtigt und
die widerwilligen befreit, so sollte ein neues mächtiges Deutschland, glänzend
im Schmucke heller Gedanken und ruhmreicher Waffen, sich politisch gestalten
-- gleichviel in welchen Formen, aber einig und aus dem ureigenen Geiste
der Nation heraus -- und dann mußten die Deutschen, ließ man sie nur
frei gewähren, auch in Kunst und Wissenschaft die reichsten Kränze, die
je ein hellenisches Haupt geschmückt, sich auf die Siegerstirne drücken.
Von dem einen Gewaltigen, der unserer Nation schon einmal den Weg
zur politischen Macht gewiesen, sprach man ungern. Was dies neue Ge-
schlecht brauchte war scheinbar das Gegentheil der fridericianischen Gedanken;
Friedrichs Werk schien vernichtet, und Viele der jungen Schwärmer wollten
ihm nie verzeihen, daß er das Schwert gegen die gesalbte kaiserliche Maje-
stät erhoben hatte. Großherziges Vergessen der alten Bruderkämpfe, treue
Eintracht aller deutschen Stämme, das war es was man forderte für den
gemeinsamen Kampf; nicht von einem gegebenen politischen Mittelpunkte
aus, sondern durch die Erhebung der gesammten Nation sollte das Welt-
reich zerschmettert werden, und alles Weitere fand sich dann von selbst.

Es wurde verhängnißvoll für unser politisches Leben und hängt uns
nach bis zum heutigen Tage, daß der Gedanke der nationalen Einheit bei
uns nicht wie in Frankreich langsam die Jahrhunderte hindurch heranreifte,
die natürliche Frucht einer stetigen, immer auf dasselbe Ziel gerichteten
monarchischen Politik, sondern so urplötzlich nach langem Schlummer wie-
der erwachte, unter zornigen Thränen, unter Träumen von Zeiten die
gewesen. Daher jener rührende Zug idealistischer Schwärmerei, treuher-
ziger Begeisterung, der die deutschen Patrioten der folgenden Generationen
so liebenswürdig erscheinen läßt. Daher ihre krankhafte Verbitterung:
denn auch nachdem der rauhe Franzosenhaß jener gequälten Zeit ver-
raucht war, blieb ein tiefer Groll gegen das Ausland in den Herzen der
begeisterten Teutonen zurück; man konnte nicht träumen von Deutschlands
künftiger Größe, ohne die fremden Völker zu schelten, die sich so oft und
so schwer an der Mitte Europas versündigt hatten. Daher auch die wunder-
bar verschwommene Unklarheit der politischen Hoffnungen der Deutschen.
Ein durch unbestimmte historische Bilder erhitzter Enthusiasmus berauschte
sich für die Idee eines großen Vaterlandes in den Wolken, das irgend-
wie die Herrlichkeit der Ottonen und der Staufer erneuern sollte, begrüßte
Jeden, der in die gleichen Klagen, in die gleiche Sehnsucht mit einstimmte,
Männer der verschiedensten politischen Richtungen, willig als Parteigenossen
und bemerkte kaum die lebendigen Kräfte der wirklichen deutschen Einheit,
die in dem preußischen Staate sich regten. Daher endlich die haltlose
Schwäche des deutschen Nationalgefühls, das bis zur Stunde noch nicht
die untrügliche Sicherheit eines naiven volksthümlichen Instinktes erlangt
hat. Der Traum der deutschen Einheit drang sehr langsam aus den ge-
bildeten Ständen in die Massen des Volkes hinab, und auch dann noch

I. 3. Preußens Erhebung.
die fremden Tyrannen geſtürzt, ihre freiwilligen Sklaven gezüchtigt und
die widerwilligen befreit, ſo ſollte ein neues mächtiges Deutſchland, glänzend
im Schmucke heller Gedanken und ruhmreicher Waffen, ſich politiſch geſtalten
— gleichviel in welchen Formen, aber einig und aus dem ureigenen Geiſte
der Nation heraus — und dann mußten die Deutſchen, ließ man ſie nur
frei gewähren, auch in Kunſt und Wiſſenſchaft die reichſten Kränze, die
je ein helleniſches Haupt geſchmückt, ſich auf die Siegerſtirne drücken.
Von dem einen Gewaltigen, der unſerer Nation ſchon einmal den Weg
zur politiſchen Macht gewieſen, ſprach man ungern. Was dies neue Ge-
ſchlecht brauchte war ſcheinbar das Gegentheil der fridericianiſchen Gedanken;
Friedrichs Werk ſchien vernichtet, und Viele der jungen Schwärmer wollten
ihm nie verzeihen, daß er das Schwert gegen die geſalbte kaiſerliche Maje-
ſtät erhoben hatte. Großherziges Vergeſſen der alten Bruderkämpfe, treue
Eintracht aller deutſchen Stämme, das war es was man forderte für den
gemeinſamen Kampf; nicht von einem gegebenen politiſchen Mittelpunkte
aus, ſondern durch die Erhebung der geſammten Nation ſollte das Welt-
reich zerſchmettert werden, und alles Weitere fand ſich dann von ſelbſt.

Es wurde verhängnißvoll für unſer politiſches Leben und hängt uns
nach bis zum heutigen Tage, daß der Gedanke der nationalen Einheit bei
uns nicht wie in Frankreich langſam die Jahrhunderte hindurch heranreifte,
die natürliche Frucht einer ſtetigen, immer auf daſſelbe Ziel gerichteten
monarchiſchen Politik, ſondern ſo urplötzlich nach langem Schlummer wie-
der erwachte, unter zornigen Thränen, unter Träumen von Zeiten die
geweſen. Daher jener rührende Zug idealiſtiſcher Schwärmerei, treuher-
ziger Begeiſterung, der die deutſchen Patrioten der folgenden Generationen
ſo liebenswürdig erſcheinen läßt. Daher ihre krankhafte Verbitterung:
denn auch nachdem der rauhe Franzoſenhaß jener gequälten Zeit ver-
raucht war, blieb ein tiefer Groll gegen das Ausland in den Herzen der
begeiſterten Teutonen zurück; man konnte nicht träumen von Deutſchlands
künftiger Größe, ohne die fremden Völker zu ſchelten, die ſich ſo oft und
ſo ſchwer an der Mitte Europas verſündigt hatten. Daher auch die wunder-
bar verſchwommene Unklarheit der politiſchen Hoffnungen der Deutſchen.
Ein durch unbeſtimmte hiſtoriſche Bilder erhitzter Enthuſiasmus berauſchte
ſich für die Idee eines großen Vaterlandes in den Wolken, das irgend-
wie die Herrlichkeit der Ottonen und der Staufer erneuern ſollte, begrüßte
Jeden, der in die gleichen Klagen, in die gleiche Sehnſucht mit einſtimmte,
Männer der verſchiedenſten politiſchen Richtungen, willig als Parteigenoſſen
und bemerkte kaum die lebendigen Kräfte der wirklichen deutſchen Einheit,
die in dem preußiſchen Staate ſich regten. Daher endlich die haltloſe
Schwäche des deutſchen Nationalgefühls, das bis zur Stunde noch nicht
die untrügliche Sicherheit eines naiven volksthümlichen Inſtinktes erlangt
hat. Der Traum der deutſchen Einheit drang ſehr langſam aus den ge-
bildeten Ständen in die Maſſen des Volkes hinab, und auch dann noch

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[300/0316] I. 3. Preußens Erhebung. die fremden Tyrannen geſtürzt, ihre freiwilligen Sklaven gezüchtigt und die widerwilligen befreit, ſo ſollte ein neues mächtiges Deutſchland, glänzend im Schmucke heller Gedanken und ruhmreicher Waffen, ſich politiſch geſtalten — gleichviel in welchen Formen, aber einig und aus dem ureigenen Geiſte der Nation heraus — und dann mußten die Deutſchen, ließ man ſie nur frei gewähren, auch in Kunſt und Wiſſenſchaft die reichſten Kränze, die je ein helleniſches Haupt geſchmückt, ſich auf die Siegerſtirne drücken. Von dem einen Gewaltigen, der unſerer Nation ſchon einmal den Weg zur politiſchen Macht gewieſen, ſprach man ungern. Was dies neue Ge- ſchlecht brauchte war ſcheinbar das Gegentheil der fridericianiſchen Gedanken; Friedrichs Werk ſchien vernichtet, und Viele der jungen Schwärmer wollten ihm nie verzeihen, daß er das Schwert gegen die geſalbte kaiſerliche Maje- ſtät erhoben hatte. Großherziges Vergeſſen der alten Bruderkämpfe, treue Eintracht aller deutſchen Stämme, das war es was man forderte für den gemeinſamen Kampf; nicht von einem gegebenen politiſchen Mittelpunkte aus, ſondern durch die Erhebung der geſammten Nation ſollte das Welt- reich zerſchmettert werden, und alles Weitere fand ſich dann von ſelbſt. Es wurde verhängnißvoll für unſer politiſches Leben und hängt uns nach bis zum heutigen Tage, daß der Gedanke der nationalen Einheit bei uns nicht wie in Frankreich langſam die Jahrhunderte hindurch heranreifte, die natürliche Frucht einer ſtetigen, immer auf daſſelbe Ziel gerichteten monarchiſchen Politik, ſondern ſo urplötzlich nach langem Schlummer wie- der erwachte, unter zornigen Thränen, unter Träumen von Zeiten die geweſen. Daher jener rührende Zug idealiſtiſcher Schwärmerei, treuher- ziger Begeiſterung, der die deutſchen Patrioten der folgenden Generationen ſo liebenswürdig erſcheinen läßt. Daher ihre krankhafte Verbitterung: denn auch nachdem der rauhe Franzoſenhaß jener gequälten Zeit ver- raucht war, blieb ein tiefer Groll gegen das Ausland in den Herzen der begeiſterten Teutonen zurück; man konnte nicht träumen von Deutſchlands künftiger Größe, ohne die fremden Völker zu ſchelten, die ſich ſo oft und ſo ſchwer an der Mitte Europas verſündigt hatten. Daher auch die wunder- bar verſchwommene Unklarheit der politiſchen Hoffnungen der Deutſchen. Ein durch unbeſtimmte hiſtoriſche Bilder erhitzter Enthuſiasmus berauſchte ſich für die Idee eines großen Vaterlandes in den Wolken, das irgend- wie die Herrlichkeit der Ottonen und der Staufer erneuern ſollte, begrüßte Jeden, der in die gleichen Klagen, in die gleiche Sehnſucht mit einſtimmte, Männer der verſchiedenſten politiſchen Richtungen, willig als Parteigenoſſen und bemerkte kaum die lebendigen Kräfte der wirklichen deutſchen Einheit, die in dem preußiſchen Staate ſich regten. Daher endlich die haltloſe Schwäche des deutſchen Nationalgefühls, das bis zur Stunde noch nicht die untrügliche Sicherheit eines naiven volksthümlichen Inſtinktes erlangt hat. Der Traum der deutſchen Einheit drang ſehr langſam aus den ge- bildeten Ständen in die Maſſen des Volkes hinab, und auch dann noch

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 1: Bis zum zweiten Pariser Frieden. Leipzig, 1879, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte01_1879/316>, abgerufen am 22.11.2024.